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Harte Schatten: Roman
Harte Schatten: Roman
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eBook676 Seiten10 Stunden

Harte Schatten: Roman

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Über dieses E-Book

Deutschland ist in die Hände der Nationalsozialisten gefallen. Während sich innerhalb der deutschen Abwehr unter Admirals Canaris der militärische Widerstand formiert und die Abwehr sogar ein Attentat auf Heinrich Himmler plant, verüben SS-Offiziere des Sicherheitsdienstes in Russland unvorstellbare Verbrechen. Heinz Kessler, einer der fähigsten Abwehr-Offiziere wird unter strengster Geheimhaltung auf einen der schlimmsten SS-Offiziere angesetzt, um ihn auszuschalten. Nach einem gescheiterten Attentat auf Hitler, wird Canaris verhaftet und die Abwehr der SS einverleibt. Kessler, der zur SS übertreten musste, plant nun die Befreiung und Flucht seines ehemaligen Chefs aus dem Konzentrationslager, doch ihm rennt langsam die Zeit davon.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum20. Mai 2019
ISBN9783748272854
Harte Schatten: Roman

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    Buchvorschau

    Harte Schatten - Binga Hydman

    Zwei Söhne

    Der Regen hatte so plötzlich aufgehört, wie er begonnen hatte. Auf dem kleinen und dunklen Hinterhof der alten Mietskaserne hatten sich zwei gewaltige Wasserpfützen gebildet. Ferdinand Kessler schob sein altes Fahrrad durch die größere der beiden Pfützen, bis er die steilen Kellertreppen erreichte. Das schwere Fahrrad die Stufen herunterzutragen, war für den 35-jährigen ehemaligen Hufschmied jedes Mal eine Qual. Seit einem Schuss in die Brust hatte der große schlanke Mann mit körperlichen Anstrengungen so seine Probleme. „Verdammter Krieg! murmelte er vor sich hin. Es war im Jahre 1916 gewesen, als ihn vor Verdun eine Kugel erwischt hatte und dabei seinen rechten Lungenflügel zerfetzte. Mit rasselndem Atem wuchtete er das unhandliche Fahrrad die schmale Kellerstiege herunter. Ferdinand hatte nach seiner Verwundung den Soldatenrock ausziehen müssen und galt seitdem als Kriegsversehrter. Der deutsche Staat zahlte ihm seit dem verlorenen Krieg eine kleine monatliche Rente, mit der er sich und seine junge Frau über Wasser zu halten versuchte. Das Geld reichte jedoch weder hinten und noch vorne aus, so dass sich Ferdinand seit ein paar Wochen als Friedhofshelfer etwas dazu verdiente. In guten Monaten blieben jetzt sogar ein paar Groschen über, die er dann auf sein Sparbuch bei der Lübecker Sparkasse in der Königstraße einzahlte. „Gestorben wird schließlich immer! witzelte er manchmal grinsend in die Runde. Mittlerweile hatte er durch die Arbeit auf dem Burgtorfriedhof immerhin die stolze Summe von 93,18 Mark ansparen können. Ferdinand Kessler war ein bescheidener und ausgesprochen warmherziger Mann. Im Krieg hatte er es zum Gefreiten gebracht und für besondere Tapferkeit im Felde sogar das Eiserne Kreuz 2. Klasse erhalten. Er war als Meldegänger eingesetzt worden und hatte dadurch nie mit in der vordersten Linie kämpfen müssen. Ein glücklicher Umstand, um den ihn so mancher seiner Kameraden beneidet hatte. An einem warmen Sommerabend im Jahre 1916 vhatten er und seine Kameraden um ein Feuer herumgesessen. Der Mann, der Ferdinand gegenübersaß, war gerade damit beschäftigt gewesen, sein Gewehr zu reinigen, als sich ein Schuss löste. Die Kugel traf Ferdinand mitten in die Brust, und so endete der Krieg für den Lübecker Hufschmied am 16. Juli 1916 etwa 10 km hinter der deutsch-französischen Frontlinie. Ferdinand wurde nach diesem ungewollten Volltreffer in ein Lazarett in die Nähe von Osnabrück verlegt und war nach seiner Genesung nicht mehr kriegstauglich. Ein Umstand der einen ganz entscheidenden Einfluss auf sein weiteres Leben haben sollte. Der Ex-Gefreite Ferdinand Kessler kehrte also 1917 mit nur noch einem funktionierenden Lungenflügel und dem Rest eines Projektils im linken Schulterblatt, in seine Heimatstadt an der Trave zurück. Bereits im Herbst des gleichen Jahres lernte er in der Straßenbahn Luise Ilse Löffler kennen. Ferdinand hatte seinen Onkel Hermann in Eckhorst besucht, um von ihm ein paar frische Feldkartoffeln zu ergattern. Mit einem Sack voller Erdäpfel bestieg er die Straßenbahn in Richtung Hauptbahnhof, als eine Naht des Kartoffelsackes, riss und sich der kostbare Inhalt auf die Straße ergoss. Die junge Frau, die neben ihm in der Straßenbahn gestanden hatte, eilte herbei um ihm dabei zu helfen, die herum rollenden Kartoffeln wieder einzusammeln. „Moment mal, ich habe da eine Idee sagte sie fröhlich und kramte in ihrer Handtasche herum, bis schließlich drei große stabile Sicherheitsnadeln zum Vorschein kamen. Nur eine Sekunde später hatte sie die gerissene Naht behelfsmäßig zusammengesteckt. Als die letzte Kartoffel eingesammelt war, betrachtete Ferdinand die Frau ein wenig genauer. Sie war schlicht aber sauber gekleidet, war nicht besonders groß aber auch nicht zu klein. Ihre Augen funkelten vergnügt und drückten pure Lebensfreude aus. Ihr feuerrotes Haar hatte sie sich zu einem Zopf zusammengebunden. Ferdinand lächelte etwas verlegen. „Ähm, darf ich Sie zum Dank wiedersehen, also ich meine natürlich…darf ich sie zum Dank vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen? Ferdinand errötete und blickte etwas verlegen auf seine Schuhspitzen. „Aber natürlich dürfen Sie mich wiedersehen äffte sie Ferdinand nun kichernd nach. Sie tauschten ihre Adressen aus und bereits am darauffolgenden Nachmittag trafen sich die beiden im Gasthof „Zum holsteinischen Hause in der Marlisgrube wieder. Ferdinand und Luise heirateten schon ein halbes Jahr später. Nachdem sie im Juni 1918 ihre erste gemeinsame Wohnung in der Alfstrasse bezogen hatten, ließ auch der Familiennachwuchs nicht mehr lange auf sich warten. Am 25. November 1918 erblickte der gemeinsame Sohn das Licht der Welt. Der Junge war kerngesund und mit einem Gewicht von 4050 Gramm „ein besonders stattliches Exemplar gesunden deutschen Nachwuchses wie sein Vater Ferdinand es immer und immer wieder mit stolzer Vaterbrust und bei jeder sich bietenden Gelegenheit zum Besten gab. Sie nannten den Jungen Heinz, nach dem Großvater Luises. Heinz besuchte zunächst die bereits 1816 gegründete Marienschule am Langen Lohberg in Lübeck. Der äußerst sportliche blonde Junge war bei seinen Mitschülern und Lehrern sehr beliebt. Das Lernen fiel ihm nicht besonders schwer, und seine Noten konnten sich durchaus sehen lassen. Die stolzen Eltern förderten den Knaben, wo immer sie es konnten. Luise und Ferdinand, die selbst nur die einfache Volksschule besucht hatten, waren überglücklich, als der Rektor der Marienschule ihnen 1928 empfahl, den Jungen auf eines der Lübecker Gymnasien zu schicken, um dort das Abitur zu erlangen. „Der erste Kessler, der studieren wird! ließ eine stets sichtbar stolze Luise ihre Umwelt wissen. Im August des Jahres 1928 wechselte Heinz auf das Katharineum in der Königstraße. Der Junge gehörte auch hier von Beginn an zu den fleißigsten und besten Schülern. Im Bereich der Naturwissenschaften und der Sprachen lagen seine größten Stärken. Besonders sein Englischlehrer Hermann Stern erkannte frühzeitig das sprachliche Talent des Jungen und förderte es nach Kräften. Als die Nationalsozialisten 1933 in Lübeck die Macht übernahmen, wurden auch die Bildungseinrichtungen der Stadt innerhalb kürzester Zeit gleichgeschaltet. Heinz, in diesem Jahr in die Untersekunda versetzt, spürte instinktiv, dass sich das Leben in Deutschland nun ändern würde. „In drei Jahren habe ich es geschafft! rief er seinem Vater nach dem Ende der Sommerferien lachend zu. „Ich bin sehr stolz auf dich mein Sohn erwiderte Ferdinand Kessler und fuhr dem halbwüchsigen Jungen zärtlich durch das blonde Haar. Das neue Schuljahr begann mit einer Überraschung. Als die Schüler ihren Klassenraum im zweiten Stock betraten, wurden sie dort bereits erwartet. Neben dem Rektor stand ein ihnen unbekannter Mann, der die Schüler aufmerksam zu mustern schien. Er trug eine Brille, die auf einer viel zu großen Nase ruhte und die fast das ganze Gesicht bedeckte. Herr Moor, der Schulleiter lächelte unbeholfen und machte den Eindruck, als wäre ihm die ganze Situation nicht besonders angenehm. Die Schüler setzten sich auf ihre Plätze und blickten neugierig auf die beiden Männer, die sich jetzt neben das Pult an der Stirnseite des Raumes platziert hatten. „Was ist das denn für ein komischer Typ? dachte Heinz, während er die Bücher aus seinem Tornister herausfischte und sie dann vor sich auf den Tisch legte. „Kennst Du den Kerl? flüsterte er seinem Tischnachbarn Julius leise zu. „Nein antwortete der und schüttelte unmerklich den Kopf. Die beiden Jungen hatten sich in der Vergangenheit so manchen Streich ausgedacht. Vor ein paar Monaten hatten sie im Biologieunterricht eine Ratte obduzieren müssen. Der Biologielehrer Herr Schulz brachte dafür ein paar tote Nager mit und legte sie kurz vor Beginn des Unterrichts auf das Pult. Heinz und Julius nutzen einen unbeachteten Moment und schlich sich leise in die Klasse zurück. Dann drückten sie einer der Ratten das Maul auf und schoben ihr, unter Zuhilfenahme eines Bleistiftes, eine Haken-Kreuz-Anstecknadel in den weit geöffneten Schlund. Schnell legten sie die Ratte an ihren Platz zurück und gesellten sich wieder zu den anderen Schülern auf dem Pausenhof. Als die Biologiestunde begann, forderte Herr Schulz die Schüler auf, sich immer zu zweit eine der Ratten mit an ihren Platz zu nehmen. Heinz und Julius beobachteten die anderen Schüler und sahen, wie ihre präparierte Ratte auf einem der anderen Tische zum Liegen kam. Ausgerechnet die beiden HJ-Pimpfe Paul Förster und Heinrich Wilke hatten die Hakenkreuz-Ratte erwischt. Die beiden Jungen gehörten bereits seit 1931 zu den Jungen, die in HJ-Uniform zum Unterricht marschierten. Die Väter der beiden Jungen waren überzeugte Nationalsozialisten und hatten sich bereits in unzähligen Saalschlachten als Mitglieder der SA-Schlägertruppen einen Namen gemacht. Als Herr Schulz nun die Schüler dazu aufforderte, die Ratten an der Unterseite mit einem Skalpell der Längsrichtung nach aufzuschneiden, dauerte es nur einige Sekunden bis der schrille Schrei Paul Försters alle anderen Gespräche im Raum sofort zum Verstummen brachte. Der herbei geeilte Herr Schulz stand wie vom Donner gerührt vor dem Tisch der beiden HJ-Jungen und starrte mit offenem Mund auf die vor ihm liegende Ratte. Heinrich Wilke war bleich geworden „Was…aber wie kommt denn das Abzeichen in die Ratte? Paul, der vor Schreck einen Schritt zurückgewichen war, krächzte leise: „Das gibts doch nicht! Nun hatten sich auch alle anderen Schüler um den Tisch herum platziert und gemeinsam begutachteten sie die Ratte, aus deren Gedärm ein kleines Hakenkreuz herausschaute. „Mmh, die Ratte scheint ja wohl Parteimitglied gewesen zu sein! sagte Heinz in die Stille des Raumes herein. „Wahrscheinlich hat sie nach den letzten Reichstagswahlen Suizid begangen, weil ihr Führer es wieder nicht geschafft hat Reichskanzler zu werden. Es trat absolute Stille ein. Doch nur ein paar Sekunden später brach ein schallendes Gelächter aus, das nach und nach alle Anwesenden erfasste und mit sich riss. Herrn Schulz rollten die Tränen über die geröteten Wangen und er schlug sich immer und immer wieder vor Lachen auf die Schenkel. Auch Heinz und Julius glucksten vergnügt, während Paul und Heinrich immer noch wortlos auf die tote Ratte starrten. Die Beiden hatten einen hochroten Kopf bekommen und warfen ihren Klassenkameraden wütende Blicke zu. „Ihr werdet schon sehr bald sehen wie es denen ergehen wird, die heute noch über uns lachen. zischte Paul. Dann setzten sich die beiden schmollenden HJ-Führer ihre schwarzen HJ-Schifchen auf den Kopf und stapften wutschnaubend aus dem Biologieraum. Als das Lachen langsam abgeklungen war, ging Heinz ein Gedanke durch den Kopf, der ihm unbehaglich erschien und ihn fortan auch nicht mehr ganz loslassen wollte. Was wäre, wenn Paul und Heinrich mit ihrer Drohung am Ende recht behielten.

