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Küss die Hand, die du nicht brechen kannst: Geschichten aus Teheran
Küss die Hand, die du nicht brechen kannst: Geschichten aus Teheran
Küss die Hand, die du nicht brechen kannst: Geschichten aus Teheran
eBook362 Seiten4 Stunden

Küss die Hand, die du nicht brechen kannst: Geschichten aus Teheran

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Über dieses E-Book

Über Heilige und Scheinheilige, Märtyrer und Spione: eine andere Geschichte des Iran.

Der Iran ist ein unberechenbares Land: undurchdringlich, verworren und geheimnisvoll. ZEIT-Journalist Ulrich Ladurner hat sich auf den Weg gemacht, um das Land und seine Menschen zu verstehen. Begleitet hat ihn sein Freund Amad, der in der Millionenstadt Teheran lebt, wo er aufgewachsen ist. In den vielen Jahren ihrer gemeinsamen Erkundungen hat Ladurner ihm aufmerksam zugehört - und Schicksale gesammelt.

In seinen "Geschichten aus Teheran" erzählt er vom Ladenbesitzer Amir, der zum Heiligen wird und dabei gute Geschäfte macht; vom Fabrikanten Baba Zede, der mit skeptischem Auge jede Scheinheiligkeit seiner Nachbarn registriert; von der schönen Robabeh, die allen den Kopf verdreht und eine denkwürdige Entscheidung trifft; von drei jungen Männern, die völlig unterschiedliche Lebenswege einschlagen; vom Trinker, der zum Mörder wird; von der religiösen Eiferin, die für ihren Gott alles tun würde. Er erzählt von einem halben Jahrhundert iranischer Geschichte: wie die Iraner unter der Herrschaft des Schahs litten, wie sie die Revolution der Mullahs und den Krieg gegen den Irak erlebten und wie es heute, an der Schwelle zu einem neuen Krieg, um sie steht.

Der Iran zeigt viele Gesichter, manche schön, manche hässlich, alle aber auf ihre Weise berührend. Ulrich Ladurner verschränkt in diesen Geschichten historische Fakten und persönliche Schicksale, die durch den Alltag hindurch den Blick auf den Iran schärfen, Geschichte für Geschichte.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum18. Okt. 2012
ISBN9783701743148
Küss die Hand, die du nicht brechen kannst: Geschichten aus Teheran

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    Buchvorschau

    Küss die Hand, die du nicht brechen kannst - Ulrich Ladurner

    2012

    Dramatis personae

    Amirs Aufstieg

    Als der Ladenbesitzer Amir von seiner Reise nach Mekka zurückkehrte, bereitete ihm seine Familie ein Fest. Auf dem Dach des Hauses hatten sie Flaggen gehisst. Sein Sohn hatte eine Stoffbahn rund um die Fassade gespannt. Eine Sure aus dem Koran war darauf gemalt. Nachdem Amir an der Eingangstür von seiner Familie und zahlreichen Nachbarn jubelnd begrüßt worden war, setzten sie sich an einen üppig gedeckten Tisch. Das Fleisch türmte sich hoch auf, der Reis bildete richtige Berge, das Gemüse schimmerte bunt in allen Farben, die Melonen protzten mit ihren dicken Bäuchen und die Weintrauben quollen aus den Schüsseln hervor. Der Duft der Gewürze mischte sich mit dem Dampf des Essens. Die Gesichter der Gäste glänzten vor Freude. Sie kauten, sie schmatzten, sie genossen jeden Bissen, und dabei starrten sie alle mit weit aufgerissenen Augen auf den Heimkehrer, als sei er nicht mehr Amir, der kleine, eilfertige Ladenbesitzer, sondern ein Respekt einflößender Prophet. Er musste berichten. Die Gäste waren gierig auf jedes Detail.

