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Die andere Vergangenheit
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eBook827 Seiten12 Stunden

Die andere Vergangenheit

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Über dieses E-Book

Mit seinem vielschichtigen Porträt einer Dorfgemeinschaft hat Vinko Möderndorfer einen großen Roman aus dem Herzen Mitteleuropas geschaffen.

In "Die andere Vergangenheit" entwirft Möderndorfer ein Fresko des Dorfs Dolina. Hier haben die reichen deutschen Eichheins, Wald- und Sägewerksbesitzer, seit jeher das Sagen, die slowenischen Bauern und Arbeiter aber stellen die Mehrheit der Bevölkerung – und den Bürgermeister, den einflussreichen Gastwirt Novak. Vor dem Hintergrund von 20er-Jahren, Nazi-Zeit, kommunistischer Herrschaft und Wende entstehen eindringliche Bilder aus dem Alltag von Dolina, in dem politische Konflikte, aber auch Liebe und Verrat tiefe Spuren hinterlassen. Doch es sind vor allem die einfühlsam gezeichneten Figuren wie die alte Grabnerin und ihr Sohn Sylvester, der als Partisan den Heldentod stirbt, aber eigentlich bloß Gedichte schreiben wollte, die diesen Roman zu einem unvergesslichen Leseerlebnis machen.
SpracheDeutsch
HerausgeberResidenz Verlag
Erscheinungsdatum14. Aug. 2023
ISBN9783701747061
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    Buchvorschau

    Die andere Vergangenheit - Vinko Möderndorfer

    Erster Teil

    Zuerst scheint es die Vergangenheit zu sein,

    dann stellt sich heraus, dass es eine andere Vergangenheit ist.

    Wie es zur Geschichte kam

    Ein Freund hat mir diese Geschichte erzählt. Ich habe sie nicht erfunden. Aber ich habe sofort gewusst, dass es meine Geschichte ist.

    Wir saßen auf seiner wunderbaren Terrasse mitten in der Altstadt. Es war ein herrlicher, sonniger Tag. Die Sonne stand genau über uns. Unter der Terrasse zog die dunkelgrüne Ljubljanica dahin. Immer, wenn ich diesen Freund besuchte, sagte ich: »Das ist wie in Paris, die Seine und so.« Nach einer Weile, wenn die erste Flasche Wein geleert war, merkte ich für gewöhnlich an: »Hier ist es besser als am Meer«, und dann sagte ich noch: »Wenn du so eine Terrasse hast, brauchst du nicht auf Urlaub zu fahren.« Meine Kommentare waren wie Balsam für meinen Freund, und obwohl er sie unendlich oft zu hören bekam, gab er sich immer Mühe, sich zu freuen, als hörte er sie zum ersten Mal.

    An diesem Tag ging ein starker Wind. Er kam über die nahen Dächer, stürzte sich auf die Terrasse, wirbelte um die Gartenstühle und wollte partout unseren großen Sonnenschirm umwerfen; er ließ ihn über die Terrasse tanzen und kippte ihn ein ums andere Mal. Schließlich beschlossen wir, ihn jeweils mit einer Hand festzuhalten und mit der anderen unsere Gläser auf dem Tisch zu fixieren. Einschenken würden wir uns gegenseitig: Zuerst stellt der eine sein Glas ab, ohne die Hand von der Holzstange zu nehmen, greift nach der Flasche und schenkt dem Freund und anschließend sich selber ein. Dann tritt der andere auf ähnliche Weise in Aktion. Nun, in solcher Atmosphäre erzählte er mir die Geschichte.

    Ich weiß nicht, wie wir darauf gekommen waren, vermutlich spontan, wie es hierzulande üblich ist. Zuerst unterhält man sich über den Wein, dann über die Aussicht, das Wetter, und schon ist man bei der Politik. Ein Gespräch über Politik zieht sich hier bis in den Abend hinein, es kommt nie zu einem Ende. Freunde macht es zu Bekannten und Bekannte zu Feinden. Doch zwischen uns kam so etwas nicht vor. Die Geschichte, die er mir damals erzählte, hatte zwar politische Dimensionen, wie er mehrfach betonte, sie reichte zurück in die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg und zog sich über die vier Jahrzehnte nach dem Krieg, die bekanntlich viele in unserem Land, darunter auch mein Freund, gewissermaßen als politische Benachteiligung erlebt hatten, als totalitäre Tortur und dergleichen. Doch die Geschichte, die er mir erzählte, war im Grunde ganz gewöhnlich und sehr banal: Ein Junge trifft ein Mädchen. Der Junge und das Mädchen verlieben sich ineinander.

    »Na bitte«, rief ich, »das ist meine Geschichte!«

    Der Freund, der mit mir den riesigen Sonnenschirm festhielt, denn der Wind wurde heftiger und wollte uns unbedingt an das bekannte slowenische Märchen Mein Schirm kann fliegen erinnern, sah mich begeistert an und fragte: »Schreibst du sie auf? Du musst sie aufschreiben! Sie ist furchtbar.« Seine Begeisterung wuchs. »Solche Geschichten müssen erzählt werden, damit die Leute wissen, was für grässliche Dinge passiert sind.«

    Statt auf eine konkrete Frage eine konkrete Antwort zu geben, trank ich mein Glas Weißwein aus, schmatzte ein wenig und sagte wieder, ich weiß nicht zum wievielten Mal an diesem herrlichen, jedoch sehr windigen Nachmittag: »Wenn du so eine Terrasse mitten in der Stadt hast, brauchst du nicht auf Urlaub zu fahren.« Dann streckte ich meine freie Hand mit dem leeren Glas über den Tisch zu ihm rüber.

    Mein Freund stellte sein Glas ab, nahm die Weinflasche am Hals und schenkte mir nach. »Erzähl die Wahrheit über diese Zeit. Erzähl, wie die Menschen gelitten haben. Räche sie!«

    Ich sah zu, wie der goldgelbe und absolut richtig temperierte Šipon ins Glas floss. Auf der Innenseite sammelten sich kleine Bläschen, Perlen des edlen Getränks, außen am Glas bildete sich Tau. Mir lief das Wasser im Mund zusammen, ich schluckte. »Ein Junge trifft ein Mädchen, ein Mädchen trifft einen Jungen. Die schönsten Geschichten fangen so an«, sagte ich, und der Wind, als wollte er sich am Gespräch beteiligen, fuhr nun mit aller Kraft in die Leinenbespannung des Schirms. Der Freund griff mit beiden Händen nach der Stange, auch ich stellte das Glas ab und packte zu. So rangen wir eine Zeitlang mit dem Wind. Weil jedoch das Glas des Freundes leer war, meines aber voll, was sich nicht gehörte, hielt ich den Schirm nur mehr mit einer Hand fest und schenkte ihm mit der anderen ein. Der Wind, als ob er gegen das nachmittägliche Besäufnis etwas einzuwenden hätte, warf sich in die Bespannung und versuchte uns von der Terrasse zu heben und auf einen kleinen Ausflug über die Dächer der Altstadt zu tragen.