    „Bitte setzen Sie sich Herr Moor hatte zweimal kräftig in die Hände geklatscht, um sich das notwendige Gehör zu verschaffen. „Ich hoffe Ihnen waren alle ein paar erholsame Ferientage vergönnt, denn jetzt beginnt für Sie wieder der Ernst des Lebens! Der Schulleiter versuchte zu lächeln, doch man sah ihm an, dass er sich nicht so recht wohl in seiner Haut fühlte. „Heute möchte ich Ihnen ihren neuen Englisch- und Geschichtslehrer vorstellen. Herr Mahlzahn kommt vom neuen Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung aus Berlin und wird unseren Lehrkörper mit seinem fundierten Wissen sicher sehr bereichern. Nach diesen Worten trat eine kurze Stille. Heinz, der direkt vor den beiden Männern saß, erhob sich und fragte „Wo ist denn unser bisheriger Lehrer Herr Stern? Ist er krank? Schuldirektor Moor wurde bleich, senkte den Blick und schaute an Heinz vorbei in das große Nichts. Bevor er etwas erwidern konnte, ergriff Herr Mahlzahn das Wort. „Wie heißen Sie? Der Lehrer schaute Heinz jetzt direkt in die Augen. Sein Blick war kalt und Heinz spürte sofort, dass bei diesem aalglatten Kerl in jedem Fall Vorsicht geboten war. „Heinz Kessler sagte er und bemühte sich, darum seine Stimme möglichst selbstsicher klingen zu lassen. Der neue Lehrer hob die linke Augenbraue leicht an und lächelte. „So, so! Sie wollen also wissen, warum der Jude Stern hier nicht mehr unterrichtet? Mahlzahn hatte sich auf die rechte Tischkante des Pults gesetzt, sein Jackett geöffnet und dabei seine linke Hand zur Faust geballt und in die Hüfte gestemmt. „Der Jude Stern unterrichtet an keiner deutschen Schule mehr. Kein Jude wird das jemals wieder tun. Die deutschen Schulen werden in Zukunft keine verlausten Juden mehr aufnehmen. Weder als Lehrer noch als Schüler. Paul Förster applaudierte und auch Heinrich Wilke klatsche Beifall. „In Zukunft weht in Deutschland ein anderer Wind! Mit dieser selbstgefällig daher orakelten Feststellung erhob sich Mahlzahn und bedeutete dem Schulleiter Moor, der seit seinen Eröffnungsworten geschwiegen hatte, dass es nun an der Zeit wäre zu gehen. „Hat noch jemand Fragen? Nein? Gut. Heil Hitler meine Herren. Die Schüler erhoben sich und bis auf eine kleine Handvoll von Ihnen, erwiderten die allermeisten der Jungen den Gruß. Nur Sekunden später trat der Lateinlehrer Petersen ein und wie in jeder seiner Stunden eröffnete er den Unterricht mit einem Zitat: Praeter speciem stultus est. (Er ist dümmer, als er aussieht) Ob er damit jemanden Bestimmten meinte, ließ Herr Petersen zumindest an diesem Schultag wohlweislich unausgesprochen. Die letzten drei Schuljahre waren für Heinz die bis dahin schlimmsten. Nicht dass er irgendwelche größeren Probleme mit dem Lehrstoff gehabt hätte, aber seit dem ersten Auftritt des damaligen Lehrers und jetzigen neuen Rektors Mahlzahn, hatte Heinz intuitiv erfasst, dass er fortan mit Worten, die eine eigene Sicht der Dinge zum Inhalt haben könnten, ausgesprochen vorsichtig sein musste. Heinz begann die Welt - und die war plötzlich ausgesprochen deutsch - immer mehr aus der Rolle eines stillen Beobachters in sich aufzunehmen. Er registriere jede kleinste Änderung der gesellschaftlichen Verhältnisse und ordnete sie im Kopf für sich ein. Seine Eltern, die als Angehörige der Arbeiterklasse der Sozialdemokratie nahestanden, betrachten Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 mit Argwohn und einer bis dahin für sie nicht genauer zu definierenden Besorgnis. Ferdinand erfasste die große kriminelle Energie der Nationalsozialisten sehr bald und auch Luise erkannte früh, was für Menschen jetzt in Deutschland das Sagen hatte.