    Es gab in der Tat viel zu erzählen, denn es war eine sehr weite Reise gewesen. Amir war über Land gefahren: mit dem Bus über die syrische Grenze nach Jordanien und von dort nach Saudi-Arabien, wo er nach drei Monaten endlich in Mekka ankam. Das war ganz normal für die Zeiten, als das Fliegen noch eine exklusive Angelegenheit für Reiche war. Überhaupt war es nur natürlich, dass eine Pilgerfahrt mit Entbehrungen und Gefahren verbunden war. Nicht wenige ließen auf diesen Reisen ihr Leben, umgekommen durch Krankheit, durch Unfälle oder durch die Hand eines Mörders. Amirs Zuhörer unterbrachen ihn deshalb immer wieder mit Sätzen wie: »Hast du denn keine Angst gehabt?«, oder: »Sind die Straßen sicher. Gibt es nicht viele Räuber?«, oder: »Die Hitze in der Wüste! Wie hast du das bloß ausgehalten?«

    Amir winkte ab. Nie hätte er in dieser Runde zugeben können, dass er sich in jener Nacht, die sie in der saudischen Wüste unter freiem Himmel verbringen mussten, gefürchtet hatte vor den Schatten, die er zu sehen glaubte, vor den umherhuschenden Tieren, vor dem Flüstern des Windes. Selbst die zahllosen funkelnden Sterne waren ihm kein Trost gewesen, sondern verstärkten nur das Gefühl der absoluten Verlassenheit, die ihn angesichts dieser Weite erfasst hatte. Hätte er das alles erzählt, dann, glaubte er, hätten sie ihn als Schwächling gesehen und nicht als den tapferen, furchtlosen Amir, nicht als den Mann, der er selber gerne gewesen wäre. Dieser Gedanke aber zeigte nur, dass Amir seine Nachbarn nicht kannte. Menschliche Schwächen waren ihnen allen nicht fremd. Daher verfügten sie über ein instinktives Verständnis für Amirs Ängste, vorausgesetzt freilich, er hätte darüber gesprochen. Das aber tat er nicht, obwohl die Gäste mit dem Fragen nicht aufhören wollten.

    Tatsächlich war Amir etwas Besonderes, etwas Bestaunenswertes, denn in seinem Viertel hatte nur er sich die weite und kostspielige Reise von Teheran nach Mekka leisten können. Nur er konnte jetzt den Zusatz »Hadschi« in seinem Namen tragen, als Zeichen dafür, dass er die Hadsch, die Pilgerreise nach Mekka, unternommen hatte. Selbst der Mullah begegnete ihm seit seiner Rückkehr mit Respekt. Hadschi Amir hatte für die Reise einen Großteil seiner Ersparnisse investiert. Daran dachte er, während sie aßen und er immer noch von seinen Erlebnissen erzählen musste. Er machte sich Sorgen um seine finanzielle Lage und schämte sich ein bisschen für diesen profanen Gedanken. Das dauerte aber nur einen Moment. Er schaute in die Runde und entdeckte unter den Gästen das Gesicht von Baba Zede, einem Nachbarn, den er nicht ausstehen konnte. Er hatte vor einiger Zeit mit Baba Zede einen heftigen Streit gehabt, und nun saß er hier, in seinem Haus, und vergnügte sich! Und er, Hadschi Amir, konnte ihn nicht einmal hinauswerfen!

    Das Schlimmste war, dass Baba Zede Hadschi Amir mit einem Geschenk völlig überrascht hatte. Er hatte ihm den Tisch und die Stühle gekauft, auf denen sie nun alle saßen. »Zur Versöhnung!«, flüsterte Baba Zede Amir ins Ohr, als dieser das Wohnzimmer betrat.

    »Das ist eine Provokation!«, dachte Amir. Er hatte wohl recht damit, denn er hätte lieber nach traditioneller Art auf dem Boden gesessen, um zu essen. Baba Zede wusste das, dieser Baba Zede, der sich immer als besonders modern aufspielte, dieser Baba Zede, der immer so überlegen tat. Hadschi Amir hätte am liebsten mit den Worten abgelehnt: »Du willst mich doch nur ärgern damit! Du bist ein Provokateur, ein hinterhältiger Provokateur!«, aber er konnte das Geschenk nicht zurückweisen, nicht vor den Augen der hier versammelten Nachbarschaft.

    »Überhaupt«, dachte Hadschi Amir, »wer soll das Festmahl bezahlen, wenn nicht ich?« Er geriet in Wut, aber auch dies konnte er nicht zeigen.