    Dann beruhigte sich alles ein wenig. Pause, genug, um auszutrinken. Je eine Hand hatten wir immer noch am Schirm, für alle Fälle.

    »Diese Geschichte ist furchtbar!«, rief mein Freund, und schließlich erzählte er sie mir in kurzen, bildhaften Sätzen. In Wahrheit hörte ich gar nicht so genau hin, denn ich wusste, wie sie geht. Damals, gleich nach dem zweiten Krieg, was besonders betont werden muss, denn wir Slowenen hatten später noch einen weiteren, kleineren Krieg und der Balkan sein großes Völkergemetzel, nun, also: Damals, im Zweiten Weltkrieg und gleich danach, gab es viele solche Geschichten, wie mein Freund sie erzählte. In vielen Familien ereigneten sich die grausigsten Tragödien, eine Abfolge von Verwicklungen und Verstrickungen, auf die eine Schriftstellerphantasie kaum je gekommen wäre. Das Leben hat einen unfassbaren Sinn fürs Tragische. Das Leben hat eine schreckliche Phantasie, mit der es kein Nobelpreisträger aufnehmen kann. Das Leben ist der beste Geschichtenschreiber, überlegte ich, während sich die Erzählung meines Freundes dem Ende näherte.

    »Und diese Metzgerei beziehungsweise Feinkost beziehungsweise Gaststätte, wo sich die jungen Leute kennengelernt haben, gibt es immer noch«, schloss er.

    Ich nickte. Auch ich kenne diesen Ort und diese Gasse, ich erinnere mich sogar an das Geschäft, bin mir aber nicht sicher, ob dort immer noch eine Metzgerei, ein Feinkostladen oder etwas in der Art drin ist. Vor Kurzem, als ich das Städtchen aufsuchte, in dem ich, nebenbei gesagt, geboren wurde, in das ich aber nie gern zurückkam, ging ich genau durch diese Gasse und blieb aus irgendeinem Grund vor dem Haus stehen, wo früher einmal das Geschäft war, von dem der Freund erzählt hat. Wie hieß es doch gleich? Was stand da auf dem Aushängeschild überm Eingang?

    »Dort werden jetzt Schuhe verkauft«, teilte ich dem Freund emotionslos mit, und wieder wollte uns der Wind unter allen Umständen über die Dächer der Altstadt tragen.

    »Wirklich? Vor einem Jahr war dort noch die Metzgerei mit der Feinkost. Ich weiß nicht, ob sie am Ende noch gut war, aber zu meiner Zeit war sie die beste. Als Schüler haben wir dort immer unsere Jause gekauft. Und das Mädchen, das dort angestellt war, hat Mojca geheißen! Sie hat so schön gelacht und war immer gut aufgelegt, nur wegen ihr sind wir hin. Sie war so sexy, was die für einen Vorbau gehabt hat. Und sie hat mit uns immer Späße gemacht. Vor dem Unterricht haben wir sie immer belagert, wegen ihrem Busen. Na ja, damals waren sie schon verheiratet, sie und Peter. Peter hat er geheißen, weißt du noch?«, fragte er mich schließlich.

    Ich zuckte die Achseln. Ich weiß nicht. An diese Details kann ich mich nicht erinnern, ich bin zehn Jahre jünger als er. Ich weiß aber von dieser Metzgerei und Feinkost, das kommt mir alles bekannt vor. So bekannt, als hätte ich die Geschichte von Mojca, der lauten, vollbusigen und kichernden Verkäuferin schon einmal gehört. Zweifellos habe auch ich meine Schuljause immer in diesem Laden gekauft, geht ja nicht anders, es war der einzige auf dem Weg zur Schule und wahrscheinlich überhaupt der einzige im Zentrum des verschlafenen Städtchens. Feinkost Mojca hat er geheißen, und später dann noch ein bisschen anders, Bistro Mojca, Gourmet-Bistro Mojca oder so ähnlich. Genau, jetzt hab ich’s wieder! Und da ist noch etwas: Fast alles, was mir der Freund erzählt hat, kommt mir jetzt vor, als hätte ich es erlebt. Der junge Peter, die junge Mojca, die Zeit nach dem zweiten Krieg, genauer gesagt die frühen Sechzigerjahre, das alles hat in mir gelebt wie eine Erinnerung, die zwar nicht meine eigene ist, die ich aber trotzdem aus Erzählungen kenne. Es gibt Geschichten und Bilder, die man gar nicht erlebt hat, an die man sich aber trotzdem erinnert, als wäre man dabei gewesen. Andere haben uns davon erzählt, und wir haben es nacherlebt. Wir waren ganz nah am Geschehen, haben es verfolgt, uns daran beteiligt, in Wirklichkeit aber waren wir damals noch nicht einmal auf der Welt. Als Mojca in dieser Metzgerei oder Feinkost bediente, war sie vielleicht achtzehn, das heißt, man schrieb das Jahr 1958. Und als Peter jeden Morgen vor der Theke stand und beobachtete, wie Mojca zwei Scheiben Extrawurst und eine dünne Scheibe Käse in seine Semmel legte, während er in Wahrheit ihren schönen, runden und einladend über der Vitrine wallenden Busen anstarrte, war auch er achtzehn Jahre alt.

