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Z. wie Zersetzung. Stasi und andere Verbrechen
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eBook297 Seiten3 Stunden

Z. wie Zersetzung. Stasi und andere Verbrechen

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Über dieses E-Book

„Mit der Z. (operative Zersetzung) wird durch verschiedene politisch-operative Aktivitäten Einfluß auf feindlich-negative Personen, insbesondere auf ihre feindlich-negativen Einstellungen und Überzeugungen in der weise genommen, daß diese erschüttert und allmählich verändert werden bzw. widersprüche sowie differenzen zwischen feindlich-negativen Kräften hervorgerufen, ausgenutzt oder verstärkt werden. Ziel der Z. ist die Zersplitterung, Lähmung, desorganisierung und isolierung feindlich-negativer Kräfte, um dadurch feindlich-negative Handlungen einschließlich deren Auswirkungen vorbeugend zu verhindern, wesentlich einzuschränken oder gänzlich zu unterbinden bzw. eine differenzierte politisch-ideologische rückgewinnung zu ermöglichen. die politische Brisanz der Z. stellt hohe Anforderungen hinsichtlich der wahrung der Konspiration.“ Ministerum für Staatssicherheit: Wörterbuch zur politisch-operativen Arbeit, Stichwort „Zersetzung“
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Ludwig
Erscheinungsdatum10. Dez. 2020
ISBN9783869353982
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    Buchvorschau

    Z. wie Zersetzung. Stasi und andere Verbrechen - Ludwig P. Fromm

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

    Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig.

    Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,

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    © 2020 Verlag Ludwig

    Holtenauer Straße 141

    24118 Kiel

    Tel.: 0431-85464

    Fax: 0431-8058305

    info@verlag-ludwig.de

    www.verlag-ludwig.de

    Alle Grafiken/Illustrationen © Ludwig P. Fromm

    E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH

    ISBN 978-3-86935-398-2

    Auch als Print-Book erhältlich:

    ISBN 978-3-86935-387-6

    Inhalt

    Vorwort

    Grenzsprung

    Kleiner Grenzverkehr

    Reiseunterbrechung

    Berlin (West)

    Vorwort

    Dreiundzwanzig Jahre habe ich in der DDR gelebt. Die ersten dreiundzwanzig Jahre meines Lebens. Als Siebzigjähriger schaue ich zurück. Nicht, um eine Biographie zu verfassen; das ist nicht das Thema dieses Buchs. Das Selbst des Erzählers bleibt verborgen, ist nicht Ziel, sondern Hintergrund. Als nicht zu exemplifizierende Struktur bestimmen Erfahrungen aber das Erzählen, das weder der Selbstfindung noch biografischer Selbstdarstellung verpflichtet ist. Mosaikhaft gruppierte Befindlichkeiten und ihre situative Einbettung sind der Erzählstoff. Das befreit vom Zwang historischer Kontinuität und faktischer Kohärenz und ermöglicht einen Selbstbezug der Erzählung in episodenhaftem Aufbau.

    Der Autor versteht sich als Archivar von Gefühlswelten. Leben und Erleben sind an Raum und Zeit gebunden. Diese lassen sich situativ beschreiben und bilden das Medium emotionaler Realitäten. Erzählte Gefühle in einem erkennbaren Situationszusammenhang lassen sich an den historisch geführten Diskurs anschließen; sie wollen und können ihn aber nicht ersetzen. Jenseits statistischer oder systemtheoretisch orientierter Zeitbetrachtung, die nur Handlungen, aber nicht die Verfasstheit der Handelnden kennt, können erzählte Gefühle in ihrer situationsbezogenen Einbettung den Bogen zum menschlichen Erleben schlagen und die Grundlage für eine Art emotionaler Klimabestimmung in historischen Räumen bilden.