    Bald stellte sich heraus, dass seine Sorgen und sein Zorn grundlos waren. Seit er Hadschi Amir hieß, vermehrten sich die Kunden in seinem Geschäft. Manchmal herrschte ein richtiges Gedränge in dem engen Raum, der ohnehin schon vollgestellt war mit Reissäcken, Konserven, Flaschen und Körben. Viele kamen, um sich von Mekka berichten zu lassen. Dabei kauften sie das eine oder andere. Manche aber kauften, weil sie der Überzeugung waren, dass Hadschi Amirs Ware heilende Kräfte besäße.

    Eines Tages verbreitete sich im Viertel die Kunde, dass Hadschi Amirs Reis eine Frau von einer hartnäckigen Hautallergie befreit hatte.

    »Sie hat einen Löffel Reis gegessen und weg war der Ausschlag. Ein Leben lang war ihre Haut mit roten Flecken übersät, und nun: Einfach weg!« So ging das Gerücht. So glaubten es die Leute. Hadschi Amir widersprach nicht. Sein Reis verkaufte sich in rauen Mengen. Er genoss den Status, ein Heiliger zu sein.

    Hadschi Amir baut

    Hadschi Amirs Geschäfte liefen seit seiner Rückkehr aus Mekka prächtig. Seine Ersparnisse wuchsen und wuchsen. Freilich, er sprach darüber mit niemandem. Hadschi Amir war diskret, vor allem, wenn es um seine eigenen Dinge ging. Trotzdem blieb sein wachsender Wohlstand nicht unbemerkt.

    Eines Morgens kam der Mullah des Viertels zu ihm ins Geschäft. Er wälzte seinen massigen Körper durch den Laden, bis er vor dem winzigen Schreibtisch Amirs zu stehen kam.

    »Gott sei mit dir, Hadschi Amir!«

    »Gott meint es gut mit mir! Willkommen! Ich danke für Ihren Besuch«, antwortete Hadschi Amir.

    Er bot dem Mullah einen Stuhl an. Als der sich darauf setzte, knirschte das Holz verdächtig. Hadschi Amir befürchtete, dass der Stuhl unter dem Gewicht des Mullahs zusammenbrechen könnte. Das war ihm peinlich, denn er hätte sich leicht einen neuen Stuhl für den Laden leisten können. Aber seit er aus Mekka zurückgekehrt war, hatte er immer gespart. Hadschi Amir wusste nicht, wofür und wozu. Er hatte mit dem Geld nichts Bestimmtes vor, noch jedenfalls nicht. Er war einfach sparsam. »Wer auf sein Geld achtet, den liebt Gott!«, sagte er zu seinen Kindern, wenn er es wieder einmal ablehnte, ihnen etwas zu spendieren. Die Kinder freilich glaubten nicht, dass Gott eine Vorliebe für Knauserer hatte. Daher ließen sie sich nicht beeindrucken und drängten ihren Vater weiter, sich spendabel zu zeigen. Das versetzte Hadschi Amir mit schöner Regelmäßigkeit in Rage. Es gab dann Streit mit seinem Sohn, den Hadschi Amir damit beendete, dass er Kopfnüsse verteilte. Danach herrschte Ruhe.

    Jetzt aber, da das dürre, alte Holz unter dem massigen Körper des Mullahs knackte, ermahnte er sich selbst im Gedanken. »Aber einen Stuhl, Hadschi, einen Stuhl hättest du dir schon gönnen können!« Danach bedeutete er seinem Laufburschen, dass er Tee bringen solle. Dieser flitzte davon.

    Der Mullah schaute ihm nach.

    »Ein guter Junge, dieser Ali!«, sagte er, und der Stuhl unter ihm knirschte noch lauter.

    »Ja, ich bin sehr zufrieden mit ihm!«, antwortete Hadschi Amir. Was hätte er anderes sagen sollen: Es war der Mullah gewesen, der ihm vor einigen Wochen diesen Jungen aufgedrängt hatte. »Ali ist ein Waisenkind«, sagte der Mullah, als er ihm das schmächtige Kerlchen vorstellte. Der Mullah beschrieb das Schicksal des Waisenkindes Ali mit drastischen Bildern. Hunger, Not, Kälte, Gewalt, Schmutz, Erniedrigung – er ließ nichts aus. Hadschi Amir wusste sofort, was er zu tun hatte. Er musste Ali bei sich einstellen, wenn er nicht mit dem Mullah Schwierigkeiten bekommen wollte.