    ******

    Theodor Friedrich Egbert Faust wurde am 20. April 1896 als einziger Sohn des angesehenen Rechtsanwalts Manfred Egbert Faust, in Bad Schwartau bei Lübeck geboren. Der gescheite Theodor wuchs in gutbürgerlichen Verhältnissen auf und absolvierte im Sommer 1915 ohne große Schwierigkeiten das Abitur an der altehrwürdigen Oberschule zum Dom in Lübeck. Wie fast alle seiner Schulkameraden meldete sich auch der sportliche Anwaltssohn sofort freiwillig zum Kriegsdienst, wurde aber zunächst aus gesundheitlichen Gründen als nicht kriegstauglich ausgemustert. Theodor war extrem kurzsichtig und ohne eine entsprechende Brille so gut wie blind. Während viele seiner Klassenkameraden jetzt in den Schützengräben der Westfront den Heldentod sterben durften, musste Theodor untätig zu Hause darauf hoffen, vielleicht doch noch als tauglich gemustert zu werden. Seine Trauer über diese Schmach währte allerdings nicht sehr lange. Im Sommer des Jahres 1916 lernte er die junge Maria von Kressfeld kennen. Das Geschlecht der von Kressfelds wurde in den Lübecker Archiven erstmals bereits im Jahre 1223 erwähnt. Ludbertus von Kressfeld, der bereits ab 1225 als ein Lübecker Ratsherr tätig war, galt als Stammvater der von Kressfelds. Die Familie, die in der Hansestadt schon seit Jahrhunderten Ratsherren, Offiziere und Senatoren stellte, gehörte der hanseatischen Oberschicht an und galt als politisch ausgesprochen liberal. Die 19-jährige Maria, eine hübsche blonde junge Frau nahm im Sommer 1916 an einer Trauerfeier teil, die für einen im Felde gebliebenen Cousin stattfand. Dort lernte die junge Frau den schüchternen Theodor kennen. Die beiden jungen Menschen gefielen sich auf Anhieb und schon ein Jahr später läuteten die Hochzeitsglocken der altehrwürdigen Jacobi Kirche. Das junge Ehepaar bezog schon kurz darauf ein großes Haus am Lübecker Geibelplatz, das ihnen Theodors Vater als Hochzeitsgeschenk überschrieben hatte. Im Jahr 1918 wurde ihr Sohn Manfred geboren. Trotz der verheerenden militärischen Niederlage und dem glanzlosen Ende des Kaiserreichs im November 1918, gelang es Theodor Faust recht schnell im neuen demokratischen Gesellschaftssystem der Weimarer Republik Fuß zu fassen. Der überall als zielstrebig geltende Theodor schloss das Jurastudium im Jahr 1921 mit Auszeichnung ab. Nach der Promotion zum Dr. jur. wurde ihm durch den Senat in seiner Heimatstadt Lübeck das Amt eines Staatsanwalts angeboten. Faust nahm das Angebot an und galt schon nach kurzer Zeit als ein fleißiger Jurist mit einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn.

    Derweil kümmerte sich Maria mit Hingabe um den Haushalt und die Erziehung ihres Sohnes. Sie vergötterte ihren Manfred. Obwohl Maria ihm so gut wie jeden Wunsch von den Augen ablas, war Manfred nicht selten launisch und trat Gleichaltrigen gegenüber immer häufiger ausgesprochen herablassend und herrisch auf. Seine Mutter gab sich alle Mühe ihn nach den liberalen Grundsätzen und Tugenden ihrer eigenen Familie zu erziehen, in dem sie ihm Toleranz und Weltoffenheit nahebrachte. „Diese Welt gehört allen Menschen zu gleichen Teilen war einer ihrer geflügelten Sätze. Manfred kümmerten diese weltoffenen Erziehungsversuche seiner Mutter allerdings nur wenig. Der Heranwachsende wechselte im Jahre 1928 auf das Gymnasium und war nach seinem Vater nun der zweite Faust, der die Oberschule zum Dom besuchte. Seine Noten waren gut und kaum jemand hatte Zweifel daran, dass Manfred schon sehr bald in die Fußstapfen seines Vaters treten würde. „Manfred wird mal ein großer Anwalt verkündete Theodor Faust bei jeder sich bietenden Gelegenheit stolz. Manfred hatte sich allerdings vorgenommen, möglichst ohne große eigene Anstrengung an die Vorzüge des Lebens zu gelangen. Der Beruf des Anwalts reizte ihn daher kaum. Die Weimarer Republik lag zu Beginn des Jahres 1932 bereits auf dem politischen Sterbebett. Die NSDAP zog nach den Reichstagswahlen am 13. November mit 33,1% als zweitstärkste Partei nach den Sozialdemokraten in den Lübecker Senat ein. Die weltoffene Hansestadt an der Trave, war - wie so viele andere Städte der ungeliebten Republik - den braunen Heilsversprechen der Nazis erlegen. Auch der leitende Staatsanwalt Theodor Faust wurde von der Woge „nationaler Erneuerung" erfasst und mitgerissen. Als die Nazis bei den Reichstagswahlen am 5. März 1933, ihren Stimmenanteil im Senat nochmals um fast 12% auf insgesamt 42,8% verbessern konnten, und damit zur stärksten politischen Kraft in der Hansestadt geworden waren, trat Theodor Faust, Mitgliedsnummer 981.861, in die NSDAP ein. Der Sohn Manfred trat nun doch in die Fußstapfen seines Vaters und wurde eine Woche nach dessen Parteieintritt, in die Lübecker Hitlerjugend aufgenommen. Dort gehörte er schnell zum inneren Führungszirkel und wurde von den Pimpfen respektiert, aber auch gefürchtet. Ihm gefiel es, andere Menschen herum zu kommandieren. Während des laufenden Schuljahres 1934 wechselte der frisch gebackene HJ-Führer an die NAPOLA im schleswig-holsteinischen Plön. An diesen Eliteschulen der NSDAP wurde das zukünftige Führungspersonals des nationalsozialistischen Deutschlands herangebildet. Manfred mutierte dort, wie so viele andere Jungen seiner Generation, zum überzeugten Nationalsozialisten und fanatischen Antisemiten. Maria Faust war strikt gegen diesen Schulwechsel gewesen und versuchte alles, um Manfred und Theodor davon zu überzeugen, dass dieser Schritt nicht der richtige für den Jungen wäre. Vater und Sohn ignorierten ihre Einwände, so dass Manfred zum Ende des Schuljahres auf die Schule nach Plön wechselte. Theodor Faust machte im braunen Deutschland jetzt ebenfalls schnell eine rasante Karriere. Unzählige andere Volksgenossen wie er selbst, hatten die Zeichen der Zeit erkannt und sich in den Strom derer begeben, die sich den Nazis bedingungslos anschlossen. Bereits am 8. Juni 1933 wurde der bis dahin unpolitische Staatsanwalt Parteigenosse Theodor Faust vom zuständigen Reichsstatthalter Friedrich Hildebrandt zum Senator für Justiz der Stadt Lübeck ernannt. Als frisch gebackener Justizsenator betrieb er nun konsequent die schnelle Umsetzung der vollständigen Gleichschaltung des politischen Lebens in Lübeck. Eine erste große Verhaftungswelle schwappte durch die Stadt. Sozialdemokraten und Kommunisten wurden in einer Großaktion der Lübecker Polizei und der Gestapo zunächst in Schutzhaft genommen und dann in das Zuchthaus Lauerhof gebracht. Nur kurze Zeit später verlegte man die meisten Gefangenen in das KZ nach Bergen-Belsen. Viele dieser Menschen sollten das Konzentrationslager südlich von Hamburg nicht mehr lebend verlassen.