    »Eigentlich«, korrigierte mich mein Freund, »war er ein bisschen älter als sie. Ich weiß nicht, wie viel, ein paar Monate.«

    Als die beiden sich kennenlernten, überlege ich, schrieb man das Jahr 1958, vielleicht 59. Mir aber kommt es vor, als wäre ich dabei gewesen, dabei war ich damals gerade mal geboren. »Kann es sein, dass diese Mojca auch später noch im Geschäft gearbeitet hat?«, fragte ich den Freund. »Also 1968, als ich zehn war?«

    Er überlegte, nippte an seinem Glas und sagte: »Auf jeden Fall. Auch in den Siebzigern und noch später hat sie dort gearbeitet. Ich glaube, Mojca und Peter haben den Laden irgendwann, als sie schon verheiratet waren, gekauft oder übernommen, was weiß ich. Ich glaube, er hat dann ihnen gehört. Mojcas Vater war bei der Geheimpolizei«, sagte mein Freund und streckte sich vertraulich über den Tisch zu mir herüber, als wäre es im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts immer noch gefährlich, gewisse Dinge aus der Vergangenheit in den Mund zu nehmen, »er war bei der Udba.« Er flüsterte und machte die Augen weit auf, um damit, wie ich vermute, das Schaurige und Geheimnisvolle des Gesagten zu unterstreichen. »Davor war er bei den Partisanen«, flüsterte er weiter, »ein hohes Tier bei den Kommunisten, geschult in Moskau, bei Stalin, dann war er ein noch höheres Tier bei der kommunistischen Geheimpolizei.«

    Ich hörte nicht mehr zu. Mein Freund neigt dazu, Menschen aus der Vergangenheit, insbesondere ehemalige Partisanen und ihre Gefolgschaft, sehr schnell in zwei Schubladen zu stecken: in die der bösen und blutrünstigen Kommunisten und die der Geheimdienstler. Wichtig für die kommende Geschichte ist vor allem, dass sich Mojca und Peter in der Metzgerei, dem Feinkostladen, kennengelernt, dass sie sich verliebt und auch geheiratet haben. Sie hat dann weiter dort gearbeitet, und das ist wichtig, weil damit wirklich die Möglichkeit besteht, dass auch ich sie vom Jausenkaufen gekannt habe. Je mehr ich an sie denke, umso lebhafter erinnere ich mich an die großgewachsene Genossin Verkäuferin Mojca, die immer gut aufgelegt war, immer lachte und immer etwas Witziges sagte, wenn sie sich über den Ladentisch zu mir, dem zehnjährigen Buben, hinunterbeugte und mir die in weißes Wachspapier eingewickelte Wurstsemmel überreichte. Auch ich ging vor allem ihretwegen gern in dieses Geschäft, da bin ich mir auf einmal sicher. Ich sehe sie vor mir. Sie ist etwas kräftiger gebaut, aber hübsch, dunkelhaarig, hat große strahlende Augen, immer ein Lächeln auf den Lippen … Plötzlich vermeine ich ihre Stimme zu hören. Ja, die Erinnerung an diese längst vergangene Geschichte ist auch die meine.

    »Schreibst du sie?«, fragte er mich noch einmal.

    »Ja.«

    »Schreib sie so, wie nur du es kannst«, schmeichelte er mir, »damit die ganze Wahrheit ans Licht kommt. Die ganze Qual. Das Leid, die Erniedrigung, der ungerechte und sinnlose Tod. Und am Schluss dann Vergebung, Versöhnung …«

    Ich schüttelte den Kopf.

    Mein Freund schaute mich verwundert an.

    »Ich werde eine Geschichte über das Leben schreiben.«

    »Aber das ist doch eine immanent politische Geschichte!«, sagt er, er brachte das Wort immanent fast nicht über die Zunge.

    Ich schüttelte den Kopf. »Jede Geschichte ist nur eine Geschichte über das Leben. Die Politik hängen wir den Geschichten später um.«

    Der Freund lächelte bitter. Er dachte wohl, dass ich die Geschichte und das, worum es ihm ging, nicht verstanden hatte. Aber ich hatte verstanden, nur anders, als er sich wünschte. Ich sagte: »Es ist eine fröhliche Geschichte.« Er sah mich noch erstaunter an und schüttelte nun seinerseits den Kopf. Mein Unverständnis enttäuschte ihn derart, dass er die Stange des Sonnenschirms losließ und sich abermals nachschenkte. In diesem Moment fuhr der Wind mit aller Kraft in das große Leinendach und hob es in die Luft, riss es auch mir aus der Hand, warf es herum und fetzte es wie das kaputte Segel einer alten Barkasse in die Ecke mit den Topfblumen, dem Griller und den Plastikstühlen. Die Terrasse über der Altstadt, unter der die grüne Ljubljanica schon seit Jahrhunderten friedlich dahinzog, verwandelte sich augenblicklich in ein zerwühltes Schlachtfeld. Wir sprangen auf, um zu retten, was zu retten war.

    Ich verstand das als Zeichen.

    Ich muss die Geschichte schreiben.

    Das Foto vor dem Gasthaus

    Der Ort heißt Dolina, Tal. Es mag dumm und phantasielos erscheinen, einen Ort so zu nennen. Vor allem, wenn der Ort tatsächlich in einem Tal liegt, einem Tal, das schier kein Ende nimmt.

    Alte Legenden erzählen, dass es früher genau hier einen riesigen See gegeben habe, einen See, so groß wie das Meer. Die Menschen, die an seinen Ufern lebten und ihn befischten, waren von einem besonderen Schlag. Sie waren große Egoisten, die einander hassten und selbst ihren Angehörigen weder Glück noch Erfolg gönnten. Als dies dem allmächtigen Gott zu Ohren kam, schickte er Zwerge aus, die prüfen sollten, wie es die Menschen mit der Güte, der Solidarität, der Menschlichkeit, der Liebe zu ihren Nächsten und den Fremden und so weiter hielten. Die Zwerge kamen zu den Menschen, als der Fang einmal richtig üppig war. Ihr habt so viele Fische, sagten sie, können wir auch welche haben? Die Menschen aber versteckten die prallvollen Körbe vor ihnen, davon kriegt kein Nachbar was und nicht mal mein Sohn … Ich wüsste nicht, warum ich euch welche geben sollte. Ihr Kreaturen, ihr fremdländischen, verschwindet! Sucht euch einen anderen See! An meinem Feuer habt ihr nichts verloren! Gott war enttäuscht. Aber nicht zornig. Es waren nicht viele, die um den See lebten, ihr Hochmut, Zorn, Neid, Egoismus und Eigennutz aber mussten bestraft werden, dachte Gott damals noch. Und er trug den Zwergen auf, in das umliegende Hügelland, das Grmada, Scheiterhaufen, genannt wurde, weil sich die dummen Menschen dort gegenseitig die Häuser anzündeten, einen Tunnel zu bohren, sodass der See durch das Loch abfließen und ein Tal entstehen würde. Erstaunt stiegen die Menschen hinab auf den Grund des Sees und errichteten dort ihre Behausungen. Weil sie dumm und phantasielos waren, nannten sie den Ort einfach Dolina. So soll es wahrhaftig gewesen sein.

