Südtiroler Zeitreisen: Erzählungen
Von Ulrich Ladurner
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Über dieses E-Book
In einer geistreichen Auseinandersetzung mit der Geschichte, Gegenwart und Zukunft Südtirols geht der ZEIT-Journalist Ulrich Ladurner diesen Fragen nach. Aus acht unterhaltsamen Episoden fügt er ein vielschichtiges, aufschlussreiches und oft auch provokantes Bild des Lebens in Südtirol zusammen.
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Buchvorschau
Südtiroler Zeitreisen - Ulrich Ladurner
Titel
Ulrich Ladurner
Südtiroler
Zeitreisen
Erzählungen
Widmung
für meine Eltern Peter und Elisabeth
für meine Kinder Lilli und Julius
Vorwort
Noch ein Buch über Südtirol? Gibt es denn nicht schon genug davon?! Ja, es gibt mehr als genug. Die Regale in den Buchhandlungen biegen sich unter dem Gewicht südtirolerischer Nabelschau. Jeder Autor sollte deshalb ein Gelübde ablegen: Für die nächsten zehn Jahre wird er keine Buchzeile mehr über Südtirol schreiben. Denn die Welt ist groß, sehr groß. Sie braucht Südtirol nicht. Und sie braucht schon gar nicht noch ein Buch über Südtirol.
Ich weiß das alles. Und ich stimme dem zu. Darum habe ich kein Buch über Südtirol geschrieben, auch wenn es der Titel behauptet. Es ist dies ein Buch über einen kleinen, paradiesisch schönen Landstrich, der seinen aktuellen Namen aufgrund verschiedener historischer Zufälligkeiten verpasst bekommen hat. Obwohl Südtirol die korrekte Bezeichnung ist, lenkt sie vom Eigentlichen ab: Wenn von Südtirol die Rede ist, dann sprechen wir von der Welt als Ganzer.
Die Südtiroler verstehen das auf Anhieb. Sie sind von der weltgeschichtlichen Bedeutung ihrer Heimat ohnehin überzeugt. Man bringt ihnen von Kindesbeinen an bei, sich wichtig zu nehmen. Darüber lässt sich leicht spotten. Denn ein Blick in den Atlas genügt. Ein winziger Fleck ist dieses Südtirol, mehr nicht. Doch entgegen aller Gewissheit halten die Südtiroler an ihrem Glauben fest, dass sich zwischen Brenner und Salurn alles Wesentliche abspielt. Hier also soll sich die ganze Welt spiegeln?!
Um auf diese Frage eine Antwort zu finden, habe ich eine Reise durch Raum und Zeit unternommen. Sie führte mich von Toblach im Jahre 1905 über Graun nach Kiens und in das Städtchen Meran des Jahres 1985. Ich flog weiter durch die Zeit, der Zukunft entgegen. Bis ins Jahr 2025 begab ich mich, um zu verstehen, was es mit der Welthaltigkeit Südtirols auf sich hat.
Das Ergebnis, zu dem ich gekommen bin, ist so einfach wie verblüffend: Die Südtiroler haben Recht! Ihre Heimat ist eine Kapsel für alles. Sozialismus, Christentum, Faschismus, Demokratie, Monarchie, Turbokapitalismus – nennen Sie, was Sie wollen. Südtirol kennt alle vormodernen, modernen und postmodernen Erscheinungen. Es ist darum, ganz zu Recht, zu einem Lebensprojekt geworden. Selbst ich, der glaubte, es zu kennen, war überrascht von dem vorgefundenen Reichtum.
Von Südtirol lernen heißt also über die Welt lernen – wie sie war, wie sie ist und wie sie sein wird. Darum ist dieses Buch erschienen.