    Hadschi Amir setzte sich hinter seinen Schreibtisch und wartete. Vielmehr lauerte er auf das, was da kommen mochte. Er hätte nur zu gerne gewusst, was den Mullah dazu bewogen hatte, ihn in seinem Laden aufzusuchen. Er war nämlich in allem, was er tat, von einer klaren Absicht getrieben. Immer führte er etwas im Schilde.

    Der Mullah war im Viertel bekannt dafür, dass er die Dinge nicht direkt ansprach. Er war ein Meister der ausschweifenden Rede. Wer ihn verstehen wollte, der musste sich regelrecht durch ein Dickicht an Worten durcharbeiten und über Satzungetüme hinwegsteigen. Hadschi Amir bereitete sich innerlich auf einige anstrengende Stunden vor.

    Der Mullah legte los. Seine Stimme verfiel nach den ersten Worten in einen Singsang, der sich klebrig über den gesamten Nachmittag legte. Nur einmal machte er eine Pause. Das war, als Ali mit den Teegläsern kam. Der Mullah nahm das Glas vom Tablett, das ihm Ali mit einer Verbeugung hinhielt, dann nahm er einen Schluck, und schließlich strich er dem Jungen mit einer väterlichen Geste über den Kopf.

    »Ein guter Junge, ein guter Junge!«, sagte er, wieder zu Hadschi Amir gerichtet, der erschöpft hinter dem Schreibtisch saß und gerade noch die Kraft hatte, zustimmend zu nicken.

    Der Mullah aber ließ nicht ab. Er war noch lange nicht fertig. Er redete weiter, über Mekka, über die Hadsch, über Mohammed und über die Menschen im Viertel, die sich wieder mehr der Religion zuwenden sollten. Vor allem aber redete er über Hadschi Amir, der seit seiner Pilgerreise ein so glückliches, gesegnetes Leben führe; über Hadschi Amir, den Wohltäter des Viertels.

    »Die Menschen brauchen Gelegenheiten, um ihre religiösen Gefühle angemessen ausdrücken zu können. Gelegenheiten!« Das waren die letzten Worte des Mullahs gewesen. Danach schob er sich und seinen dicken Körper hinaus auf die Straße. Dort dämmerte es bereits. Hadschi Amir bedankte sich für den Besuch. Der Mullah nahm dies mit einer würdevollen Geste entgegen und verschwand.

    Als Hadschi Amir sich wieder hinter seinen Schreibtisch setzte, wusste er bereits, was er zu tun hatte. Er sollte an der Ecke zum Markt den Bau eines Gebetshauses finanzieren. Genau das hatte der Mullah von ihm verlangt. Es war ihm gelungen, dies klarzumachen, ohne die Wörter »bauen« und »Geld« in den Mund genommen zu haben. Der Mullah war eben ein Meister der Anspielungen.

    Hadschi Amir rief den Laufburschen. Er musste sehr laut rufen, denn Ali war auf den Reissäcken im hinteren Vorratsraum eingeschlafen. Als er endlich kam, gab Hadschi Amir ihm einen kurzen Befehl.

    »Hol mir den Baumeister, schnell!«

    Hadschi Amir schmiedet Pläne

    Hadschi Amir hatte es sich zu Gewohnheit gemacht, die heißesten Stunden der Sommertage vor seinem Laden zu verbringen. Der Laufbursche Ali spannte ein kleines Sonnensegel auf, stellte einen Stuhl hin, säuberte den Sitz mit einem Staubtuch, dann erst ließ sich Hadschi Amir zufrieden seufzend nieder. Ali brachte Tee. Hadschi Amir blinzelte auf die Straße hinaus, die in der Hitze flimmerte. Es waren kaum Menschen zu sehen. Den meisten war es zu heiß. Hadschi Amir allerdings liebte diese Stunden. Der süße Tee floss durch seine Kehle, als wäre es Honig. Schweißtropfen rannen über seinen Rücken. Ein Windzug fuhr um die Ecke und kühlte seine Haut mit zärtlich streichelnder Hand. In ihm breitete sich ein Gefühl des Wohlbehagens aus. Er hätte – wenn es denn nicht unstattlich gewesen wäre – am liebsten geschnurrt wie ein Kater.