    Die Erinnerungen an Fluchtversuch, Verhaftung, Prozess, Verurteilung, Haft und Entlassung nach Berlin (West) generieren heute, siebenundvierzig Jahre später, einzelne Bilder; eine Folge von Szenen, deren Eigenständigkeit die Konstruktion einer zusammenhängende Erzählung aber nicht zulässt. Je nach Art der Annäherung – in einem Gespräch, während einer Befragung oder in nächtlicher Einsamkeit – werden unterschiedliche Erinnerungscluster abgerufen, die Stimmungsmuster ganz eigentümlicher Art und Intensität erzeugen. Erinnerte Situationen sind das Gerüst für die Charakteristik, Platzierung und Wertung von Gefühlen. Ihre Struktur – und nur diese – garantiert die einzuhaltende Nähe zwischen dem Erleben aktueller Ereignisse und der zeitversetzten Reproduktion ihrer Stimmungsmomente; wohlwissend, dass Verzweiflung wie Freude nur in ihrer örtlichen und zeitlichen Situation den Anspruch an Realität erfüllen. In der Erinnerung mischt sich das entstehende Bild mit den Farben des gegenwärtig Erlebten. Erst in wiederholter Begegnung werden Gefühle erzählbar.

    Der vorliegende Band versammelt vier unterschiedliche Texte. Hinter dem Titel Grenzsprung verbirgt sich eine Phantasie über ein skurriles, aus heutiger Sicht aber durchaus mögliches Geschehen. Keine Traumbilder oder Fiebervisionen stellten die Vorlage bereit. Tatsächlich war die Idee aus den sich langsam verschärfenden Konturen des real existierenden Wahnsinns zweier deutscher Staaten leicht ableitbar. Die bereits 1986 – im Jahr der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl – geschriebene Episode kann trotz der rätselhaften Ereignisse getrost als eine wahre Geschichte gelesen und verstanden werden.

    Auch Kleiner Grenzverkehr ist eine fiktive Geschichte mit Wahrheitsanspruch. Alle aufgeschriebenen Ereignisse haben stattgefunden. Das gilt auch für den Ost-West-Handel von Gemüse im Schatten der Tschernobyl-Wolke. Fiktiv hingegen sind Reihung und Bedeutung der geschilderten Ereignisse. Die Handlung von Kleiner Grenzverkehr verschränkt sich mit den Erzählsträngen der beiden nachfolgenden Geschichten Reiseverzögerung und Berlin (West). Zusammen bilden sie eine Art Clustertext, der über einen Zeitraum von mehr als dreißig Jahren unter verschiedenen Blickwinkeln über das reale Leben in und mit der DDR Auskunft erteilt.

    Kiel, im März 2020

    Ludwig P. Fromm

    Grenzsprung

    Eine Grenze – Lehnwort aus dem Altpolnischen, vgl. altslawisch, (alt-)polnisch: granica, »Grenze« – ist der Rand eines mathematischen, geometrischen, sozialen, kulturellen und in historischer Zeit bestehenden Raumes.

    Was Sie wissen sollten

    Diese Geschichte wurde 1986 geschrieben. Es war das Jahr der Nuklearkatastrophe in Tschernobyl.

    Im Frühjahr machte ich eine Grenzlandtour mit dem Fahrrad. In fast drei Wochen – wir hatten eine Zwangspause im Büro – fuhr ich von Witzenhausen an der Werra bis Fladungen, also von Hessen nach Bayern, immer möglichst dicht an der deutsch-deutschen Grenze entlang. Das bedeutete, kleinste Straßen, Wald- und Feldwege, aber auch Felder und Wiesen zu nutzen, um an ausgesuchten Orten ganz dicht an die Grenzanlagen heranzukommen. Kuriose Bilder belohnten die Anstrengungen.

    In einem Dorfgasthof – ich aß dort eine Linsensuppe zum Mittag – lief ein über dem Tresen befestigter Fernsehapparat. Neueste Meldungen wurden verlesen, die ich nicht weiter beachtete. Erst ein mehrfach genannter Ortsname, für mich damals ein russischer, erregte meine Aufmerksamkeit. Ein seltsames Szenarium wurde präsentiert. Irgendein Atommeiler hatte eine Havarie. Gott sei Dank weit weg, dachte ich. Und völlig unpassend fiel mir eine russische Redewendung ein: Russland ist groß und der Zar weit. Dieser Unfall würde mich jedenfalls nicht betreffen. Ich zahlte und schwang mich auf mein Fahrrad. Die Grenze rief.