Toblach, 1905
Franz Hanuschek hätte nie geglaubt, dass es ihn, der 1860 im fernen galizischen Lemberg geboren wurde, eines Tages nach Toblach ins Tiroler Pustertal verschlagen würde. Dabei hatte es doch eine gewisse Logik, dass es so kam. Hanuschek war nämlich Eisenbahner aus Leidenschaft und Überzeugung. Eisenbahner, so glaubte er, sind die Pioniere des Fortschritts. Wenn es darum ging, auf bisher unerschlossenes Gelände vorzudringen, war Hanuschek immer dabei. Gelegenheiten dazu hatte er reichlich, denn gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstanden viele neue Bahnlinien. Die kaiserliche Regierung war damit beschäftigt, das bröckelnde Riesenreich zusammenzuhalten, und die Eisenbahnlinien waren die Nähte, die ein Auseinanderbrechen verhindern sollten. Eröffnete die k. u. k. Bahn in einem fernen Winkel des Reiches einen neuen Bahnhof, bewarb Hanuschek sich sofort. Er konnte es gar nicht erwarten, in der Einöde seinen Dienst zu tun. Er wollte, wie er seiner Frau sagte, mit der Fackel der Aufklärung die Dunkelheit ausleuchten. Sie konnte darüber nur bitter lächeln, denn die Arbeit mit dem Umzug blieb meist an ihr hängen, während er vorausfuhr, um die Lage zu erkunden. Das Kriterium bestand dabei nicht darin, ob die neue Destination für die Familie ein geeigneter Ort zum Leben war, sondern ob sie einer war, an dem sich sozialdemokratisches Gedankengut verbreiten ließe. Die Bahndirektion gab Hanuscheks Ansuchen ohne Umschweife statt. Sie schickte ihn sogar mit Freude in gottverlassene Gegenden, denn sie wusste um seine politischen Überzeugungen. Hanuschek war Sozialdemokrat. Das hinderte ihn freilich nicht, an den Geburtstagen des Kaisers seine beste Uniform anzuziehen. Aus Respekt, wie er zu Genossen sagte, die sich über dieses Ritual mokierten. Mochte Hanuschek auch von einer anderen, einer gerechteren Gesellschaft träumen, so war er im Innersten seines Herzens kaisertreu. Zugegeben hätte er das freilich nie.
Die kaiserliche Polizei hatte keinen Sinn für solche Feinheiten und ließ Hanuschek observieren. Wann immer er eine neue Stelle antrat, informierte man auch die lokalen Behörden, dass an dem betreffenden Bahnhof ein Sozialdemokrat mit umstürzlerischen Neigungen seinen Dienst antrat. Man bat, entsprechende Vorkehrungen zu treffen. Von dieser Nachricht aufgeschreckt stellten die Behörden meist einen Polizisten ab, um Hanuschek zu überwachen.
In Toblach fiel diese Aufgabe dem verdienten Wachtmeister Franz Kastlhuber zu. Kastlhuber war ein jovialer Mensch, der es mit dem Gesetz nicht sehr genau nahm und daher bei den Bewohnern von Toblach sehr beliebt war. Denn im Dorf widmeten sich viele ab und zu der einen oder anderen Tätigkeit, die man mit strengen Augen durchaus als gesetzesbrecherisch hätte bezeichnen können, mal war es der Schmuggel, mal die Wilderei, mal der Ehebruch. Doch Kastlhuber sah die Welt nicht mit Strenge, sondern mit einer ihm angeborenen Nachsicht. Man müsse, sagte er immer, dankbar dafür sein, auf dieser wunderbaren Welt leben zu können. Wenn Gott streng wäre, fuhr er fort, hätte er den meisten von uns das Geschenk des Lebens erst gar nicht gemacht. Wir wären nicht geboren worden. Warum sollte Kastlhuber strenger sein als Gott? Das war ihm nicht beizubringen. Seinen Beruf hat er trotzdem ernst genommen. Er sah sich als Hüter des Gesetzes, wobei seine Vorstellung von Recht und Ordnung weniger von den Paragraphen als von den unerwarteten Wechselfällen des Lebens geprägt war, die jeden treffen konnten, auch den Unschuldigsten.