    Den Gruß der wenigen Passanten erwiderte er mit einem Kopfnicken. Wenn einer stehen blieb, um mit ihm zu reden, bemühte er sich, das Gespräch kurz zu halten. Er hatte es trotz der zur Schau gestellten Gelassenheit eilig, mit sich allein zu sein. »Meine Meditationszeit« nannte Hadschi Amir die Stunden, die er an solchen Tagen unter dem Sonnensegel verbrachte. Zeit zum Ausspannen, Zeit zum Nachdenken. Er wollte nicht gestört sein.

    Seine Gedanken flogen weit über den Horizont. Kein Hindernis stellte sich ihnen entgegen, und so konnten sie nach Herzenslust herumwirbeln. Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – alles mischte sich zusammen. Was Hadschi Amir in diesen Stunden alles einfiel, welche Bilder in ihm auftauchten!

    Der Staub zum Beispiel, dieser allgegenwärtige, gelbe, grobkörnige Staub in den Straßen des Viertels, der ihm als Jungen so sehr zu schaffen gemacht hatte. Wenn ein Sturm diesen beißenden Staub aus der Salzwüste nach Teheran trug, dann tränten dem kleinen Amir sofort die Augen. Alles um ihn herum verschwamm. Er musste dann schnell nach Hause laufen, um hinter verschlossenen Türen und Fenstern abzuwarten, bis der Sturm sich gelegt hatte. Wie sehr er darunter gelitten hatte, dass ihn seine Mitschüler damals »Heulsuse« nannten, nur weil er von dieser Allergie gegen den Wüstenstaub befallen war. »Heulsuse! Heulsuse!«, riefen sie, wenn er mit tränenden Augen flüchten musste. Obwohl die Eltern mehrere Ärzte konsultiert hatten, gab es keine Besserung. Amir hatte die Hoffnung schon aufgegeben – bis eines Tages, als er mit seinem Vater in der Moschee war, um dem Mullah einen Besuch abzustatten, völlig unerwartet ein heftiger Wind über die Stadt herfiel. Staub, überall Staub. Amir drängte, er wollte schnell nach Hause laufen. Der Mullah, der von seiner Allergie wusste, hielt ihn zurück: »Warte, meine Junge!«, sagte er. Der Mullah legte ihm seine Hand auf die Augen und murmelte etwas Unverständliches. »Geh jetzt, mein Junge!«, sagte er und schob ihn hinaus auf die Straße. »Du musst keine Angst mehr haben!«

    Tatsächlich: Amirs Augen tränten nicht, obwohl der Staub so dicht in den Straßen stand, dass man die eigene Hand nicht mehr sehen konnte. Die Augen tränten nicht! Nie wieder tränten sie! Es war ein Wunder geschehen!

    Solche Erinnerungen kamen Hadschi Amir an diesen heißen Nachmittagen unter seinem Sonnensegel. Und es war typisch für ihn, dass er daraus Schlüsse zog – »Lehren«, wie er es nannte. »Das Leben hält für uns alle Lehren bereit. Wir müssen sie nur erkennen!«, das war einer seiner Lieblingssprüche. Und die »Lehre« aus seiner wie durch ein Wunder beendeten Allergie?!

    »Nun ja«, dachte Hadschi Amir, »sie besteht wohl darin, dass ich immer schon für ein gottgefälliges Leben bestimmt gewesen bin. Dass ich«, sagte er zu sich selbst, während die Sonne noch wütender auf die Straßen hämmerte, »dass ich ein Auserwählter bin!«

    So waren diese Nachmittage. Sie verführten zu allerlei Höhenflügen. Was für ein Vergnügen war es für Hadschi Amir, seinen eigenen Gedanken zuzusehen: Wie sie sich drehten! Wie sie tanzten! Wie sie sich verrenkten – und, ja leider, wie sie sich verwickelten!

    Hadschi Amir musste regelmäßig in seinem Kopf für Ordnung sorgen. Er musste, so einsichtig war er durchaus, sich selbst wieder auf den Boden der Wirklichkeit holen. Deshalb sprach er sich selbst halblaut vor, wer er war und worin seine Pflichten bestanden.

    »Ich bin Hadschi Amir«, murmelte er vor sich hin, »Ladenbesitzer, Familienvater. Ich bin Hadschi Amir, Diener Gottes! Diener Gottes!«

    Hätte ihn einer in diesem Moment beobachtet, dann hätte er wohl den Schluss gezogen, dass Hadschi Amir verrückt geworden war. Das war natürlich nicht der Fall. Im Gegenteil, Hadschi Amir war damit beschäftigt, seinen Ausflug ins Reich der Träume zu beenden und wieder in die wirkliche Welt zurückzukehren.