    Lässt man die Märchen und Legenden beiseite, findet Dolina, der Ort, in dem die Geschichte spielt, Anfang des 13. Jahrhunderts erstmals Erwähnung. Die Babenberger und die Habsburger hielten die Hand über den Ort. Es gab dort ein Gericht. Der Ort war auch ein bekannter Handelsplatz. Die Türken brannten ihn zweimal nieder. Zur Zeit der Reformation war Dolina ein wichtiges Zentrum der Protestanten. Das Umland war reich und fruchtbar und von dichten Fichtenwäldern umgeben. Den Bach, der durchs Tal floss, nannten die Bewohner einfach Potok, Bach. Und bis in die nächstgrößere Stadt war es nicht so weit. Dolina hatte auch einen Bahnhof und war verkehrsmäßig gut angebunden, man konnte von hier nach Norden, in die Landeshauptstadt reisen, und auf der anderen Seite standen einem die südlichen Teile Europas und, wenn man wollte, der Weg nach Asien offen. Das Stadtrecht bekam der Ort erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, trotzdem war Dolina stets ein reiches und bedeutendes landwirtschaftliches Zentrum.

    Durch Dolina führt auch heute noch die Landstraße, die zugleich die Hauptstraße des Orts ist. Zu beiden Seiten stehen einstöckige Häuser, einige sind auch zweistöckig. Sie wurden zur Zeit der österreichisch-ungarischen Monarchie erbaut, weshalb sich der Ort nicht sehr von anderen im ehemaligen Kaiserreich unterscheidet. Hinter den Häusern erstrecken sich auf der einen Seite Felder, auf der anderen geht die Landschaft in bewaldetes Hügelland über. Seit jeher wurde hier Holzwirtschaft und Ackerbau betrieben. In der Umgebung gab es auch große Jagdreviere, in denen die Herren aus dem Kaiserreich ausgedehnte Jagden unternahmen. Die Wälder waren im Besitz dreier großer deutscher Adelsfamilien, die später auch in der Holzindustrie tätig waren. In Dolina gab es ein großes Sägewerk und auch eine zwischen den Kriegen errichtete Fabrik, in der Möbel hergestellt wurden. Das Land und die Wälder waren zum Großteil in deutschem Besitz. Über Dolina stand auch ein Schloss, wie die Einheimischen das dortige Gebäude nannten. In Wirklichkeit war es ein etwas größeres Landhaus, die Familienvilla des alten deutschen Geschlechts, dem der meiste Grund in der Umgebung Dolinas gehörte. Vor der Villa erstreckte sich eine Parkanlage mit alten Kastanienbäumen. Das Gebäude wurde schon im 19. Jahrhundert errichtet, genau an der Stelle, so wird erzählt, wo sich einst die alte Taborkirche befunden hatte. Die Besitzer des sogenannten Schlosses schrieben sich Eichhein. Von Eichhein.

    In Dolina gab es auch ein Gasthaus, dessen Eigentümer die Novaks waren. Zugezogene, neue Leute. Auch diese Namensgebung für jemanden, der nach Dolina zugezogen und darum neu, also ein Novak war, zeugt von der beträchtlichen Einfalt der Bewohner dieser Gegend. Das Tal hieß Tal, der Bach Bach und die neuen Leute waren eben die Novaks.

    Das Gasthaus in Dolina gab es schon lange. Wie die Bewohner zu erzählen wissen, haben dort viele wichtige Persönlichkeiten auf der Durchreise übernachtet. Sogar Napoleon soll dort genächtigt haben. Damals bürgerte sich auch der Name Francè ein, denn die französischen Soldaten ließen im Tal viele kleine Franzis zurück. Im Gasthaus Novak, und damit brüstet man sich in Dolina noch heute, seien sogar Metternich und Kaiser Franz Joseph abgestiegen. Nach dem Zweiten Weltkrieg erzählte man sich wiederum, dass auch Marschall Tito auf dem Rückweg nach Belgrad in diesem Gasthaus eine Nacht zugebracht habe, und zwar nachdem er auf dem Balkon der Universität in Ljubljana seine berühmte Rede Gruß an die befreiten Slowenen gehalten hatte. Nach den ausufernden Gelagen in der befreiten Hauptstadt waren Josip Broz und seine Mannschaft dermaßen müde, dass sie unterwegs ein wenig ausruhen mussten, und dafür suchten sie sich ausgerechnet Dolina und in Dolina das Gasthaus Novak aus.

    Die Novaks waren jedoch nicht nur Wirtsleute, sondern sie verwalteten gemeinsam mit den reichen deutschen Adelsfamilien jahrzehntelang den Ort und das ganze Tal. So wurde mit der Zeit aus dem Gasthaus auch eine Art Rathaus. Die anderen Bewohner dieses Gebiets waren zum Großteil arme oder verarmte Bauern, die den ganzen Tag im Sägewerk oder später in der Möbelfabrik arbeiteten, während ihre Frauen rund um die Holzhütten Gemüse zogen und Hühner hielten.