    Auch ein langjähriger Lübecker Anwaltskollege des frisch gebackenen Justizsenators, der jüdische Rechtsanwalt Kurt Liberman, gehörte zu den ersten Opfern dieser Willkür. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1934 wurde Libermann auf dem Heimweg von seiner Kanzlei in der Beckergrube von unbekannten Tätern bewusstlos geschlagen und in die nahe gelegene Trave geworfen. Seine zerschlagende Leiche wurde erst nach zwei Tagen aus dem brackigen Wasser der Trave gezogen. Zwei Lübecker SA-Männer hatten den leblosen Körper im Wasser treiben sehen. Anhand der Geldbörse, die der Tote immer noch bei sich trug, konnten sie die Personalien der Leiche ermitteln. Nach einer kurzen Diskussion warfen die SA-Männer den Körper zunächst einfach wieder in die Trave zurück. Selbstverständlich nicht ohne dem Toten vorher das Geld aus der seiner Börse zu stehlen. Erst der Protest von einigen herbeigeeilten Lübecker Bürgern beendete dieses ekelhafte Schauspiel. Der Mord an Kurt Liberman wurde dennoch niemals aufgeklärt. Theodor Faust ließ das polizeiliche Ermittlungsverfahren bereits nach zwei Tagen wegen fehlendem staatlichen Interesse einstellen. In den darauffolgenden zwei Jahren entließ der nun weltanschaulich gefestigte Senator dutzende, als politisch unzuverlässig geltende Mitarbeiter, Anwälte und sogar Richter aus dem Staatsdienst. Sein Sohn Manfred hatte sich in Plön während dessen ebenfalls zu einem passablen Nationalsozialisten gemausert. Er bestand sein deutsches Abitur mit Auszeichnung und strebte nun doch eine Karriere als Jurist an. Zum Semesterbeginn des Jahres 1936 schrieb sich Manfred Faust in der Hamburger Universität zum Jurastudium ein. Gleichzeitig wurde er Mitglied im NS-Studentenbund. Sein Vater war praktisch zeitgleich und „Im Namen des Führers" zum Bürgermeister der Stadt Lübeck ernannt worden. Der Reichsführer SS, Heinrich Himmler ernannte ihn daraufhin ehrenhalber sogar zu einem SS-Standartenführer (Oberst), und auch der deutsche Justizminister Franz Gürtner ließ es sich daraufhin nicht nehmen und beförderte Theodor Faust nun ebenfalls ehrenhalber zum Reichsgerichtsrat. Theodor und Manfred Faust hatten es im neuen Deutschland in sehr kurzer Zeit bereits sehr weit gebracht. Alles schien für Männer ihres Schlages nun möglich zu sein.

    Für Maria Faust stellte sich das Leben im nationalsozialistischen Deutschland allerdings schon sehr bald als unerträglich heraus. Bereits kurz nach der Machtergreifung der Nazis im Jahre 1933 hatte die hübsche Frau damit begonnen, sich dem gesellschaftlichen Leben der Stadt zu entziehen. Immer häufiger blieb sie größeren Veranstaltungen fern oder ließ sich aus den verschiedensten Gründen entschuldigen. Das große Haus am Geibelplatz verließ sie fortan nur noch selten. Oft kam es jetzt zwischen ihr und ihrem Mann zu lautstarken Auseinandersetzungen und auch das Verhältnis zu ihrem Sohn wurde zusehends immer schlechter. Maria verfiel nun immer häufiger in eine depressive Stimmung und begann damit sich schon am Mittag zu betrinken. Maria beendete sogar ihr ehrenamtliches Engagement für die gemeinnützige „Brockensammlung. Um die Brockensammlung, die bereits 1913 durch einige christliche Lübecker Bürger des „Verein zur Fürsorge für entlassene Strafgefangene und sittlich Verwahrloste gegründet worden war, hatte sich Maria immer besonders gern gekümmert. In Kellern und auf Hausböden verwahrter Hausrat, Mobiliar, Kleidungsstücke, Schuhzeug, Spielsachen, Alteisen, Buntmetalle, Flaschen und Papier wurden durch die Sammelaktion von Lübeckern für Lübecker gespendet. Maria war über viele Jahre eine der engagiertesten Mitstreiter dieser karitativen Sammlungen gewesen und hatte mitgeholfen, die Not bei den ärmsten Lübeckern zumindest ein wenig zu lindern. Als die Nazis 1934 das deutsche Winterhilfswerk ins Leben riefen, verboten sie den Verein und die Brockensammlung. Als der deutsche Reichstag am Abend des 15. September 1935 einstimmig die Nürnberger Rassegesetze beschloss und damit die jüdische Bevölkerung in Deutschland praktisch zu Freiwild erklärte, hörte Maria Faust auf zu sprechen. Kein Wort kam seit diesem Tag mehr über ihre vollen Lippen. Sie schwieg fortan und sollte es bis zu ihrem Tode auch dabei belassen. Am 26. Dezember 1936 nahm sich Maria Faust, geborene von Kressfeld, mit nur 38 Jahren schließlich das Leben. Ihre letzten Minuten hat man später weitestgehend rekonstruieren können. Demnach verließ sie etwa gegen 19.00 Uhr ihr Zimmer und stieg die Treppe zum Dachboden herauf. Oben angekommen, öffnete sie eine der beiden größeren Dachluken und sprang in die Tiefe. An diesem kalten Dezemberabend schneite es stark. Auf dem Straßenpflaster vor dem Haus am Geibelplatz waren ein paar Einwohner unterwegs auf dem Weg in die gegenüberliegende Jacobikirche, um dort an einem Weihnachtsgottesdienst teilzunehmen. Einige Kinder tobten vor dem Eingangstor der Kirche herum und bewarfen sich mit Schneebällen. Maria sog noch einmal die kalte Luft ein, dann breitete sie die Arme weit auseinander und schloss ihre Augen. „Verzeiht sprach Maria leise und wie zu sich selbst. Dann ließ sich die Frau nach vorne kippen und stürzte in die Tiefe. Nur eine Sekunde später schlug ihr Körper krachend auf das Kopfsteinpflaster des Geibelplatzes auf. Maria Faust, die Frau des amtierenden Bürgermeisters der Stadt Lübeck war augenblicklich tot. Die Menschen auf dem Platz eilten schreiend herbei, um zu sehen, was geschehen war. Einige der Kirchgänger kamen herüber gerannt und blieben wie angewurzelt vor der Toten stehen. Unter Marias Leichnam färbte sich das Kopfsteinpflaster dunkelrot. Ihr rechter Arm war verdreht und die Beine standen in einem unnatürlichen Winkel vom Torso ab. Ihre Augen hatte sie geschlossen und es wirkte fast so, als würde sie schlafen. Die herbeigeeilten Menschen erstarrten aber auch noch aus einem zweiten Grund. An dem Kleid der Toten waren unzählige, gelbe Judensterne befestigt worden waren. „Sie hält etwas in der Hand! rief eine Frau und deutete auf ein Stück Papier in Marias rechter Hand. Ein herbeigerufener Polizeiwachtmeister schob die neugierigen Menschen beiseite. „Lassen Sie mich doch durch. Gehen Sie weiter meine Herrschaften. Hier gibt es nichts mehr zu sehen! Der Beamte beugte sich über die Tote. „Das ist doch die Frau des Bürgermeisters murmelte der Wachtmeister und fluchte still in sich hinein. „Was sind denn das für Judensterne an ihrem Kleid? fragend blickte er in die gaffende Menschenmenge, so als ob er erwartete, dass sie ihm auf diese Frage eine plausible Antwort geben könnte. Dann fiel sein geschulter Blick auf Marias Hand. Vorsichtig zog er das zusammengefaltete Stück Papier aus Marias Hand. Mit blauer Tinte stand dort geschrieben „Wir sind alle schuldig! Der Beamte schaute erneut auf die Judensterne und dann wieder auf das Stück Papier in seiner Hand. Plötzlich schien er einen Kloß in der Kehle zu haben und glaubte zu verstehen. Mit einem Ruck erhob sich der Polizist und wand sich an die Menschenmenge, die mittlerweile immer größer geworden war. „Geht nach Hause Leute, hier gibt es nichts mehr zu sehen! Marias letzte Worte wiederholten sich immer und immer wieder in seinem Kopf, bis sie sich übergroß und wohl für immer in sein Gedächtnis eingebrannt hatten. „Wir sind alle schuldig! Spätestens seit 1935 konnte kein aufmerksamer Deutscher noch ernsthaft behaupten, nicht zu sehen oder zu wissen, wie weit der nationalsozialistische Staat zu gehen bereit war, um die Juden aus dem gesellschaftlichen Leben auszugrenzen und sie als Kriminelle zu ächten. Bei weitem nicht alle Deutschen waren mit dieser rigiden Politik dieser perfiden Ausgrenzungspolitik einverstanden und wohl kaum ein Deutscher hätte sich 1935 ernsthaft vorstellen können, dass diese Politik schon ein paar Jahre später dazu führen würde, dass über sechs Millionen Menschen im deutschen Namen ermordet würden. Die große schweigende Mehrheit der gleichgeschalteten Volksgemeinschaft hatte sich schnell mit den neuen Herren und deren Zielen arrangiert. Um nicht vielleicht irgendwann selbst in den Fokus des Staates und seiner unberechenbaren Willkür zu gelangen, schwiegen sie und schauten weg. Menschen wie Maria zerbrachen häufig daran, weil sie erkannten wohin diese Politik der Nazis unweigerlich führen würde. „Aus dem Weg, geht doch zur Seite verdammt! Die gaffende Menge kam in Bewegung und es bildete sich eine kleine Gasse. In einen braunen Kamelhaarmantel gekleidet, schob sich Theodor Faust an den Menschen vorbei. Schließlich erreichte er den knienden Polizisten. Er blickte zunächst auf Maria und dann auf den Wachtmeister. „Guten Abend Herr Bürgermeister. Ich fürchte ich habe eine schlechte Nachricht für Sie der Mann erhob sich und zog dann das Stück Papier aus seinem braunen Lederetui. „Sie hielt diese Nachricht in der Hand! Er reichte die Nachricht zögernd an Faust herüber, der immer noch auf seine tote Frau am Boden und auf das mit Blut durchtränkte Kleid starrte. Erst als der Polizist sich räusperte und ihm das kleine Stück Papier sanft in die Hand legte, fiel sein Blick von der Toten ab. Die geschwungene Handschrift erkannte er sofort „Wir alle sind schuldig! Theodor Faust holte tief Luft und er starrte für einen kurzen Moment in den dunklen Nachthimmel. Dann senkte sich sein Blick ein weiteres Mal auf den Fetzen in seiner Hand. Plötzlich wurde sein Blick kalt und ausdruckslos. Seine zusammen gepressten Lippen bildeten nun einen schmalen farblosen Strich. Faust konnte förmlich spüren, wie ihm jetzt das Blut in den Kopf schoss. Der Bürgermeister Faust war wütend. Wie konnte es dieses Weibsbild nur wagen, ihn durch dieses widerliche Schauspiel derart lächerlich zu machen? Was hatte sie sich bloß dabei gedacht diese verfluchten Davidsterne auf ihr Kleid zu nähen? „Schaffen sie mir diese Frau aus den Augen!" Zischte er den verdutzten Wachtmeister an. Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und einen Moment später schlug die große Haustür seines Hauses hinter ihm zu.