    Zwei oder drei Tage später las ich in einem anderen Dorfgasthof die dort ausliegende Regionalzeitung. Von einer atomar verseuchten Staubwolke war die Rede, blieb aber für den Moment von mir unbeachtet. Stunden nach der Lektüre, wieder zurück auf meinem Grenzgang, wurde mir mit Blick auf einen Wachturm – warum es gerade ein Wachturm war, weiß ich nicht mehr – meine verrückte, ja schizophrene, wenn man will, begrenzte Situation schlagartig klar. Plötzlich sah ich mich in einem Raum zwischen den Dingen. Grenzen lösten sich auf. Schufen neue Gebilde, neue Barrieren. Ein Atomreaktor hatte seine Form verloren. Er konnte seinen tödlichen Inhalt nicht mehr verwahren, und der vagabundierte nun, alle Grenzen negierend, im Raum.

    Vor mir fräste sich ein Grenzbauwerk in die Natur, scheinbar unvergänglich und unverzichtbar. Aber auch Grenzen haben ihre Geschichte, sind an die Zeit gebunden, erscheinen endlich.

    An diesem Tag war mir ein Ort nördlich von Bad Sooden-Allendorf aufgefallen. Dort bildet der Fluss einen kleinen Bogen, an dessen östlicher Seite der Ort Kleinwahlhausen liegt. Dessen Besonderheit ist seine Lage, die mich auch jetzt, im Moment der Erinnerung, immer noch auf eigenartige Weise berührt. An Flüssen gelegene Orte haben für gewöhnlich Brücken, die sie mit dem Umland auch über das trennende Wasser hinaus verbinden. Die Werra ist ja schließlich nicht der Rhein. Doch hier gab es keine Brücke, keinen Weg auf die andere Seite. Die Werra hatte hier schon immer den Charakter eines Grenzflusses. »Kleinwahlhausen«. Plötzlich begann der Name zu sprechen, auf seinen Ursprung zu verweisen, sich als einen Flecken Heimat, als einen Wohnort der Wahl anzubieten. Seine Vorsilbe, die Verkleinerungsform, verniedlicht, macht sympathisch. Was sich mir unmittelbar aufdrängte, was ich dann sah, was mir der Blick auf Kleinwahlhausen freigab, war kein Traum, auch keine Vision, es waren die sich langsam verschärfenden Konturen des real existierenden Wahnsinns deutsch-deutscher Realität, zu einer Zeit, als das inzwischen vereinigte Deutschland noch ein Zwei-Deutschland war.

    Früher Morgen

    Rechts und links der Zonen – respektive der Staatsgrenze West – herrschte Unruhe, die sich schleichend in Panik verwandelte. Politiker, Funktionäre, Beamte, Kollegen wie Genossen hatten schon lange vor dem Mittagessen die immer frisch gebügelten Oberhemden komplett durchgeschwitzt.

    Telefonanlagen von Ministerien, Landtagen, Bezirks- und Kreisräten brachen immer wieder zusammen. Überall Verwirrung, trotz oder besser wegen der alles überrollenden Flut von Informationen aus Kleinwahlhausen. Doch niemand gab Auskunft, weder im Osten, noch im Westen. Einigendes Schweigen beherrschte die Szenerie. Die Situation wurde gemeinschaftlich als ernst eingestuft und das gleichlautend von Autoritäten in beiden Hälften Deutschlands.

    Und für das auferlegte Schweigen bedurfte es in dieser Situation keiner Absprachen, keiner hochrangig besetzten Konferenzen, auf denen gewöhnlich die besonderen Sprachregelungen zwischen Ost und West gefunden werden. Den immer Witzigen war ihr Grinsen zur Grimasse erstarrt, Pessimisten hingegen sahen sich am Vorabend eines Dritten Weltkriegs.