    Zwar änderten sich in der Zwischenkriegszeit die sozialen Verhältnisse im Ort, der Reichtum des Tals befand sich jedoch weiterhin in den Händen fremder Familien. Das neu entstandene Königreich war den reichen, alten Besitzern gewogen, so behielt in Dolina das Deutsche den Vorrang vor dem Slowenischen. Im Ort hatten zwei Familien das Sagen: Die deutschen, eigentlich bayrischen Eichheins, denen auch der Lebemann Oto angehörte, der sich hier seinen ständigen Wohnsitz eingerichtet hatte, und die Gasthausdynastie der Novaks, die Slowenen waren. Die Dorfprominenz verständigte sich auf Deutsch, obwohl Oto von Eichhein auch Slowenisch konnte. Er war ein leidenschaftlicher Jäger, ein Freund des Schnapses und der Bauernmädchen, weshalb er sich auch ein slowenisches Kauderwelsch angeeignet hatte, mit dem er, wie er fand, bei den jungen Tagelöhnerinnen leichter und schneller Einlass fand. In der Zwischenkriegszeit richtete Oto für seine deutschen Freunde große Jagdfeste aus. Er besaß auf den Waldhängen in der Umgebung Dolinas mehrere Jagdhütten, Schützenhäuser, wie er sie nannte, in denen er mit seinen Gästen wilde, zügellose Sauforgien veranstaltete. Um die Jagdhütten kümmerten sich seine Förster, die auch die jungen Bauernmädchen herbeischafften. Letztere machten gegen Bezahlung bei den Jagdfesten mit, und so manche hegte insgeheim auch die Hoffnung, Otos ständige Beischläferin zu werden oder vielleicht sogar mit einem seiner Freunde in den Norden zu ziehen. Doch der edle Oto von Eichhein hatte es ausschließlich und nur aufs Vergnügen abgesehen. Er war glücklich verheiratet und hatte zwei Kinder, einen Sohn, Erich, und eine jüngere Tochter, Maria. Für unsere Geschichte ist vor allem Maria von Eichhein wichtig, die 1930, im Alter von zwanzig Jahren, den ältesten Sohn des Gastwirts, Mihael Novak, kennenlernte. Er war siebenundzwanzig und kannte Maria schon seit seiner Kindheit, denn auch Mihael war in die deutsche Schule gegangen, hatte die verwöhnte Eichheintochter aber nicht leiden können, bis er eines Tages feststellte, dass sie sehr hübsch war. Bald wurde geheiratet. Oto Eichhein nutzte die Gelegenheit und richtete anlässlich der Hochzeit ein großes Jagdfest aus. Die Feier dauerte eine ganze Woche. Geladen waren Gäste aus allen Familienzweigen, sogar die entfernten Verwandten aus dem deutschen Norden reisten an. Der ganze Ort putzte sich heraus, im Archiv in der nahegelegenen Stadt gibt es sogar ein paar Fotos von diesem Anlass. Da ist die Hauptstraße mit Kränzen aus allen möglichen Blumen geschmückt, und vor dem Gasthaus Novak hat sich eine große Menschenmenge versammelt. Überall gibt es Aufschriften: Braut und Bräutigam … Willkommen! Die Leute tragen typisch deutsche Kleidung, in der sie wie uniformiert aussehen. Inmitten der Menschenmenge steht verschämt das junge Paar. Maria trägt ein helles Kleid, jedoch nicht ihr Hochzeitskleid, offenbar wurde das Foto ein bis zwei Tage vor dem Ereignis aufgenommen. Mihael trägt einen Jagdanzug und hat einen typisch bayrischen Hut auf. Beide wirken irgendwie scheu, die umstehenden Leute aber lächeln. Oto von Eichhein, der Brautvater, hat sogar die Arme erhoben und vermittelt so gar nicht den Eindruck eines Menschen von blauem Blut. Da das Fotografieren in jenen Zeiten ein sehr anspruchsvolles Handwerk war und die Gruppe beim Ablichten reichlich stillhalten musste, verdient die Vehemenz Otos von Eichhein umso mehr Beachtung. Denn um so verewigt zu werden, muss er die Arme eine ganze Weile in die Luft gehalten haben. Dies sagt zweifellos etwas über seinen wichtigtuerischen und sogar anmaßenden Charakter aus, denn selbst auf einem Foto, auf dem es vorrangig um das junge Paar geht, wollte er sich unbedingt in den Vordergrund drängen.

    Das Foto ist in der Tat merkwürdig. Es ist erblasst, gelblichbraun, und im Stadtarchiv hat es niemand sonderlich beachtet. Auf der Rückseite klebt ein Zettel mit den nötigsten Angaben: Entstehungsjahr: Frühjahr 1931. Vor dem Gasthaus Novak. Vermutlich an einem lokalen Feiertag. Das ist alles. Vergleicht man jedoch die Gesichter der Hauptfiguren Maria und Mihael mit späteren Fotos der beiden aus dem Jahr 1940, so lässt sich zweifellos sagen, dass es sich um das künftige Ehepaar handelt. Ihr Äußeres wie auch das Aussehen aller anderen, die sich vor dem Gasthaus drängen, ist historisch bedeutungslos. Im zwanzig Kilometer entfernten Stadtarchiv hat sich das Foto lediglich als volkskundliches Bilddokument einer bestimmten Atmosphäre zu einer bestimmten Zeit erhalten. Lediglich als: Vermutlich an einem lokalen Feiertag. Die einzelnen Personen spielen keine Rolle, beliebige Leute, die in der Zeit verschwinden und zu Atmosphäre werden, zu einer ethnografischen Momentaufnahme des pulsierenden Lebens in den Dreißigerjahren.

    Das Foto lässt auch weder erkennen noch erahnen, dass Maria schwanger war. Ihr Kleid ist in der Tat ein wenig weit, aber die Kleider haben damals so ausgesehen. Wenige Monate später, das heißt im Hochsommer, gebar sie ihrem Mann das erste Kind. Und ein Jahr später das zweite. Zwei Söhne, hintereinander. Und nach ein paar Jahren, 1940, kam der dritte. Drei Buben. Zwischen den ersten im Fieber der Verliebtheit in einem Aufwaschen gezeugten Söhnen und dem letzten lagen fast zehn Jahre. Dem Jüngsten gaben sie den Namen Peter. Er war es, der 1958 im Feinkostladen vor der bezaubernden, ebenfalls achtzehnjährigen Mojca stand und auf ihren üppigen Busen starrte, während sie sich vorbeugte und ihm über die Glasvitrine eine in Wachspapier eingewickelte Semmel mit zwei Scheiben Wurst und einer dünnen Scheibe Käse reichte.

    Die wahre Geschichte

    »Ich gebe dir die Nummer von einem Freund, der im Stadtarchiv arbeitet«, rief mein Freund, als wir uns wieder auf seiner Terrasse trafen, überschwänglich und begeistert, weil mich seine Geschichte interessierte. An diesem Tag war es windstill. »Dort kriegst du haufenweise Daten über das Leben in Dolina in der Zwischenkriegszeit und vor allem über die blutigen Ereignisse nach dem Krieg. Du wirst sehen, was für ein unglückliches Ende Maria und Mihael Novak genommen haben.«

    »Wenn ich die Geschichte schreibe«, antwortete ich ihm, »dann nicht als Rekonstruktion historischer Ereignisse.«

    »Wie dann?«, fragte der Freund überrascht. »Der Sinn von Geschichten ist doch, die Wahrheit zu erzählen.«

    »Und was ist das, die Wahrheit?«, fragte ich ihn und kam mir zugleich sehr albern vor – wie ein Lehrer in der Sonntagsschule, der seinen herausgeputzten Schülern etwas zu erklären versucht, von dem er selbst nicht viel Ahnung hat, und der deshalb große Worte schwingt, die möglichst klug klingen sollen. »Beim Geschichtenerzählen geht es nicht um die Wahrheit«, fuhr ich fort, »also, zumindest nicht um die historische Wahrheit, die sich sowieso nicht einfangen lässt.«

    Mein Freund sah mich nur verwundert an. Er dachte sich wohl: Da bin ich ja an den Richtigen geraten, echt!