    Dabei dachte er wie immer in der letzten Zeit sofort daran, wie er Gutes tun könnte. In den ersten Wochen nach seiner Rückkehr aus Mekka war es ihm noch einigermaßen schwergefallen, sich als Mensch zu verstehen, der am Wohl der Gemeinschaft mehr interessiert war als an seinem eigenen. Aber er fand sich schnell damit ab, dass er als Hadschi nun Pflichten hatte, die er ohne seine Mekkareise nicht gehabt hätte. Innerlich hatte er sich noch gesträubt, als ihn der Mullah dazu gebracht hatte, das Gebetshaus zu bauen. Als es endlich fertiggestellt war und die Menschen zu ihm kamen, sich überschwänglich bedankten und zu Dutzenden mit ihm zusammen in das Gebetshaus gingen, um zu beten – als all dies sich ereignete, war Hadschi Amir regelrecht überwältigt. Es gab für ihn seither nichts Schöneres, als Gutes zu tun, nichts bereitete ihm so große Freude. Natürlich, er musste immer noch darauf achten, dass sein Laden Profite abwarf. Wie sonst sollte er sein Gutsein finanzieren? Aber der Laden war nur noch die Grundlage für seine Tätigkeit, das Geld war Mittel zum Zweck.

    Gerade weil es ihm große innere Zufriedenheit bescherte, hielt Hadschi Amir immer Ausschau nach Möglichkeiten, Gutes zu tun. Das war eines der Ziele seiner Meditationszeit: darüber nachzudenken, wo er mit helfender Hand eingreifen konnte.

    »Was sollte ich als nächstes tun?«, dachte Hadschi Amir und schaute hinaus auf die sommerheiße Straße. Auf der anderen Seite huschte eine Gestalt über den Bürgersteig. Eine Frau, eingehüllt in einen Tschador. Sie zog ein Bein etwas nach. Daran erkannte er sie.

    »Die Hinkende«, so nannte man sie im Viertel. Sie war erst vor ein paar Monaten hierhergezogen. Sie hatte am Platz eine winzige Wohnung gemietet. Sie lebte allein, und es hatte nicht lange gedauert und allerlei Gerüchte über sie schwirrten durch die Nachbarschaft.

    »Ein schlechte Frau!«, hieß es.

    »Sie bringt Unglück!«

    »Sie hat den bösen Blick!«

    »Eine Hure!«

    Hadschi Amir blickte ihr interessiert nach. Er wusste nun, wem er helfen wollte.

    Baba Zede, der Fabrikant

    Baba Zede war der reichste Mann am Asadiplatz. Jedenfalls behaupteten das die Leute. Genau wussten sie es nicht. Denn keiner kannte Baba Zede gut genug, um zuverlässig über ihn Auskunft geben zu können. Sicher war nur, dass Baba Zede eine Keramikfabrik besaß. Sie lag nicht weit entfernt. Wenn der Wind aus östlicher Richtung blies, waberte der Rauch der Fabrik über den Platz. Er war schwarz und dick. Er reizte die Atemwege der Menschen. An solchen Tagen war aus allen Häusern Husten zu hören, und wer sich im Freien befand, schützte seinen Mund mit einem Tuch. Ob alt oder jung, die Fabrik verschonte niemanden.

    »Baba Zede macht heute wieder gute Geschäfte!«, hieß es an solchen Tagen. Die Menschen auf dem Platz sprachen mit einer Mischung aus Respekt und unterdrückter Wut über den Fabrikanten. Die Bewohner des Platzes lebten nicht in Armut, aber sie fühlten sich benachteiligt, wenn sie sich Baba Zedes Wohlstand vorstellten. Einerseits waren sie davon beeindruckt, dass er ein Unternehmen mit 25 Beschäftigten leitete; andererseits waren sie neidisch auf ihn, weil sie glaubten, er werde durch diese Fabrik reich. Neid war unter ihnen eine weit verbreitete Untugend. Außerdem waren die Menschen auf diesem Platz der Ansicht, dass man nur mit unlauteren Mitteln reich werden konnte.