    Der Morgen davor

    Es dämmerte gerade, als Bauer Kirchberg seinen Traktor anwarf. Er wollte in die Kreisstadt, zwei Schweine abliefern. Schon seit Tagen hätte er fahren müssen. Die Kühe brauchten dringend Futter. Das bekam er von der LPG, der »Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft«, für sein »Deputat«, die abgelieferten Tiere.

    Gerade, als er die Dorfstraße verlassen wollte, die in einem leichten Schwung in eine Pappelallee einmündet, kam ihm ein Mopedfahrer entgegen, bremste scharf, zeigte in Richtung Pappelallee, aber auch in alle anderen Richtungen, redete viel zu schnell und viel zu laut Unverständliches. Dann raste er wieder los, hinunter ins Dorf.

    Das war doch der Kunkel, dieser Saisonarbeiter. Der auf’ Zuckerfabrik malocht, schoss es Kirchberg durch den Kopf. Ja, an Werktagen war Kunkel gewöhnlich der Erste, der das Dorf verließ. Sie fingen früh an, in der Zuckerfabrik, und mit der »Schwalbe« brauchte er gut eine halbe Stunde bis in die Stadt. Dem Bauer Kirchberg war in Folge des plötzlichen Bremsmanövers der Motor seines Treckers abgesoffen. Ärgerlich startete er ihn neu. Was der Kunkel wohl wollte? Viel hatte der Bauer nicht verstanden! Also los, er hatte schon genug Zeit verloren. Noch immer kopfschüttelnd, auch das Wenige schon vergessend, musste er wieder ganz plötzlich bremsen – und auch diesmal soff ihm der Traktor ab!

    Saisonarbeiter Kunkel war inzwischen im Dorf angekommen. Eilig und zielstrebig steuerte er auf eines der beiden Einfamilienhäuser zu, das, noch unverputzt, neben der Schule stand. Den Georg wollte er sprechen. Und das um diese Zeit! Er klopfte. Fast hätte es die Tür gekostet. Doch dann kam Georg. Öffnete die von Faustschlägen noch dröhnende Haustür, zog sich die grüne Uniformhose zurecht, knöpfte umständlich ihren Bund zu. Jetzt wollte er aber Erklärungen. Kunkel gestikulierte, redete, nein, schrie, blieb unverstanden.

    Georg Neureuter, der in Kleinwahlhausen für Recht und Ordnung zuständig war, hatte sich nach seiner Armeezeit bei der Polizei gemeldet. Jetzt war er war der »Abschnittsbevollmächtigte« seines Heimatdorfes und stolz, wenn die Dörfler ihn den »ABV-Georg« nannten. Dann war er Vertreter der Staatsmacht, wie in diesem Moment, in dem er ein Nervenbündel dazu bringen musste, eine verständliche Aussage zu machen.

    »Heinz, mal langsam, ich verstehe kein Wort.«

    Heinz war rot angelaufen, Schweiß stand auf seiner Stirn. Er starrte seinem Gegenüber in die Augen. Blieb einen Moment lang regungslos. Er dachte nach.

    »Die haben uns abgesperrt«, sagte er dann langsam, fast emotionslos und wartete.

    »Wer hat uns abgesperrt?«, wollte Neureuter wissen.

    »Weiß ich auch nicht.«

    »Was, was abgesperrt?«

    Neureuter war jetzt ganz Polizist. Er trat einen Schritt vor, fasste Kunkel bei den Schultern und wiederholte seine Frage: »Kunkel, was haben die abgesperrt?«

    »Die Straße nach Weilhausen.« Kunkel wirkte niedergeschlagen.

    »Eine Baustelle?«, fragte ihn der ABV.

    »Nein, keine Baustelle, die Fünf-Kilometer-Zone haben sie dicht gemacht.« Kunkel flüsterte, als ob er Geheimnisse ausplaudern würde. Neureuter blieb skeptisch.

    »Quatsch, das wüsste ich. Komm! Ich will mir das selbst ansehen.«

    Als sie die Biege passierten und in die Pappelallee einbogen, stießen sie auf Bauer Kirchberg. Auf seinem Traktor sitzend, starrte er vor sich hin. Sein rechter Fuß drückte immer noch das Bremspedal durch. Eines der Bremslichter leuchtete schwach.