    »Woher sollen wir wissen, was vor fünfzig oder siebzig Jahren tatsächlich passiert ist? Wir können die Umstände verstehen, vielleicht sogar in die Logik der Dinge und des Geschehens eintauchen, aber ist das die Wahrheit? Ist es wirklich so gewesen?« Ich sah seinen ungläubigen Blick, er blinzelte und er dachte sich wohl: Spiel dich nicht so auf! Sitzt da, trinkt meinen Wein und redet gescheit daher! Ich ließ mich nicht irritieren und redete weiter: »Nicht einmal die sogenannte Geschichtsschreibung, die vorgibt, eine genaue und exakte Wissenschaft zu sein, ist in der Lage, ein objektives Bild der Vergangenheit zu zeichnen. Schau dir doch an, wie unterschiedlich die Geschichtsdoktoren heute Dinge erklären, die noch gar nicht lange zurückliegen. Auch die Geschichte steht oft im Dienst aktueller politischer Interessen. In Wahrheit gibt es keine Objektivität, jeder sieht die Geschichte anders.«

    »Aber gewisse Tatsachen sind unumstößlich«, mein Freund wurde lauter, und es hörte sich an, als machte er sich auf einen heftigeren Wortwechsel gefasst. »Dass Unrecht geschehen ist, dass manche ohne Urteil verurteilt wurden, dass sie spurlos verschwunden sind …«

    Ich unterbrach ihn: »Das ist nur ein Teil der Geschichte. Was ist denn mit all dem, was dazu geführt hat, dass Unrecht geschehen ist, dass man sich gerächt hat, dass manche spurlos verschwunden sind? Die Geschichte ist immer eine Abfolge von Ereignissen, aber das ist nicht alles. Ihr liegen oft unvorhersehbare, irrationale menschliche Reaktionen und Handlungen zugrunde. Eine gute Geschichte wird vor allem das beschreiben, sie wird versuchen, die Menschen lebendig zu machen, sich in sie einzuleben, in ihre Gefühle, die beileibe nicht immer logisch und nachvollziehbar sind. Eine Geschichte darf nie im Dienst der Rache, der Wiedergutmachung von Unrecht stehen. Das ist nicht der Sinn des Erzählens.«

    »Du glaubst also, für eine gute Geschichte brauchst du kein Archiv, keine Daten?«

    Ich nickte: »Doch. Allerdings nur als Wissen, nicht als Grundlage einer Rekonstruktion. Die Wahrheit einer Geschichte liegt nicht in einem einzelnen tragischen Ereignis, sondern im Geflecht menschlicher Handlungen und Umstände, die zu einem bestimmten Ereignis geführt haben. Tatsächlich erschafft der Erzähler immer eine neue Geschichte, in der es um das Wesentliche geht und nicht um die Wiedergabe des realen Geschehens. Anliegen des Erzählers ist nicht, uns zu sagen, wie es wirklich war, das kann er gar nicht, sondern er will möglichst lebendig erzählen. Eigentlich geht es um überzeugende Erfindungen zu einem gegebenen Thema.« Ich merkte, wie ich mich in Widersprüche verstrickte. Ich kam mir immer blöder vor, wie ein Bierphilosoph in einem Gasthaus am Stadtrand.

    Mein Freund war verärgert, seine Augen gingen hin und her. »Dann willst du also eine erfundene Geschichte schreiben?«

    Ich nickte. »Ich glaube schon.« Und ich schüttelte den Kopf. »Obwohl, nein.«

    »Entscheid dich mal«, sagte er und schenkte sich ein Glas Weißen ein, mir nicht, was darauf hindeutete, dass er ein wenig böse war. Er war mit mir fertig, hielt das Ganze für Blödsinn, er würde gar nicht mehr weiterreden. Der Klügere gibt nach, dachte er sich.

    »Für die Geschichte spielt es echt keine Rolle, ob Mihael Novak blaue oder braune Augen gehabt hat. Wenn es der Erzähler für wichtig hält, dass sie blau sind wie die eines Filmstars, und dass die Mädchen wegen seines verführerischen Blicks an ihm kleben wie die Fliegen am Honig, dann werden sie in der Erzählung blau sein. Egal, ob sie in Wirklichkeit vielleicht braun waren.«

    »Demnach hat ein Braunäugiger nicht das Zeug zum Eroberer!«, erwiderte mein Freund und runzelte die Stirn, denn seine Augen sind braun.

    »Ich will damit sagen, dass der Erzähler, um sein Ziel zu erreichen, die Wirklichkeit verfälschen kann. Oder sich vielmehr eine neue, seine eigene Wirklichkeit erfindet.«

    »Dann hat deine Geschichte mit dem, was wirklich passiert ist, gar nichts zu tun«, sagte mein Freund schon sehr ungehalten. Nebenbei sah er über meine Schulter hinweg ins Innere seines Hauses, wo eine antike Pendeluhr an der Wand hing.

    »Wenn sich zwei ineinander verlieben, tun sie es unabhängig davon, welche Farbe ihre Augen haben oder ob ein Kleid mit großen roten Rosen gemustert ist, so wie das, das Maria Eichhein am 2. Dezember 1929 getragen hat, als sie im Feuerwehrhaus bei der Theatervorstellung Eine Handvoll Groschen zu viel dem sieben Jahre älteren Mihael Novak, dem Sohn des Wirts und Bürgermeisters, begegnet ist.«

    »Woher willst du wissen, dass das am 2. Dezember passiert ist?«, fragte der Freund überrascht.

    »Vielleicht war’s am 3., oder sogar am 23., unmittelbar vor den Feiertagen. Obwohl eine Begegnung vor Weihnachten zu symbolisch und damit ein wenig künstlich, fast schon gekünstelt wirkt«, sagte ich lächelnd. »Ihre schicksalhafte Begegnung findet besser an einem gewöhnlichen Tag statt, am 2. Dezember, und zwar bei einer Amateurtheateraufführung.«

    »Eine Handvoll Groschen zu viel. Ist das eine Komödie?«, fragte er.