Als Kastlhuber im Winter 1905 den Auftrag bekam, einen Sozialdemokraten namens Franz Hanuschek zu überwachen, der seinen Dienst als Bahnhofsvorsteher von Toblach angetreten hatte, ließ er sich von seiner Frau die Paradeuniform bringen. Er prüfte jeden Knopf und jede Naht, dann trimmte er seinen Schnurrbart auf Hochglanz, schlüpfte in die blank gewichsten Stiefel und ging schnurstracks zu dem rund 500 Meter vom Dorfkern entfernten Bahnhof in Neutoblach. Diese kleine Kolonie aus Villen und Hotels war in den späten neunziger Jahren rund um das Grand Hotel Toblach entstanden. Risikofreudige Unternehmer hatten lauter große Hotels mit hunderten von Betten errichtet und Toblach zu einem der größten Fremdenverkehrsorte im Alpenraum ausgebaut. Kastlhuber selbst fand das weder gut noch schlecht, doch gab es Toblacher, die sich angesichts der in die Höhe schießenden Hotels Sorgen um das Schicksal ihrer Heimat machten. Er war dabei, als sich die Mitglieder des Heimatschutzvereins vor fünf Jahren im Gasthaus zum Schwarzen Adler trafen, um darüber zu beraten, was man gegen Neutoblach unternehmen könne. Kastlhuber war zu dieser Versammlung abkommandiert worden. Ein Aufruhr war nicht zu befürchten gewesen. Trotzdem ging es hoch her. Es fielen Worte über die Behörden, die einen weniger toleranten Wachtmeister zum Einschreiten gebracht hätten. Doch Kastlhuber kannte seine Leute. Sie erhitzten sich leicht, waren im Grunde ihres Herzens aber äußerst vorsichtige Charaktere. Tatsächlich einigten sich die Heimatschützer bei dieser Versammlung darauf, einen Brief zu schreiben. Er wurde noch an Ort und Stelle verfasst, laut vorgelesen und danach per Akklamation gut geheißen. In seiner Eigenschaft als Wachtmeister bekam Kastlhuber eine Kopie des Briefes ausgehändigt. Auch darin war nichts Aufrührerisches zu lesen. Unter anderem hatten die Heimatbewegten geschrieben: „Eine Gruppe öder, langweiliger Hotelkästen liegt vor uns. Wohin kommen wir, wenn unsere Landschaft in dieser Weise verunstaltet wird? Gibt es ein besseres Beispiel für die Notwendigkeit einer Heimatschutzbewegung?" Kastlhuber steckte den Brief in seine Brusttasche und übergab ihn am Tag darauf dem Behördenvertreter, damit er den Brief nach Wien schickte. Die Regierung wollte über jede Versammlung, die im Reich abgehalten wurde, genauestens informiert werden. Die Regierenden fühlten sich unsicher und wollten nicht überrascht werden. Kastlhuber fand so viel Vorsicht übertrieben, er hätte es wahrscheinlich anders gemacht. Oder doch nicht?
Auch ich, dachte er, gehe ja grad zu diesem neuen Bahnhofsvorsteher, um mögliche Unruhe schon im Keim zu ersticken. Es war ein klirrend kalter Tag, auf der Straße lag viel Schnee. Kastlhuber stieß dicke Atemwolken aus, und von ferne hätte man die massige Gestalt des Wachtmeisters für ein Bierpferd halten können, das sich mühsam durch den Schnee kämpfte. Er brauchte fast zwanzig Minuten, bis er endlich am Bahnhof war. Kastlhuber war dankbar, als er in das gut geheizte Büro des Bahnhofsvorstehers eintreten konnte. Hanuschek saß an seinem Schreibtisch und studierte die Fahrpläne. Er blickte überrascht auf, als sich die Tür öffnete. Vor ihm stand ein riesenhafter, dampfender Mensch.
„Wachtmeister Kastlhuber!", bellte der Riese.
Bevor Hanuschek antworten konnte, sagte Kastlhuber: „Ich höre, Sie sind Sozialist."
„Ahm, ich ..." Hanuschek blieben die Worte im Hals stecken. Er stand auf und ging um den Schreibtisch herum.
Kastlhuber trat näher. Er überragte Hanuschek um Haupteslänge.
„Ihre politischen Überzeugungen sind Ihre Sache. Da mische ich mich nicht ein. Aber eines dürfen Sie nicht machen: Wiegeln Sie mir die Leute nicht auf! Wenn Sie das tun, werde ich Sie verhaften!" Seine Stimme klang wie ein Donnerhall. Er hob drohend den Zeigefinger und riss die Augen, so weit er konnte, auf. Sein Schnurrbart wippte gefährlich.