    Dieses Vorurteil darf nicht verwundern, denn in den Jahren, als der Schah herrschte, bereicherte sich eine Kaste von wenigen Privilegierten auf schamlose Weise. Nicht Arbeit, nicht Fähigkeiten und nicht Leistungen zählten, sondern die Nähe zum Hofe des Schahs. In den 1970er Jahren flossen dank der explodierenden Erdölpreise gewaltige Summen in die Kassen des Staates. Der Schah versprach Fortschritt, Entwicklung und Wohlstand für alle. Aber die Menschen am Asadiplatz bekamen davon nichts ab. Sie hörten die Geschichten von unglaublichem Reichtum, von Prasserei und Verschwendung. Während sie ein bescheidenes, fast ärmliches Leben führten, herrschte in den Palästen und Villen im Norden Teherans unvorstellbarer Überfluss. Es war in den Zeitungen zu lesen, wie sich die Reichen nach Europa aufmachten, nach Paris, nach London oder in die USA, wie sie dort ausgedehnte Einkaufstouren unternahmen, die mehrere Jahreseinkommen eines durchschnittlichen iranischen Arbeiters verschlangen. Vergeblich wartete die Mehrheit der Menschen, dass etwas von dem Geldsegen, der über das Land niederging, bis zu ihnen durchsickerte. Der Unmut wuchs deshalb. Reichtum roch für die Menschen auf unserem Platz immer nach Betrug. Wer ehrlich war, der blieb ihrer Meinung nach arm.

    Einer wie Baba Zede musste daher unehrlich sein.

    Baba Zede wusste natürlich von diesen Vorurteilen. Er fürchtete sie. Deshalb hielt er alle seine Nachbarn auf Distanz. Er spürte, dass sie begehrten, was er besaß, dass sie am liebsten in sein Leben schlüpfen wollten wie in eine zweite Haut. Wie sollte er ihnen da trauen?

    Natürlich, er hätte von hier wegziehen können. Geld genug hatte er. Hin und wieder dachte er daran, sich in einem wohlhabenden Viertel ein Haus zu kaufen. Aber er war hier aufgewachsen als Sohn eines kleinen Beamten. Er hing an diesem Platz. Auch hatte er hier sein Glück gemacht, nicht woanders. In diesem Viertel hatte er alles gelernt, was er brauchte.

    Nach Abschluss der Schule hatte er mit allem Möglichen gehandelt. Als er genügend Kapital zusammenhatte, gründete er die Keramikfabrik. Es war Ende der 1960er Jahre, der Erdölboom begann gerade erst zu wirken. Mehr und mehr Menschen waren bereit, viel Geld für schönes Interieur auszugeben. Baba Zedes Fliesen, seine Teller, Tassen und Töpfe waren von hoher Qualität, und er produzierte preiswert. Das Geschäft lief prächtig. Baba Zedes Fabrik war bald in der ganzen Hauptstadt bekannt. Selbst aus dem wohlhabenden Norden kamen Bestellungen. Manchmal fuhr er selbst zu einem Auftraggeber, um Details eines Geschäftes zu besprechen. Bei solchen Gelegenheiten kam es schon vor, dass Baba Zede ins Staunen geriet angesichts des glitzernden Pracht, die er zu sehen bekam. Er selbst kam sich dann armselig vor. Er hätte das gerne seinen Nachbarn erzählt, um ihnen klarzumachen, wie die Verhältnisse wirklich waren, aber sie hätten ihm nicht geglaubt. Für sie war er reich. Und er würde es immer bleiben, egal welche Argumente, welche Beweise er auch anführen mochte.

    Trotzdem, er hatte alles in allem keinen Grund zur Klage. Er machte gutes Geld, und er bekam Anerkennung von höchster Stelle. Die Regierung sandte eines Tages einen Beamten. Er behauptete, dass er im Auftrag des Schahs käme. Der Beamte hatte eine große, glitzernde Medaille bei sich, die er Baba Zede vor versammeltem Publikum überreichte.

    »Der Unternehmer Baba Zede ist ein leuchtendes Beispiel für die Größe unseres Volkes!«, diktierte der Beamte einem mitgebrachten Journalisten in den Block. Am nächsten Tag stand diese Zeile in der Zeitung. Ein Foto gab es auch dazu.