    »Keine Ahnung, klingt nach einer Komödie, nach etwas Seichtem, Unverbindlichem, Dummem, Trivialem. Da ist nichts Schicksalhaftes in dem Titel, den ich eben erfunden habe.«

    »Du hast ihn erfunden!«

    »Ich sehe den Anfang ihrer Liebe als etwas Gewöhnliches, aber Leidenschaftliches. Deshalb hat Maria auch das weiße Kleid mit den großen roten Rosen angezogen. Solche Kleider trägt man im Sommer, sie aber zieht es im Dezember an. Rote Farbe, Leidenschaft, Begehren, Verführung. Sie ist zwanzig und nicht vergeben.«

    Der Freund nickte. »Stimmt.«

    »Sie hat einen Entschluss gefasst. Sie geht mit ihrem Vater Oto von Eichhein zur Veranstaltung im Feuerwehrhaus und nimmt die jungen Burschen in Augenschein.«

    »Mihael Novak ist kein junger Bursche mehr.«

    »Der sieben Jahre ältere Sohn des Bürgermeisters und Wirts. Eine gute Partie.«

    »Und wenn sie sich woanders schicksalhaft, wie du sagst, begegnet sind«, begann sich der Freund für die entstehende Geschichte zu erwärmen, »vielleicht auf einem Jahrmarkt? Dolina war bekannt für seine Märkte.«

    »In Wahrheit ist das nicht wichtig. Wichtig ist vor allem, dass sie schon im nächsten Frühling geheiratet haben und dass Maria Ende August ihren ersten Sohn zur Welt gebracht hat. Was bedeutet, dass alles sehr schnell passiert ist. Schon im Dezember. Leidenschaft. Reife. Rote Rosen. Die Vorstellung Eine Handvoll Groschen zu viel

    »Wenn es überhaupt stimmt«, sagte er nachdenklich.

    »Wenn was stimmt?«

    »Na, dass sie 1930 geheiratet haben.«

    »Das hab ich von dir.«

    »Ja. Weil es mir irgendwie logisch vorgekommen ist, wenn ihre älteren Söhne 1945 fünfzehn und vierzehn Jahre alt waren, und ihr jüngerer Sohn Peter, der eigentlich Wichtigste in dieser Geschichte, vier oder fünf.«

    »Aber sicher bist du dir nicht?«

    Der Freund schüttelte den Kopf.

    »Siehst du! Auch du hast dir was ausgedacht!«

    Verwirrt schüttelte er den Kopf. »Nein … Es war so.«

    »Gute Geschichten sind immer erfunden, sie müssen aber so erfunden sein, dass man ihnen mehr glaubt als der Wirklichkeit.«

    Er antwortete nicht, er starrte nachdenklich vor sich hin. Vielleicht hatte ich ihn überzeugt.

    »Bleibt es also beim 2. Dezember, den großen Rosen auf ihrem Kleid und der Premiere des Amateurtheaters im Feuerwehrhaus?«

    »Klingt interessant«, lachte er verlegen.

    »Interessant. Und real«, sagte ich.

    Jetzt nickte er entschlossen. »Ja«, sagte er, »hört sich real an.«

    Mihaels heimliches Sexualleben

    Mihael Novak, der Sohn des Wirts und Bürgermeisters, schloss die Handelsakademie in der nahgelegenen Stadt ab. Diese Ausbildung war damals sehr angesehen und der Kaufmannsberuf hochgeachtet. Aus der Handelsakademie gingen gut beschlagene Absolventen hervor, die etwas von Buchführung, Steuerrechnung und den Gesetzmäßigkeiten des Marktes verstanden … In gewisser Weise war diese Schule eine Vorläuferin der Wirtschaftsmittelschule.

    Mihaels Vater, der alte Ivan Novak, hatte den Entschluss gefasst, seinen Sohn im Gasthaus zu behalten. Er war das einzige Kind. Ivans Frau war nach der Entbindung am Kindbettfieber gestorben, das zu jener Zeit, Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, unter den Wöchnerinnen grassierte. Der alte Novak sollte nicht mehr heiraten. Um den kleinen Mihael kümmerte sich die Köchin Johanca, die auch die Geliebte des alten Novak war. Sie hoffte, der Witwer würde sich irgendwann einmal dazu durchringen, sie zu ehelichen. Doch dazu kam es nicht, sie starb an der Schwindsucht, als Mihael sieben Jahre alt war. Als die Köchin Johanca spürte, dass es mit ihr zu Ende ging, ließ sie aus Prekmurje, von wo ihre Familie stammte, eine junge Nichte kommen, die sich weiter um den alten Novak und um Mihael kümmern sollte. Johanca führte sie in die Küchenarbeit und auch ins Bett des alten Wirts und Bürgermeisters ein. Dann ging sie friedlich von hinnen. Auch die neue Beischläferin hielt nicht lange durch, keine zehn Jahre. Sie wurde von einem Pferd getreten, einige Monate lang siechte sie dahin. Mihael war damals schon neunzehn und hatte die Schule hinter sich. Eigentlich führte er das Gasthaus bereits eigenständig und er half seinem Vater, den Papierkram zu erledigen.

    Der alte Ivan Novak war ein kranker Mann, man weiß nicht genau, was ihm fehlte. Die Füße versagten, die Gicht plagte ihn, er hatte die Wassersucht und noch einiges mehr. Doch das hinderte ihn nicht daran, viel Zeit im Schloss von Dolina mit seinem besten Freund Oto von Eichhein zu verbringen. Die alten Knaben waren für ihre Ausschweifungen weithin bekannt. Sie teilten die Leidenschaft für die Jagd, für Obstler und für Hauswurst, aber auch für die jungen Tagelöhnerinnen mit ihren prallen, schamlosen Schenkeln. Die Macht im Ort lag in den Händen der beiden Männer. Der Großgrundbesitzer und Fabrikant Eichhein beschäftigte in seinen Wäldern, auf den Feldern, im Sägewerk und in der Möbelfabrik so ziemlich die meisten Einwohner Dolinas. Das Gasthaus der Novaks war wiederum das einzige Wirtshaus weit und breit, außerdem war dort auch das Postamt untergebracht, davor befand sich die Bushaltestelle und ihr gegenüber, auf der anderen Seite der einzigen Straße im Ort, der Bahnhof. Im Haus des Bürgermeisters wurden auch die anderen Fragen der örtlichen Verwaltung geregelt. Vor jeder Gemeinderatswahl besprachen die beiden Männer, üblicherweise in einer Jagdhütte, wie sie die Geschicke Dolinas und der näheren Umgebung in den nächsten Jahren zu lenken gedachten. Oto von Eichhein verfügte über eine einzige gute Eigenschaft: Er hielt Wort. Er versprach seinen Arbeitern und Tagelöhnern mehr Geld für den Fall, dass wieder der alte Novak gewinnen würde. Auf diese Weise war der Gastwirt seit Jahrzehnten auf den Bürgermeisterstuhl abonniert, und die Arbeiter im Sägewerk und in der Fabrik bekamen alle vier Jahre eine kleine Lohnerhöhung. Aber auch sonst hätte es mit dem Bürgermeisteramt keine Probleme gegeben, denn der alte Wirt hatte keine Konkurrenz. Die Macht war eben seit jeher, auch in der Demokratie, den reichen Adeligen und den etwas weniger reichen Wirten vorbehalten.