„Wollen Sie sich nicht setzen?", sagte Hanuschek, der seine Fassung wieder gefunden hatte.
„Ich sage meiner Frau, sie soll uns Tee zubereiten."
Kastlhuber musterte Hanuschek. Er konnte an diesem Mann nichts Kriminelles erkennen. Und er, davon war er überzeugt, hatte einen sechsten Sinn für Übeltäter.
„Tee?, brummte er, „gerne.
Hanuschek zog dreimal an einer Klingel, dreimal stand für Tee. Dann bot er dem Wachtmeister den bequemsten Stuhl an, den er hatte. Als Hanuscheks Frau nach rund zwanzig Minuten den Tee brachte, waren die beiden Männer so sehr ins Gespräch vertieft, dass sie die Frau nicht einmal bemerkten. Sie unterhielten sich wie alte Bekannte, und nicht wie zwei, die sich erst seit einer halben Stunde kannten. Doch das täuschte, auch wenn sie sich persönlich auf Anhieb recht gut leiden konnten, blieben sie sich spinnefeind.
„Die Bahnlinie ist die Grenze, sagte Kastlhuber mit strenger Miene, „wenn Sie diese Linie überschreiten und zu uns nach Toblach kommen, müssen Sie Ihre politischen Überzeugungen hinter sich lassen.
„Was meinen Sie damit?", fragte Hanuschek mit fester Stimme, die dem Wachtmeister signalisieren sollte, dass sich der Bahnhofsvorsteher nicht so leicht einschüchtern ließ.
„Ich meine, dass Sie willkommen sind, doch dürfen Sie keine politischen Reden schwingen, gar Flugblätter verteilen oder Ähnliches tun!"
„Das habe ich auch nicht vor, Herr Wachtmeister."
„Naja, man kann nie wissen. Und nun muss ich zurück ins Dorf". Kastlhuber erhob sich und streckte den Rücken durch.
„Und was ist mit Neutoblach? Gilt dafür dieselbe Regel?"
Der Wachtmeister setzte sich die Mütze auf, klopfte die Uniformjacke beiläufig ab und antwortete: „Wenn Sie in Neutoblach politisch aktiv werden wollen, dann sind Sie frei, das zu tun. Allerdings, seien Sie dabei diskret, sonst wecken Sie damit nur schlafende Hunde."
Er salutierte und verließ das Büro Hanuscheks.
„Warum nur darf ich in Neutoblach, was ich in Toblach nicht darf?", fragte Hanuschek sich, während er durch das Fenster sah, wie sich der Wachtmeister festen Schrittes den Weg durch den Schnee bahnte.
„Vielleicht ist dieser Wachtmeister einfach nur ein wenig verrückt."
Doch Kastlhuber war nicht verrückt. Indem er Hanuschek eine Sache verbot und ihm gleichzeitig eine andere erlaubte, täuschte er eine Liberalität vor, die in Wirklichkeit gar nicht existierte. Da Hanuschek gerade erst angekommen war, konnte er nicht wissen, dass die Menschen, die nach Neutoblach kamen, sich kaum für sozialistische Ideen interessierten. In ihrer Mehrheit waren es Adlige, Bankiers, Neureiche – Stars und Sternchen der damaligen Zeit. Neutoblach war in diesem Milieu zu Berühmtheit gelangt, nachdem der deutsche Thronfolger Friedrich III. im Spätsommer des Jahres 1887 drei Wochen lang im Grandhotel Urlaub gemacht hatte.
Friedrich III. kam in guter Stimmung an, obwohl er schwer krank war. Die Ärzte hofften, dass der Aufenthalt in der guten Luft des Hochpustertales zur Heilung beitragen könnte. Der Prinz und seine Familie genossen den Urlaub. Seine Gattin schrieb später aus Venedig: „Ich vermisse die Spaziergänge und die reine Luft, die schönen Nadelwälder und die herrliche Umgebung von Toblach sogar hier im entzückenden Venedig." Doch es half alles nichts. Im Herbst 1888 bestieg Friedrich III. den Thron und nach genau 99 Tagen starb er an Kehlkopfkrebs. Diese Geschichte war so ganz nach dem Geschmack der zu heftigen, romantischen Gefühlen neigenden Oberschicht. Neutoblach erlebte einen grandiosen Aufschwung. Es wurde zur Mode, an dem Ort Urlaub zu machen, an dem der Kaiser zum letzten Mal glücklich gewesen war.