    Das Unglaubliche

    Etwa zeitgleich mit diesen Ereignissen war in der Grenzkompanie Ernst Thälmann Wachablösung. Die Posten von den Türmen und aus den Erdbunkern wurden ausgetauscht und Meldungen gemacht; ins Wachbuch die Worte Keine besonderen Vorkommnisse notiert.

    Nur der Posten V aus dem Grenzabschnitt B/24/3, der in dieser Nacht allein Dienst in einem Erdbunker hatte, meldete sich krank. Kurz nach Mitternacht hatte er Schwindelanfälle gehabt und erbrechen müssen, fühlte sich immer noch schwach. Ein Oberfeldwebel wurde beauftragt, den Unterfeldwebel Großmann, so hieß der kranke Grenzschützer, zu beobachten und, wenn nötig, in die Poliklinik der Kreisstadt zu begleiten. Sonst war alles wie an jedem Morgen.

    Beim OVD, dem Offizier vom Dienst, klingelte das Telefon. Er nahm den Hörer ab. Aus der Ohrmuschel schrie ihm Major Bräutigam entgegen. Der OVD stand auf, nahm Haltung an.

    »Morgen, Genosse Bräu... jawohl, Genosse Bräutigam … kümmere mich sofort … wird sich aufklären … Rufe dann sofort zurück … jawohl, Genosse Bräutigam.«

    Der OVD setzte sich wieder. In Gedanken gab er sich den Befehl Rührt euch, atmete tief durch und legte bedächtig den Hörer auf.

    »Scheiße«, hörte er sich sagen. Im Nachklang dieses unerwarteten Verbalbeschusses brachte das durchaus Erleichterung. Er hatte den Begriff ausatmend, erweiternd ausgesprochen. Es war der Ton, die unpersönliche Kürze, mit der Bräutigam ihn informiert, ihm befohlen und ihn gleichzeitig verurteilt hatte.

    »Scheiße«, wiederholte er, diesmal leise und nur zu sich selbst.

    Dann, zur offenen Tür gewandt, gab er im Befehlston eine kurze und präzise Anordnung.

    »Genosse Stühler, lassen Sie einen Wagen kommen, sofort, ich muß zum Grenzabschnitt B/ 24/3.«

    Ein Trabant Kübel fuhr vor, der OVD stieg ein, nach seinem Befehl fuhr der Fahrer zum gewünschten Grenzabschnitt. Der Wagen verließ das Areal der Kompanie, passierte Posten und Schlagbäume, erreichte die Staatsgrenze West. Folgte ihr ein paar hundert Meter, bog dann ab und fuhr, jetzt im Wald auf einem Forstweg in Richtung der alten Landstraße, die, hält man sich rechts, direkt nach Kleinwahlhausen führt. Auf den letzten zweihundert Metern ist die Straße eine Pappelallee. Ihre Bäume sollen durch Napoleons Soldaten gepflanzt worden sein. Aber so genau wusste das keiner mehr. Noch einen Hügel, dann würde das Dorf zu sehen sein …

    »Was soll denn das da unten?«, wollte der OVD wissen.

    Auf der Pappelallee nach Wahlhausen standen der Schulbus, ein Milchauto, ein Lieferwagen der Großbäckerei und zwei PKW. Einer davon, ein Trabant, gehörte der Erzieherin Frau Grohte, die erst seit kurzem in der Kita in Kleinwahlhausen arbeitete und am Monatsende endlich auch dort wohnen würde. Der Wartburg war der Dienstwagen vom Veterinär, dem »Leiter der staatlichen Tierarztpraxis Kleinwahlhausen«. Auf ihn wartete eine Nachgeburt. Aber das wusste er in diesen frühen Morgenstunden noch nicht.

    Männer und eine Frau standen auf der Straße und diskutierten. Als sich der Trabant von Kübel der Gruppe näherte, rannte einer der Männer ihm entgegen.