    Baba Zede war das peinlich gewesen. Aber was hätte er tun sollen? Sich entziehen? Er hätte nur Kundschaft verloren.

    Dieser Vorfall brachte seine Nachbarn in Wallung. Ihre Gefühle für Baba Zede verstärkten sich: Sie brachten ihm noch mehr Bewunderung entgegen – doch auch die Verachtung stieg. Er selbst spürte das freilich – und zu seiner Überraschung genoss er es. Plötzlich empfand er regelrecht Lust dabei. Er fühlte sich reicher, als er war.

    »Wenn ich unter den anderen Reichen leben würde, ich wäre nur einer unter vielen. Hier aber bin ich einzigartig!«

    Das sagte sich Baba Zede. Nie mehr sollte er zögern. Die Entscheidung war gefallen. Für den Rest seines Lebens würde er in diesem Viertel wohnen.

    Baba Zede hat einen unerwarteten Gast

    Hadschi Amir wollte mit der Hinkenden in Kontakt kommen. Aber er musste vorsichtig sein. Sie hatte einen schlechten Ruf. Er färbte auf jeden ab, der sich mit ihr unterhielt. Wer mit ihr ein Wort wechselte, stand unter Verdacht. Wenn sie einkaufen ging und sich ein Verkäufer mit ihr etwas länger als nötig zu unterhalten schien, wechselten die anderen Kunden im Geschäft sofort vielsagende Blicke …

    »Hast du ihre Augen gesehen! Wie sie ihn angeblickt hat …«

    »Und er … völlig benommen war er. Schau mal, er ist immer noch nicht bei sich … Sie hat ihn in den Bann geschlagen … Sie wird ihn zu sich locken …«

    Die Hinkende brachte alle durcheinander, seit sie hierhergezogen war. Sie vernebelte die Köpfe und verdüsterte die Herzen.

    Niemand wusste genau, woher sie kam. Eines Tages jedenfalls klopfte sie an die Tür von Baba Zede, dem Keramikfabrikanten.

    »Ich habe gehört, Sie haben eine kleine Wohnung zu vermieten«, sagte sie mit einer heiseren Stimme zu ihm.

    Baba Zede nickte. Er nahm sich Zeit, bevor er ihr eine Antwort gab. Zeit, um sie genau zu betrachten. Sie hatte ein bleiches, rundes Gesicht, eine kühn geschwungene Nase und braune Augen. »So groß wie Teetassen«, dachte Baba Zede und lachte leise über diesen Vergleich.

    Baba Zede unterhielt sich mit ihr ein wenig. Ihm fiel nichts Besonderes an ihr auf. Natürlich fragte er sich, warum eine Frau alleine eine Wohnung mieten wollte. Das war mehr als ungewöhnlich. Andererseits herrschte damals noch der Schah, und der hatte der iranischen Gesellschaft per Dekret mehr Offenheit verordnet. Der Schah hatte allerlei religiöse Praktiken verboten oder sie in das Private verbannt. Religion war ihm grundsätzlich suspekt. Er bekämpfte die Mullahs nach Kräften, womit er sich ihren Zorn einhandelte. Die tiefe Frömmigkeit seines Volkes schien dem Schah förmlich peinlich zu sein. Wenn er auf seine Auslandsreisen ging und dabei auf dieses Thema angesprochen wurde, sparte er nicht mit Kritik an seinen Landsleuten. Man gewann den Eindruck, der Herrscher halte sein Land für »mittelalterlich«. Freilich war sein Spiel ziemlich durchsichtig. Je rückständiger er sein eigenes Volk darstellte, desto greller fiel das Licht auf ihn, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Iraner aus den Klauen der Mullahs zu befreien.

    Als die Hinkende bei Baba Zede vorsprach, geschah dies also im Klima einer von oben verordneten Säkularisierung. Sie konnte mit Verständnis rechnen, wenn sie als alleinstehende Frau bei Baba Zede vorsprach. Für Baba Zede allerdings waren der Schah und seine Politik nicht von besonderem Belang. Er gehörte einfach nicht zu den Menschen, die ihre Nase in die Angelegenheiten anderer steckten. Er war kein Schnüffler. Außerdem war er froh, dass er die Miete einnehmen konnte. Die Wohnung stand schon einige Zeit leer. Schlafendes Kapital, das hasste Baba Zede. Noch am selben Tag wurde

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