Wachtmeister Kastlhuber wusste, dass kein noch so geschickter Propagandist unter diesem Publikum Anhänger hätte finden können. Vielleicht gab es die eine oder andere verwöhnte Prinzessin, die mit der Revolution flirtete, doch das war nichts, wovor man sich in Wien oder sonst wo hätte fürchten müssen. Solch schnell aufgeflammte Leidenschaften waren nicht von Bestand. Sie erstarben meist bevor die betreffende Prinzessin von der Sommerfrische wieder zurück in ihre Heimat fuhr.
Es dauerte ein paar Wochen, bis Hanuschek die Strategie des Wachtmeisters durchschaute. Er musste nur die Passagiere betrachten, die an seinem Bahnhof ausstiegen, um Bescheid zu wissen, dass er, der Sozialdemokrat Hanuschek, bei ihnen keine Chance hatte. Da kamen Herren, gekleidet in feinstem Tuch, die mit gebieterischen Gesten den Gepäckträgern Anordnungen erteilten und den Bahnhofsvorsteher Hanuschek keines Blickes würdigten. Damen entstiegen den Zügen, die wie ein ganzes Blumenbeet dufteten und so aussahen, als seien sie aus Porzellan. Gouvernanten, gefolgt von einer Schar adrett gekleideter Kinder, die mit ihren Kasernenhofstimmen alle erschreckten, die auch nur entfernt in ihre Nähe kamen. Am schlimmsten war der Anblick der Hündchen, die kläffend auf den Bahnsteig sprangen und, bevor sie Hanuschek verscheuchen konnte, gegen die Laternenpfähle pinkelten und davon liefen, ihren Herrchen nach, die sich aufmachten, um nach wenigen Metern in das luxuriöse Grandhotel einzutreten, wo sie das zu ihrer Begrüßung aufgereihte Personal wie zum Verkauf stehende Sklaven musterten.
Hanuschek packte bei diesem Anblick die Wut. Manchmal musste er sehr an sich halten, um nicht loszuschreien, irgendetwas von Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit. Er hielt sich zurück, und die Anstrengung brachte seinen Körper zum Beben, dass er mitunter fürchtete, einem Herzinfarkt zu erliegen. Nur nachts, in seinen Träumen, lebte er diese Wünsche aus. Da stand er dann am Bahnsteig, reckte die Faust in die Höhe und schrie: „Nieder mit der Ausbeuterklasse! Es lebe der Sozialismus!" Daraufhin warfen die Gepäckträger ihre Last ab und gingen auf die Herren los, um sie im Namen der Revolution zu verhaften. Die Kutscher stiegen von ihren Kutschböcken, lösten die Pferde vom Geschirr und trieben sie davon, hinaus auf die Wiesen, denn, so sagten sie: „Die Revolution gilt auch für die Tiere!" Natürlich galt das nicht für die dekadenten Hündchen der Herren, die kurzerhand auf die Bahngeleise geworfen wurden, in der Erwartung, dass sie der nächste aus Wien kommende Zug niederwalzen würde. Das war das einzige Blut, das in der Hanuschekschen Revolution vergossen wurde, denn ihm war Gewalt grundsätzlich suspekt, auch wenn er in seiner Jugend davon ausgiebig Gebrauch gemacht hatte, um sich in Lemberger Straßenkämpfen zu behaupten. Der Höhepunkt dieser sozialistischen Nachtträume des Bahnhofsvorstehers Hanuschek war erreicht, wenn das gesamte Personal des Grandhotels, die Zimmermädchen, die Kellner, die Wäscherinnen, die Köche, die Näherinnen, die Liftboys und Pagen – wenn sie alle in einer langen, endlosen Prozession aus dem Haupteingang des Grandhotels kamen und sozialistische Arbeiterlieder sangen, und den Zug bestiegen, den Hanuschek selbst nach Wien steuerte, um dort die Revolution anzuführen. Immer dann, wenn er mit seinen Passagieren, die nicht nur deshalb vor Aufregung zitterten, weil sie drauf und dran waren, eine Regierung zu stürzen, sondern auch, weil sie zum ersten Mal eine große Stadt wie Wien zu Gesicht bekamen, im Westbahnhof einrollte, wachte Hanuschek schweißgebadet auf. Denn es war der Moment gekommen, den Kaiser zu entmachten, und das brachte der kaisertreue Revolutionär nicht übers Herz. Das waren die Träume, die er in Toblach träumte, in seinem Bett im ersten Stock des Bahnhofs, von dem aus er, wenn er morgens erwachte, einen Blick auf das Grandhotel hatte, die Ursache seiner Empörung. „Dieser Kastlhuber, dachte er dann, „dieser Kastlhuber hat mich reingelegt.