    »Genosse Oberleutnant, Genosse Oberleutnant, … die Grenzanlagen …!«

    Oberleutnant Karl-Heinz Reitner war ein Altgedienter. Es kostete ihn Mühe, sich an die Zeit ›davor‹ zu erinnern – vor seiner Entscheidung Soldat der Nationalen Volksarmee, der NVA, zu werden. Vielleicht wollte er es nicht, vielleicht konnte er es auch nicht mehr. Deutlich älter als seine Klassenkameraden, hatte er die Schule nach der 8. Klasse verlassen und umgehend Arbeit in einer Fabrik gefunden. Seine Aufgabe bestand darin, Rohlinge an Drehbänke und Fräsmaschinen der Facharbeiter zu bringen und die bearbeiteten Teile von dort zur Auslieferung zu transportieren. Gefallen hatte ihm diese Arbeit nie. Als er endlich achtzehn und damit volljährig war, stellte er sich bei seinem zuständigen Wehrkreiskommando vor. Als er es nach gut zwei Stunden verließ, hatte er sich freiwillig verpflichtet, zehn Jahre Dienst bei der NVA zu leisten. Diese Zeit sollte die wichtigste in seinem Leben werden. Er fand einen Platz in der Welt und lernte viel. Später, als er zu den Grenztruppen verlegt wurde, wollte er das schützen, was ihm über alles ging: seine Heimat, die Deutsche Demokratische Republik und die Errungenschaften des Sozialismus.

    Und nun, an diesem verfluchten Morgen, stand er hier an seiner Grenze und glaubte, versagt zu haben. Das da unten betraf ihn direkt. Er spürte es genau. Die Grenze, er sah es mit eigenen Augen, hatte einen Sprung gemacht. Nur, auch das war ihm klar, Grenzen springen nicht. Aber es war geschehen, etwas war geschehen, das er hätte verhindern müssen.

    »Genosse, Genosse ...«

    Die Umstehenden meinten ihn. Jetzt erst bemerkte er die Ungeduldigen. Natürlich wollten sie wissen, was geschehen war. Was das sein sollte, was sie da vor sich sahen. Und er musste es doch wissen.

    »Ja, ja ... nein!«

    Er wusste gar nichts. Zurück, zurück. Er wollte nur zurück in die Garnison. Er gab die nötigen Befehle. In der Garnison würde sich alles klären und aufklären lassen. Dort erwartete man ihn schon. Ein Major mit Befehlen von »ganz oben« forderte zum Besteigen eines Hubschraubers auf. Ein Aufklärungsflug sollte Sicherheit bringen. Die Motoren liefen schon. Mit den Anderen, alle waren sie höhere Offiziere, bestieg er wie befohlen die Flugmaschine. Sie hoben ab. Grenzabschnitt B/ 24/3! Karten und ältere Luftbilder wurden zu Rate gezogen, mit der Geographie verglichen. Das Ergebnis war so eindeutig wie unverständlich. Der Verlauf eines ganzen Abschnitts der Staatsgrenze West hatte sich über Nacht und offensichtlich unbemerkt geändert. Von Norden nach Süden verlief die Grenze in gerader Linie auf Kleinwahlhausen zu. So, als wollte sie das Dorf durchteilen. Doch kurz, bevor sie auf das Dorf treffen würde, knickte die Linie ab, umschloss das Dorf auf der westlichen Seite, ein leicht deformiertes »U« bildend. So jedenfalls war es noch vor einem Tag gewesen. Jetzt wirkten die Grenzanlagen wie das Spiegelbild ihrer früheren Existenz. Die beiden Wachtürme nördlich und südlich vom Dorf standen unbeirrt, am Anfang und Ende des gespiegelten »U«. Aber auch sie hatten sich um viele Meter bewegt. Was bei den Türmen schon nicht erklärbar war (wie kann ein Bauwerk dieser Größe in einer Nacht, um mehr als hundert Meter bewegt werden, ohne von der diensthabenden Wachmannschaft bemerkt zu werden?), wirkte mit Blick auf den Erdbunker schlicht unmöglich.