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    Entscheidungen

    Am 16. Mai 1936 legte Heinz Kessler als Jahrgangsbester Lübecker Schüler seine Abiturprüfung ab. In seinen Abiturfächern Englisch, Französisch und Physik hatte er jeweils die besten Noten erzielt. Seine Eltern strotzten vor Stolz, als ihr Sohn im „Roten Saal des Rathauses aus den Händen des Bürgermeisters Theodor Faust eine Ehrenurkunde des Lübecker Schulsenators entgegennehmen durfte. Am Ende seiner schwulstigen Rede kam der Bürgermeister mit einem breiten Lächeln auf Heinz und seine Eltern zu, schüttelte ihnen allen dreien die Hand, schlug die Hacken seiner polierten schwarzen Stiefel zusammen und verbeugte sich leicht. Einem väterlichen „Heil Hitler folgte nochmals ein knapper Hakenschlag und eine Sekunde später hatte der amtierende Bürgermeister den Raum bereits wieder verlassen. Als die Kesslers aus dem Rathaus auf den Marktplatz traten, holte Heinz tief Luft und betrachte die Urkunde in seinen Händen. „Im Namen des Führers und Reichskanzlers: Der Schüler Heinz Kessler wird hiermit als bester deutscher Abiturient des Jahrgangs 1936 der Hansestadt Lübeck geehrt. Der Führer hat in einem Führerbefehl vom 22.04.1935 angeordnet, dass den Jahrgangsbesten deutschen Abiturienten ein Führer-Stipendium an einer deutschen Universität gewährt wird. Außerdem erhält jeder der ausgezeichnete Schüler hiermit ein Offizierspatent der deutschen Wehrmacht verliehen, das ihn mit sofortiger Wirkung berechtigt, den Dienstgrad eines Leutnants d.R. zu führen.—Lübeck, den 16.Mai 1936, gez. Faust, Bürgermeister der Hansestadt Lübeck. „Was wirst du jetzt tun mein Sohn? Ferdinand Kessler hatte Heinz die Hand auf die Schulter gelegt und betrachte seinen Sohn aufmerksam. Heinz zögerte ein paar Sekunden. Dann holte er tief Luft und antwortete leise: „Ich werde mich zur Marine einziehen lassen. Die Wehrpflicht dauert ja nur ein Jahr, und danach habe ich dann alle Zeit der Welt mir eine passende Universität auszusuchen. Sein Vater blickte ihn ernst an und murmelte: „Es ist natürlich deine Entscheidung, aber meinst du wirklich, dass der Soldatenberuf etwas für dich ist? Heinz überlegte einen Moment lang, was er seinem Vater auf diese Frage antworten sollte. Dann nickte er und sagte: „Ich glaube schon Vater".