Das aber weckte in Hanuschek den Sportsgeist. Nach einigem Überlegen begann er die Sache als Wettkampf zu betrachten. Er wollte dem Kastlhuber nicht nur beweisen, dass der Sozialismus das Ergebnis des unerbittlichen Fortschreitens der weltgeschichtlichen Gesetze war, die keine Macht der Welt, selbst ein verschlagener Wachtmeister nicht, aufhalten konnte, sondern auch, dass der Bahnhofsvorsteher Hanuschek Mittel und Wege finden würde, dem Lauf der Weltgeschichte auch hier in Toblach nachzuhelfen.
Hanuschek begann, sich mit dem Personal des Hotels bekannt zu machen. Das war nicht ganz einfach, denn diese armen Menschen, wie Hanuschek sie nannte, mussten über den Hintereingang, der vom Bahnhof aus nicht einsehbar war, in das Grandhotel gehen. Es war für ihn daher schwer, Kontakt zu den Bediensteten aufzunehmen. Dazu musste er sich vom Bahnhof weg begeben, ohne das Misstrauen des Wachtmeisters Kastlhubers zu wecken. Er ging davon aus, dass der Wachtmeister überall seine Zuträger hatte und deshalb über all seine Bewegungen bestens informiert sein würde. Zur Tarnung legte sich Hanuschek eine Dogge zu, was für ihn, der Hunde hasste, ein außergewöhnlicher Dienst an der Revolution war. Die Dogge, die er Viktor nannte, rechtfertigte regelmäßige, tägliche Spaziergänge in Neutoblach, ohne dass irgendjemand Verdacht schöpfen könnte. Wenn das Personal aus Toblach frühmorgens in das Grandhotel kam, traf es auf seinem Weg den Bahnhofsvorsteher Hanuschek, an der Leine ein vor Sabber triefendes Ungeheuer. Hanuschek ließ sich Zeit mit der Kontaktaufnahme. Er grüßte im Vorbeigehen freundlich, musterte die Gesichter, auf der Suche nach einer gewissen Offenheit. Es dauerte ziemlich lange, bis er eine Person ausgemacht hatte, von der er glaubte, er könne sie ansprechen und mit etwas Glück und Geschick auch für seine Idee gewinnen. Das Objekt seiner Anwerbung hieß Frieda. Sie arbeitete als Küchengehilfin im Grandhotel, war Mitte zwanzig, unverheiratet und lebte zusammen mit ihren Eltern und fünf Geschwistern in einem bescheidenen Häuschen am Rande vom Toblach. Nun wäre es nicht ganz richtig zu behaupten, allein revolutionäre Erwägungen hätten Hanuschek dazu gebracht, Frieda anzusprechen. Sie war im ganzen Dorf wegen ihrer Schönheit bekannt, und Hanuschek war trotz allen revolutionären Eifers dafür durchaus empfänglich. Überhaupt hatte er sich die Auffassung vieler damaliger Wiener Sozialisten zu eigen gemacht, wonach Schönheit und Sozialismus zusammengehörten, dass das eine ohne das andere nicht zu haben sei. Wer für den Sozialismus ist, der ist auch für die Schönheit, und wer für die Schönheit ist, der befindet sich schon auf dem Pfad des Sozialismus – dieser Satz eines bekannten Arbeiterführers aus Wien klang ihm noch im Ohr, als er Frieda an einem kalten, sonnigen Märztag endlich ansprach.„Einen schönen Tag, gnädiges Fräulein, sagte Hanuschek zu Frieda und stellte sich ihr so geschickt in den Weg, dass sie nicht weitergehen konnte, sich aber gleichzeitig nicht bedrängt fühlte. Frieda, die eine schüchterne Person war, schlug die Augen nieder und flüsterte: „Guten Tag, Herr Bahnhofsvorsteher.