    Fest eingebunden in das mehrschichtige Grenzsystem, hatte sich der Bunker um zirka tausend Meter Richtung Osten zurückgezogen. Genauso unvorstellbar, jeder Logik entbehrend, präsentierte sich der Grenzverlauf zwischen den Türmen … Wie eine unter Spannung stehende Beule in einer Wagenkarosserie, die schon durch leichten Daumendruck von Innen nach Außen springt, war die Staatsgrenze West um eine imaginäre Achse rotiert und hatte Kleinwahlhausen dem politischen Gegner ausgeliefert.

    Im Hubschrauber wurden keine Meinungen geäußert. Nur ein Bericht wurde verfasst. Er sollte sachlich sein, lediglich Fakten benennen und ging nach der Landung sofort den entsprechenden Dienststellen zu.

    Verwirrung

    In Georg Neureuters Wohnzimmer drohte die Stimmung zu explodieren. Neureuter, umringt von Bauern, versuchte zum x-ten Male, den Genossen Bräutigam und damit den Vorsitzenden des Rat-des-Kreises ans Telefon zu bekommen. Doch in seinem Vorzimmer fand sich keiner, der eine Verbindung herstellen wollte.

    »Haben Sie doch Geduld, Genosse. Der Genosse Bräutigam meldet sich bei ihnen, wenn er mehr weiß.«

    Wieder abgewimmelt. Geduld hatten die Bauern nicht mehr, sie wollten alles wissen, ausführlich und sofort. Drei Kinder, noch die Schulranzen auf den Rücken, drängten mit Neuigkeiten in die Mitte vor. Sie wollten dem ABV Wichtiges mitteilen.

    »Seid doch mal still«, rief eine Bäuerin in die Runde, »die Kinder wollen uns was sagen.«

    Plötzlich im Mittelpunkt, schrien die Erstklässler fast gleichzeitig: »Die Grenze ist weg!«

    Dann herrschte Ruhe. »Die Grenze ist weg? Was soll das jetzt wieder«, fragte ein Aufgeregter aus der hinteren Reihe.

    Die Kinder wurden befragt, waren unsicher, spürten die Spannung im Raum. Sie antworteten umständlich, für viele zu langsam.

    »Ja doch, die Grenze hinter dem Fußballplatz, sie ist einfach weg.«

    »Das will ich sehen!«

    Erste rannten raus, der Rest folgte. Georg Neureuter griff instinktiv nach seiner Mütze, knöpfte seine Jacke zu, die Kleiderordnung beruhigte ihn. In der Uniform fühlte er sich sicherer. Das ganze Dorf war auf den Beinen. Auf dem Fußballplatz stand eine Gruppe Diskutanten dicht gedrängt. Georg Neureuter zwängte sich durch die Reihen. Ganz vorn, mit Blick nach Westen, sah auch er es, als ein Hubschrauber ohne wahrgenommen zu werden, die Gruppe überflog.

    Das vertraute Bild hatte Fehler. Da, wo noch gestern, hinter der Grenzanlage die BRD begann, standen zwei Autos. Das eine grün, das andere grau. Das grüne trug die Zeichen des Bundesgrenzschutzes, das graue die Signets der Zollbehörde der BRD. Eigentlich ein gewohnter Anblick. Nur, früher standen sie hinter etwas, hinter einem Zaun, eine Begegnung war ausgeschlossen.

    Die Besatzungen beider Fahrzeuge waren ausgestiegen. Sie schwiegen. Waren angespannt, wie die Bauern es auch waren. Wie gebannt starrten sie auf die Bürger von Kleinwahlhausen und suchten gleichzeitig die Grenzanlagen. Jeden Tag dreimal standen dort oben Autos. Dreimal täglich Routine. Sie kannten sich längs, die von da oben und die aus dem Dorf. Unzählige Male hatten sie sich gegenseitig mit Feldstechern bestarrt. Viele von ihnen würden sich in anderen Situationen wiedererkennen, auf der Straße, in einem Wirtshaus, eben bei zufälligen Begegnungen. In all den Jahren waren sie sich vertraut

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