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    Die Beerdigung auf dem alten Burgtor-Friedhof fand am Vormittag des 30.12.1936 statt. Alles, was in Lübeck Rang und Namen hatte, war erschienen, um Maria Faust der Frau des Bürgermeisters das letzte Geleit zu geben. Unter den vielen Trauergästen befanden sich auch einige höhere NSDAP-Funktionäre und Würdenträger. So war der Reichsstatthalter für Mecklenburg und Lübeck, Friedrich Hildebrandt angereist und auch der Präsident des Lübecker Senats Otto-Heinrich Drechsler war unter den Gästen. Die beiden Männer hatten in der Vergangenheit maßgeblichen Anteil daran gehabt, dass Theodor Faust bereits kurz nach der Machtergreifung zum Lübecker Justizsenator und nur wenig später zum Bürgermeister Lübecks ernannt wurde. Beide Männer würden sich nur drei Jahre später an diversen Kriegsverbrechen beteiligen und aktiv an der Endlösung der Judenfrage mitwirken. Hildebrandt, der es im Laufe des Krieges immerhin zum Gauleiter von Mecklenburg brachte, wurde im Februar 1947 von einem amerikanischen Militärgericht in Dachau zum Tode verurteilt und hingerichtet. Aufgrund Hildebrandts Anordnungen waren in vier Fällen gefangen genommene alliierte Piloten und Bomberbesatzungen an Ort und Stelle aufgehängt worden. Drechsler erging es nicht viel besser. Der ehemalige Zahnarzt und glühende Nationalsozialist war vom 17. Juli 1941 bis 1944 als Generalkommissar im Reichskommissariat Ostland in Riga tätig. Drechsler war es, der das Getto in Riga und die Konzentrationslager in Lettland organisierte und tausende jüdische Letten der Vernichtung zu führte. Nur drei Tage vor dem offiziellen Kriegsende am 5. Mai 1945 nahm er sich in der Nähe von Mölln das Leben. Die Mienen der sechs SAMänner, die links und rechts neben dem offenen Sarg Marias Aufstellung genommen hatten, waren ausdruckslos. Die kleine Kapelle war mit Nelken geschmückt worden und man hatte unzählige Kränze und Blumengestecke rund herum des Eichensarges drapiert. Ein Meer von kleinen Hakenkreuz-Fahnen rundete das Bild ab. Nur ab und zu unterbrach ein Räuspern oder ein leises Schluchzen die beklemmende Stille. In der ersten Reihe saßen die engsten Familienangehörigen. Theodor Faust trug seine braune Parteiuniform und auch sein Sohn Manfred war in der gleichfarbigen NAPOLA-Uniform erschienen. Die beiden Männer saßen ausdruckslos und kerzengerade vor dem geschmückten Sarg. Sie hatten sich die Schirmmützen auf ihre Knie gelegt und umklammerten krampfhaft den Rand der jeweiligen Kopfbedeckung. Auf der Kirchenbank rechts von ihnen saßen die Eltern und Geschwister von Maria Faust. Leopold von Kressfeld, ein stattlicher Mann von 69 Jahren, hielt die Hände seiner zierlichen Frau Rosa fest umklammert und würdigte seinen Schwiegersohn und seinen Enkel keines Blickes. Der rüstige Herr trug einen schwarzen Anzug, an dessen Revers eine lange Ordensspange steckte. Der ehemalige Konteradmiral der kaiserlichen Marine seiner Majestät Wilhelm des Zweiten, war Träger des Eisernen Kreuzes und des Pour le Merite. Diese höchste militärische Auszeichnung des untergegangenen Kaiserreiches war nur durch seine Majestät den Kaiser persönlich verliehen worden. Der ehemalige Seeoffizier verfügte immer noch über hervorragende Kontakte zum Militär und wurde dort immer noch als ein Ratgeber sehr geschätzt. Besonders der Chef der deutschen Abwehr, Wilhelm Canaris, hielt - so wurde hinter vorgehaltener Hand gesagt - große Stücke auf ihn. Nach dem Freitod seiner Mutter hatte es im Hause Faust eine lautstarke Auseinandersetzung zwischen dem alten Admiral und seinem Vater gegeben. Manfred hatte im Nebenraum gesessen und den Streit mit angehört. „Sie ist tot Herr Bürgermeister und Du hast sie auf dem Gewissen. Du und deine ganze kriminelle Nazi-Bande treibt unser Land und unser Volk in den sicheren Untergang. Euer Antisemitismus ist widerlich und verbrecherisch. Maria hat das gewusst und ganz offensichtlich nicht länger ertragen. Die geballte Faust des alten Mannes krachte lautstark auf einen Tisch „Du und deine Nazi-Freunde soll der Teufel holen! Die letzten Worte schrie der alte Mann seinem gegenüber ins Gesicht, bevor er sich stumm und müde auf einen Stuhl fallen ließ. Dann wurde es still und für einen Moment glaubte Manfred, dass sein Vater den Raum bereits verlassen hätte. „Sie hat Schande über uns gebracht hörte er seinen Vater sagen. Theodor Faust hatte sich nach dem Wutausbruch des alten Admirals ruckartig von seinem Platz erhoben und dabei seine Fäuste in die Hüften gestemmt. Die beiden Männer starrten sich jetzt hasserfüllt an. „Pass auf was du sagst, alter Mann, bevor ich mich vergesse. Deine Tochter hat mich und meinen Sohn öffentlich blamiert. Sich mit diesen Judensternen zu behängen und dann damit vom Dach meines Hauses zu springen, ist unverzeihlich. Diese Frau könnte mich meine Karriere kosten und von der Zukunft meines Sohnes will ich da gar nicht erst sprechen! Wieder trat eine gefährliche Stille ein. Dann erklang erneut die Stimme von Theodor Faust. Diesmal klang sie gefasster und eher neutral „Verlasse mein Haus. Nach der Beerdigung trennen sich unsere Wege und solltest Du auch nur ein einziges Mal über den Tod Deiner Tochter öffentlich das Wort ergreifen, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Du und Deine ganze verdammte adlige Sippe ins KZ verfrachtet werden! Manfred stockte der Atem, doch ehe er den Gedanken zu Ende denken konnte, hörte er seinen Großvater ebenso kühl und ruhig sagen: „Maria hatte recht. Du besitzt kein Gewissen! Dann hörte Manfred nur noch ein paar schnelle Schritte und das laute Krachen einer Tür, die mit voller Wucht in das Schloss geschlagen wurde. Zurück im Zimmer blieb ein alter Mann, der leise zu schluchzen begonnen hatte.

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    Auf seinen eigenen Wunsch hin wurde Heinz Kessler am 1. Oktober 1936 nach Flensburg zur Marine eingezogen. An der Offiziersschule der Marine in Mürwik trat er in der Uniform eines Leutnants zur See in die Kriegsmarine ein. Obwohl er bereits einen Offiziersrang besaß, musste auch er die sechsmonatige übliche militärische Schinderei und die seemännische Ausbildung klaglos über sich ergehen lassen. Als die Dauer der allgemeinen Wehrpflicht im Jahre 1936 auf insgesamt zwei Jahre heraufgesetzt wurde, überdachte Heinz die neue Situation gründlich und entschloss sich schließlich dafür das Beste aus dem weiteren Jahr bei der Kriegsmarine zu machen. Sollte er sich freiwillig melden, um als Kommandant auf einem dieser neuen U-Boote zu fahren, oder doch lieber auf einem der sich noch im Bau befindlichen großen Schlachtschiffe anmustern? Bevor er sich für oder gegen das eine oder das andere entscheiden konnte, machte ihm der pure Zufall einen gewaltigen Strich durch die Rechnung. Im Herbst des Jahres 1937 lernte Kessler während eines Kurzurlaubs auf Sylt zufällig den sich dort ebenfalls im Urlaub befindlichen Maximilian von Hippel kennen. Die beiden Männer mochten sich auf Anhieb. Im Ersten Weltkrieg hatte von Hippel als Freiwilliger in der Schutztruppe für Deutsch-Ostafrika gedient und war dann nach ein paar weniger vergnüglichen Jahren als reisender Handelsvertreter, 1935 als Oberstleutnant in die neu aufgestellte Wehrmacht eingetreten. Er galt schon sehr bald als ein ausgezeichneter Taktiker und Stratege. Von Hippel entwickelte bereits 1936 ein Konzept, dass die Aufstellung einer militärischen Einheit für Kommandoaufgaben sowie geheimer getarnter Einsätze hinter den feindlichen Linien durch hochspezialisierten Einzelkämpfer, vorsah. Seine Vorgesetzten in Berlin wurden auf ihn aufmerksam und billigten seine Pläne. Schon kurze Zeit später war von Hippel zum ersten Kommandeur des neuen Lehr-Regiments Brandenburg z.b.V. 800 ernannt worden und galt als einer der besten Nachrichtenoffiziere der deutschen Wehrmacht. Der schon sehr bald umgangssprachlich als Brandenburger bekannte Verband stellt eine zunächst in Kompaniestärke aufgestellte Sonderformation der Wehrmacht dar, die unter der direkten Führung des Amtes Ausland/Abwehr im Oberkommando der Wehrmacht einerseits für geheime Kommandounternehmen eingesetzt wurde und andererseits als verwaltungs- und organisationstechnische Basis der Agenten und V-Leute der Abwehr diente. Die Mitglieder des neuaufgestellten Regiments wurden aus den drei Teilstreitkräften Heer, Marine und Luftwaffe rekrutiert. Auf eine interne Weisung des Chefs der Abwehr, Wilhelm Canaris wurden Männer aus SS-Verbänden bei der Auswahl konsequent unberücksichtigt gelassen. Die weltanschauliche Ausrichtung der SS wurde von Canaris und den allermeisten Angehörigen der Abwehr strikt abgelehnt. Von Hippel suchte daher gezielt nach jungen talentierten Offizieren, die das Regime und die Partei mit kritischen Augen betrachteten. Der junge Heinz Kessler schien in seinen Augen genauso einen Mann zu sein. Die beiden Männer hatten bereits eine ganze Weile in einem kleinen Café in Westerland zusammengesessen, als Theodor von Hippel dem Gespräch eine neue Richtung gab. „Mein lieber Kessler sagte er freundlich ohne dabei sein Gegenüber auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen „Was würden Sie davon halten in Zukunft für die Abwehr und damit auch für das Regiment Brandenburg zu arbeiten? Der Oberstleutnant stellte sein bereits halb geleertes Bierglas zurück auf den runden Tisch und fuhr dann fort „Sie sind ausgesprochen Intelligent, sind überdurchschnittlich sportlich und verfügen über eine große Portion Einfühlungsvermögen. Es wäre schön, Sie zukünftig zu den unsrigen zählen zu können. Von Hippel überlegte kurz, ob er damit nicht vielleicht etwas zu dick aufgetragen hatte. Kessler, der nun ebenfalls sein Glas auf den Tisch zurückgestellt hatte, erwiderte grinsend. „Ich dachte schon Sie würden mich gar nicht mehr Fragen! Dann wurde sein Blick jedoch plötzlich kühl und die bisher freundliche Stimme nahm einen ernsteren Ton an. „Herr Oberstleutnant, ich nehme ihr Angebot sehr gerne an und weiß ihr Vertrauen zu schätzen. Sie sollten aber wissen, dass ich die Nationalsozialisten nicht besonders schätze. Die derzeitige Politik unserer Regierung wird uns unweigerlich in einen Krieg führen und ich bin davon überzeugt, dass Deutschland einen solchen Krieg niemals gewinnen würde. Wir werden von einem Haufen politischer Krimineller regiert, die unser Vaterland schon sehr bald in den Abgrund stoßen werden. Kessler fuhr sich mit der Hand durch das kurz blonde Haar und nippte an seinem Bier. „Glauben Sie mir, genau aus diesem Grunde braucht die Abwehr jetzt Männer wie Sie Kessler. Admiral Canaris schätzt die Lage genaue so ein wie sie und auch bei mir rennen Sie mit ihrer Einschätzung der Lage offene Türen ein. Von Hippel winkte einen Kellner heran und ließ sich die Rechnung bringen. „Ich werde Sie über das OKM (Oberkommando der Marine) anfordern lassen und dann im Hauptpersonalamt ihre sofortige Versetzung zur Abwehr beantragen. Er erhob sich und setzte sich seine Schirmmütze auf den Kopf. „Eines kann ich Ihnen aber dennoch nicht ersparen Kessler! Von Hippel schmalzte mit der Zunge „Sie werden sich von ihrem schicken blauen Marinetuch trennen müssen! Dann drehte sich der Offizier der Abwehr um und war nur Sekunden später in der flanierenden Menge der Sylter Kurgäste verschwunden. Heinz Kessler blieb noch eine ganze Weile an dem Tisch auf der Veranda des Cafés sitzen und hing seinen Gedanken nach. Dieser wortgewandte und intelligente alte Offizier der Abwehr hatte bei Heinz Kessler bleibenden Eindruck hinterlassen. „Ein guter Offizier! Ging es dem zwanzigjährigen Lübecker durch den Kopf. „Nun gut dachte er „dann werde ich also ein Spion! Kessler erhob sich und drückte dem Kellner vier Reichsmark in die bereits geöffnete Hand. „Sie kriegen aber noch etwas raus! Lispelte der Mann mit der schmuddeligen Schürze. „Behalten Sie den Rest „Danke sehr Herr Oberleutnant" aber die letzten Worte des Kellners hörte Kessler schon nicht mehr.