„Wie heißen Sie denn, mein liebes Fräulein?"
„Frieda, Frieda Kofler."
„Ach, Frieda, das ist ein schöner Name."
Die Dogge Viktor wurde angesichts dieser Plauderei ungeduldig und begann an der Leine zu zerren. Hanuschek brauchte all seine Kraft, um sie zurückzuhalten.
„Sie sind aus Toblach, nicht wahr?", sagte Hanuschek und dabei entfuhr ihm ein Seufzer, weil Viktor so heftig zog, dass es ihn in den Armen schmerzte.
„Ja", antwortete Frieda und blickte auf. Hanuschek sah die grün schimmernden Augen Friedas und er vergaß alles, die Dogge, den Sozialismus und, ja, auch seine Frau, die zu Hause saß und um diese Uhrzeit bestimmt das Frühstück vorbereitete, das er nach dem Spaziergang mit Viktor einzunehmen pflegte. Ihm wurde schwindelig.
„Ist alles in Ordnung?", fragte Frieda, die bemerkte, dass der Bahnhofsvorsteher wankte.
„Ja, oh ja, es ist ..., Hanuschek senkte den Blick, „es ist nur dieser Hund ... ich meine, mein lieber Viktor, er ist heute so ungestüm ...
Frieda beugte sich nieder und strich Viktor mit der Hand über den mächtigen Schädel. Viktor beruhigte sich augenblicklich und begann zu schnurren wie eine Katze.
Das ist kein Hund, das ist eine Memme, dachte Hanuschek im Stillen und wünschte sich insgeheim doch, dass Frieda ihm dieselbe Aufmerksamkeit zukommen ließ wie diesem abstoßenden Tier.
„Ein lieber Hund", sagte Frieda und richtete sich wieder auf. Sie blickte Hanuschek direkt in die Augen und er fühlte, wie sich ein flaues Gefühl in seinem Bauch breitmachte.
„Ich muss nun leider zur Arbeit, Herr Bahnhofsvorsteher."
Geistesgegenwärtig antwortete Hanuschek: „Darf ich Sie ein Stück begleiten?"
Frieda zögerte. Hanuschek setzte nach: „Viktor würde sich freuen."
Daraufhin stimmte Frieda zu. Die drei gingen zusammen die letzten paar hundert Meter zum Grandhotel, wo sie sich am Hintereingang verabschiedeten.
Hanuschek traf Frieda von nun an täglich auf ihrem Weg zur Arbeit. Sie plauderten über unverfängliche Dinge, meist über Viktor. Die Dogge schien ohne Frieda nicht mehr glücklich zu werden. Während sie den ganzen Tag über apathisch hinter dem Ofen lag, fing sie an wie wild zu bellen, wenn sie Frieda die Straße entlang kommen sah. Alles Leben kehrte in sie zurück. Hanuschek konnte nicht leugnen, dass er die ungehaltene Freude Viktors durchaus teilte. Sie ist nun mal ein Sonnenschein, dachte er bei sich, ein Tag ohne sie ist ein dunkler Tag. Frieda legte bald ihre Scheu ab, und Hanuschek lernte eine aufgeweckte, dem Leben zugewandte junge Frau kennen. Er war so mit ihrer Schönheit beschäftigt, dass er Gefahr lief, seine eigentliche Aufgabe, nämlich Frieda für die Sache des Sozialismus zu gewinnen, vernachlässigte. Dass das nicht geschah, dafür sorgten die hochwohlgeborenen Gäste, die nun, da der Sommer anbrach, immer zahlreicher in