    „Achtung, nächster Halt Braunschweig Hauptbahnhof die Stimme des Schaffners holte Manfred Faust in die Wirklichkeit zurück. Er hatte etwas gedöst und brauchte ein paar Sekunden, um zu erfassen, wo er sich gerade befand. Mit einem Ruck erhob er sich und griff nach seinem Koffer, den er zum Beginn seiner Reise über sich in das Gepäcknetz verfrachtet hatte. Dann zog er sich seinen dicken Mantel an und verließ das Abteil. Die Dampflokomotive stöhnte und ächzte als der Zug in die gläserne Bahnhofshalle einfuhr. Die stampfenden Geräusche der alten Dampflok wurden jetzt von einem penetranten Kreischen der Bremsen abgelöst. Dann ging ein letzter kräftiger Ruck durch die Waggons und der Zug kam unvermittelt zum Stehen. Faust sprang aus dem Zug und folgte den anderen Mitreisenden in Richtung des Ausgangs. Vor dem Bahnhof blieb er stehen und schaute sich um. In den letzten Tagen hatte er den Tag seiner Einberufung in die SS-Junkerschule freudig erregt herbeigesehnt. Jetzt aber wurde diese Freude durch eine unbestimmte Aufgeregtheit abgelöst. Sein Magen meldete sich und er verspürte den Drang zu pinkeln. Faust umschloss den Griff des Koffers noch etwas fester und setzte sich in Bewegung. Bis in die Kaserne würde er es schon aushalten, zumindest hoffe er das. Am späten Nachmittag saß Manfred Faust in dem schmucklosen Gang des Stabsgebäudes der SS-Junker-Schule. Bisher hatte er bereits die ärztliche Erstuntersuchung und die Einkleidung hinter sich gebracht. In dem roten Backsteingebäude herrschte geschäftiges Treiben. Fast im Minutentakt wurden Türen geöffnet und wieder zugeschlagen. Dutzende von neuen Rekruten wieselten hektisch über die Gänge, um dann schließlich vor einer der vielen Bürotüren Aufstellung zu nehmen, bis man sie dann namentlich aufrief und aufforderte einzutreten. Faust kratzte sich am Knie. Der graue grobe Drillichanzug, in den man ihn und die anderen Neuen gesteckt hatte, verursachte einen unwiderstehlichen Juckreiz auf der Haut. Um sich abzulenken betrachte er die an den Wänden lieblos aufhängten Fotografien, auf denen man einige der bekannteren SS-Größen abgelichtet hatte. Freundlich und milde lächelnd blickte der Reichsführer und oberste Dienstherr der SS aus einem schlichten Glasrahmen auf die wartenden SS-Rekruten herunter. „Faust, Manfred! Rief eine schnarrende Stimme in den Gang hinein. Der Rekrut Faust schnellte in die Höhe und blickte in die ausdruckslosen Augen eines Oberscharführers, dessen breiter Kopf aus einer der geöffneten Tür herausschaute. „Jawohl stieß der Angesprochene hervor. „Reinkommen! Manfred Faust betrat das Büro und nahm Haltung an. „Heil Hitler! Herr Oberscharführer der alte Unteroffizier winkte gelangweilt ab. „Setzen Sie sich. Ich habe nicht ewig Zeit lässig warf er ein Bündel Papiere in einen der vielen Ablagekörbe auf seinem Schreibtisch und zog dann routiniert ein neues Formular aus einer seiner vielen Schubladen. Erst jetzt warf er seinem Gegenüber einen flüchtigen Blick zu. „Also Faust, Sie kommen frisch von der Napola!? Es war mehr eine Feststellung als eine Frage. „Jawohl Herr Oberscharführer der SS-Mann begann nun das Formular, das er vor sich auf den Tisch gelegt hatte, mit Buchstaben zu füllen. Der Bleistift in seiner rechten Hand huschte gekonnt über das Stück Papier. „Sie haben exzellente Noten und laut Personalbogen der Napola bringen Sie die richtige Weltanschauung mit. Medizinisch gibt es keine negativen Erkenntnisse und ihr Ariernachweis ist einwandfrei. Ich werde sie in die 1.Kompanie stecken, dort werden sie genügend Gelegenheit bekommen sich hervor zu tun. Wieder huschte der Stift über das Formular. „Soweit noch irgendwelche Fragen? „Nein Herr Oberscharführer erwiderte Faust zackig. „Gut. Sie können gehen. Melden Sie sich in Gebäude 4 bei ihrem Kompaniefeldwebel, dem Hauptscharführer Wagner. Abtreten! Manfred Faust erhob sich, nahm die militärische Grundstellung ein und machte auf den Hacken kehrt. Er hatte schon die Tür erreicht, als ihn die Stimme des SS-Unteroffiziers am Schreibtisch nochmals innehalten ließ. „Ich lese hier, dass Ihre Mutter etwas für die Juden übriggehabt haben soll? Manfred Faust erstarrte und ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. Langsam drehte er sich um. Seine Gesichtszüge wirkten jetzt maskenhaft und die blauen Augen funkelten kalt. „Wer behauptet so etwas? Sein gegenüber erhob sich hinter seinem Schreibtisch und machte ein paar Schritte auf ihn zu „Das tut nichts zur Sache. Sie sollen nur wissen, dass wir sie im Auge behalten werden! Faust biss sich auf die Unterlippe und schlug die Hacken zusammen. Als die Tür hinter ihm in das Schloss schlug, beschlich Faust ein Gefühl der Wut. Er musste an seine Mutter denken, sah sie mit leeren Augen vor sich im Schnee liegen, er sah ihr Kleid, das sie über und über mit gelben Judensternen benäht hatte und zum tausendsten Male zermarterte ihm die immer gleiche Frage das Gehirn. Warum hatte seine Mutter das getan? Bisher war ihm noch keine plausible Antwort auf diese Frage eingefallen. Mit tiefem Atemzügen nahm er die frische Luft in sich auf, und seine gute Laune kehrte langsam zurück. Er klemmte sich seine Papiere unter den Arm und machte sich auf den Weg. Nur wenige Minuten später erreichte er das Gebäude 4. Als er es ein paar Sekunden später, betrat, hatte er einen wichtigen Entschluss gefasst, der sich von nun an wie ein roter Faden durch sein weiteres Leben ziehen sollte. Für den Selbstmord seiner Mutter würde er die Juden bestrafen. Schließlich waren sie es gewesen, die von dem Geist seiner Mutter wie eine Krankheit Besitz ergriffen hatten. Wie ernst er diesen Entschluss nehmen sollte, würde er bereits in sehr naher Zukunft deutlich machen. In den nächsten Monaten wurde aus dem ehemaligen Napola-Schüler Manfred Faust ein folgsamer SS-Mann gemacht. Seine Tage waren nun erfüllt von einem harten militärischen Drill und einer weltanschaulichen Erziehung. Durch seine Zeit an der Napola-Schule war Faust der ständige Drill und die damit einhergehenden nationalsozialistischen Erziehungsmethoden durchaus vertraut. Die ideologische Auslesepolitik des Dritten Reiches, in der die Menschen ausschließlich nach ihrer Rassenzugehörigkeit in Arier und Untermenschen katalogisiert wurden, gehörten zu den wohl wichtigsten Eckpfeilern offizieller deutscher Bildungspolitik. Schon kurz nach der Machtergreifung im Jahre 1933 war damit begonnen worden, die sogenannte Rassenlehre in alle Lehrpläne der Schulen zu integrieren. Fortan wurde jetzt bereits in den Grundschulen die These der deutschen Herrenrasse und ihrer arischen Überlegenheit in die Köpfe der Kinder eingepflanzt. Es dauerte nicht allzu lange, bis bei vielen Deutschen auch die letzten moralischen Dämme brachen. Eines der großen europäischen Kulturvölker wurde auf diesem Weg in kürzester Zeit in die Barbarei zurückgeschleudert. In einem Land, in dem einst ein Goethe und Schiller oder ein Beethoven dichteten und komponierten, wurden nun Synagogen angesteckt und unschuldige Menschen wie Tiere gejagt und umgebracht. Die rechtsstaatliche Sicherheit einer für alle Deutschen gleichsam geltenden Rechtsprechung hatte aufgehört zu existieren. Mord und Freiheitsberaubung, Brandstiftung und Ausgrenzung waren von nun an legitime Mittel, die es dem Staat und seinen Schergen erlaubte, nahezu wahl- und zahllose Verbrechen zu begehen. Viele Täter wussten sehr wohl, was sie taten. Auch Manfred Faust war intelligent genug, um zu erkennen, dass die Judenpolitik Deutschlands immer, mehr einem brutalen Vernichtungsfeldzug glich. Tief in seinem Inneren ahnte er, dass dem nationalsozialistischen Deutschland nur eine begrenzte Zeit in der Geschichte der Menschheit zur Verfügung stehen würde, um derartige Verbrechen zu begehen. Er wusste all das und wollte dennoch als ein überzeugter Mittäter an diesen Verbrechen teilhaben. Als er am Ende des Jahres 1937 endlich zum Sturmführer befördert wurde, erhielt er gleichzeitig seine Versetzungspapiere zum Sicherheitsdienst (SD) der SS nach Berlin. Neidisch blickte er auf die Marschbefehle seiner Kameraden mit denen er teilweise bereits die NAPOLA -Schulbank in Plön gedrückt hatte. Ein Kamerad war in eine Kavallerie-Abteilung der Waffen-SS versetzt worden. „Du kommst wenigstens zur Truppe, ich werde in ein langweiliges Büro nach Berlin verbannt! Der Weggefährte, ein blonder Ostpreuße aus Königsberg, der so gut wie nie seinen Humor verlor und immer für einen deftigen Spaß zu haben war, schlug Faust freundschaftlich auf die Schulter: „Mensch Manfred, sei doch froh. Du kommst nach Berlin. Da gibt es jede Menge tolle Frauen und auf dem Kurfürstendamm soll es jeden Abend etwas zu feiern geben. Also, ich wäre froh dahin zu kommen! Die beiden Männer gaben sich zum Abschluss die Hand und trennten sich. „Berlin also! Faust rückte seine schwarze Schirmmütze mit dem Totenkopf zurecht. Dann griff er nach seinem Koffer und machte sich auf den Weg in eine unbestimmte Zukunft. Jetzt würde er endlich zeigen können, was er konnte. Seineneue Dienststelle in Berlin hatte ihm wegen guter Leistungen auf der Junker-Schule zwei Tage Sonderurlaub gewährt. Bevor er dort seinen Dienst beim SD antreten sollte, hatte er also noch einmal die Möglichkeit für einen kurzen Besuch nach Hause zu fahren. In Lübeck angekommen erwartete ihn bereits sein Vater. Der Lübecker Bürgermeister arrangierte eine standesgemäße Ausfahrt in das feudale Casino in Travemünde. Der Lübecker Bürgermeister galt hier seit langem als ein trinkfester Stammgast, dessen Gelage bei den Casino-Angestellten für Furcht und Schrecken sorgten. Bis zum frühen Morgen zechten Vater und Sohn und ließen sich dann anschließend zum Ausnüchtern in eine der riesigen Suiten geleiten. „Morgen geht es nach Berlin!" lallte Manfred Faust, bevor er die Augen schloss und in eine gnädige Ohnmacht fiel.

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    Kessler hatte seine Versetzungspapiere zur Abwehr schneller als erwartet erhalten. Er verabschiedete sich von seinem Kommandeur in Kiel, der ihm alles Gute wünschte und verließ dann ein letztes Mal den Marinestützpunkt. Nach einem Kurzbesuch bei seinen Eltern in Lübeck, machte er sich am nächsten Morgen auf den Weg nach Berlin. Seine Mutter hatte ihn zum Hauptbahnhof begleitet, um ihn dort zu verabschieden. „Pass auf Dich auf mein Junge, Berlin ist nicht Lübeck Kessler musste unwillkürlich lachen und nahm seine Mutter, die gut einen Kopf kleiner war als er selbst, in den Arm und drückte sie sanft an sich heran. „Mutter, ich werde ganz bestimmt aufpassen. Versprochen! Luise Kessler hatte den Kopf in den Nacken gelegt und schaute zu ihrem Sohn herauf. Ihre grünen Augen waren sanft und gütig, und auf ihren geröteten Wangen bildeten sich zwei Grübchen, die immer dann stärker hervortraten, wenn sie vergnügt zu schmunzeln begann. „Schreibe uns oder noch besser rufe uns ab und zu mal an. Du hast doch sicher ein Telefon in deinem neuen Büro? Kessler löste sich zärtlich aus der Umklammerung seiner Mutter und hob seine Reisetasche auf. Dann rückte er seine Schirmmütze zurecht und gab seiner Mutter einen Kuss auf einer ihrer Grübchen. „Ich melde mich sobald ich dazu die Gelegenheit habe, versprochen. Nach diesen Worten drehte sich Kessler um und ging den Bahnsteig herunter. Vor der geöffneten Tür des wartenden Waggons drehte er sich ein letztes Mal um und lächelte seiner Mutter zu, die damit begonnen hatte mit ihrem Taschentuch zu winken. Kessler stieg die Stufen des Waggons herauf und quetschte sich an ein paar anderen Passagieren vorbei, bis er sein Abteil erreicht hatte. „Entschuldigen Sie bitte, aber ich glaube Sie sitzen auf meinem Platz! Auf dem ihm zugewandten mittleren Platz saß eine ältere Frau, die ganz offensichtlich einen Pullover strickte. Neben ihr saß ein junger SS-Offizier, der seinen schwarzen Uniformrock geöffnet hatte und offenbar gerade aufgewacht war. Die Augen des Mannes waren halb geöffnet und blinzelten noch etwas verschlafen. Kessler musterte den Mann kurz und warf dann erneut einen Blick auf seine Fahrkarte. „Oh, mein Fehler. Ich sitze im nächsten Abteil. Entschuldigen Sie die Störung! Höflich nickend machte

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