    Im Ort gab es noch einen anderen wichtigen Mann, den Pfarrer, Herrn Franc, der Alkoholiker war. Seine nicht weiter schädliche Trinkerei fand in der Obhut der beiden Autoritäten statt. Der alte Novak versorgte ihn mit Getränken und Kost, Oto von Eichhein wieder ließ der Pfarre alljährlich gewisse Beträge zukommen, heute würde man von Sponsorengeldern sprechen, mit denen der Pfarrer einmal im Jahr auf Urlaub nach Rom fuhr und einmal sogar nach Jerusalem. Und so war im Ort alles geregelt, alles eingespielt, alles unter Kontrolle. Im Übrigen war in Dolina und in der Umgebung traditionell der evangelische Glaube verankert, und auch die Eichheins hatten ihre religiösen Wurzeln in den nördlich gelegenen Gefilden Deutschlands, sodass sich um den versoffenen katholischen Pfarrer Franc im Grunde niemand scherte.

    In Dolina wurden Märkte, von Zeit zu Zeit Tänze und Fuhrmannsfeste veranstaltet. Es gab eine Schule und eine deutsche Lehrerin, die von der Familie Eichhein bezahlt wurde, weshalb der Lehrplan der deutschen Sprache und Kultur angepasst war. Des Öfteren veranstaltete der junge Mihael Novak, der immer offensichtlicher das Gasthaus des Vaters übernahm, im Gastgarten eine Filmvorführung. Dazu engagierte er den Kinooperateur aus der Stadt, der mit einem riesigen Kohlenbogenprojektor angeknattert kam, diesen im Garten unter den alten Kastanienbäumen aufbaute, gegenüber ein paar Leintücher aufspannte, und schon konnte die Vorführung beginnen. Doch die Ortsansässigen zeigten daran kein übertriebenes Interesse, neumodische Dinge machten ihnen Angst. Und so wollte das Kino, trotz Mihaels großem Wunsch, in Dolina nicht und nicht Fuß fassen. Sonst gab es im Ort keine Geselligkeiten. Die Burschen und Mädchen, die sich auf den gelegentlichen Festen und bei der Arbeit in der Fabrik kennenlernten, verloren keine Zeit mit langwieriger Tändelei. Sie trafen sich heimlich abseits der Hauptstraße. An Maiabenden war es fast unmöglich, auf den Heuböden einen freien Platz zu bekommen. Dolina war bekannt für seine unehelichen Kinder. Die klerikalen Kreise in der Stadt machten dafür die blasse Persönlichkeit des Pfarrers Franc und das umstürzlerische Naturell Otos von Eichhein verantwortlich. Unternommen wurde natürlich nichts, sorgten doch die alljährlichen Beiträge des alten Oto jedes Mal wieder für Besänftigung.

    Der junge Mihael machte nicht viel her. Er hatte eine schlechte Haltung, lange Beine und eine fahle Haut. Aber er hatte, ja, genau, blaue Augen, die ihm allerdings bei seinen Annäherungsversuchen nicht wirklich von Nutzen waren. Obwohl es im Volksmund heißt, dass blauäugige Burschen große Eroberer seien, traf dies auf Mihael nicht zu. Es stimmt schon, dass sich die Mädchen in seine tiefblauen Augen verschauten, aber schon bald schreckten sie vor seiner Staksigkeit und seiner nicht allzu freundlichen Miene zurück, die stets an einen Menschen denken ließ, der eben erfahren hat, dass ihm irgendwelche Rabauken das Haus angezündet haben. Mihael war nämlich nie guter Laune. Die Ortsbewohner schrieben dies dem Umstand zu, dass er mutterlos hatte aufwachsen müssen, und einige böse Weiberzungen dichteten ihm sogar ein schlechtes Gewissen an, weil die Mutter kurz nach der Entbindung gestorben war. Tatsächlich war Mihael schrecklich einsam. Er war ein wohlhabender und einflussreicher junger Mann, aber allein. In der Handelsakademie gelang es ihm nicht, Freundschaften zu schließen, zu Hause aber überließ der kränkelnde Vater und Bürgermeister dem Sohn immer mehr die Geschäfte und die Macht über den Ort. Eigentlich hatte Mihael überhaupt keine Wahl. Aufgrund seiner sozialen Position war er im Heimatort von den Altersgenossen isoliert, und sein scheues und zurückhaltendes Naturell machte jede Auflehnung gegen den Vater unmöglich. Vereinfacht und etwas grob gesagt: Mihael war ein schwankender Charakter. Sein stets leicht besorgter und betrübter Gesichtsausdruck war die Folge der Kluft zwischen dem Leben, das er zu führen genötigt war, und seinen geheimen Wünschen. Mihael besaß nämlich eine große Sammlung deutscher Abenteuerromane, die er pausenlos las. Seine Zurückhaltung, Scheu und sogar Unentschlossenheit resultierten wahrscheinlich aus der Machtlosigkeit angesichts der Frage, wie er seine heimlichen Wünsche und Begierden stillen könnte.

    Nur wenige wussten, wohin der junge Mann jedes Wochenende verschwand, für gewöhnlich samstagnachts, wenn das Gasthaus die Pforten schloss. Erst kurz vor dem Sonntagsessen kam er wieder zurück. Die Dienstboten waren überzeugt, dass er in seinem Zimmer Romane las oder heimliche Nachtausflüge zu irgendeiner Keuschlerstochter unternahm. Tatsächlich schwang er sich auf die Ladefläche des hintersten Waggons des Güterzugs, der um halb eins in der Station Halt machte, um den Wassertank aufzufüllen, fuhr so in die zwanzig Kilometer entfernte Kleinstadt, stahl sich wie ein Schatten in die Herrengasse Nummer sieben, klopfte dort an der kleinen Tür in der Ecke des Innenhofs und huschte in das verrauchte Innere des Armeekurbnhauses. Er erklomm die steile Treppe zum großen Dachboden, der in viele kleine Kabinen unterteilt war. Eigentlich war es ein Wabenbau aus winzigen Koben, die nichts als eiserne Feldbetten enthielten. Sie waren durch irgendwelche halbhohe Paravents oder gar nur durch improvisierte Vorhänge voneinander getrennt. In diesen Separees lebten Soldaten und Offiziere mit Damen verschiedener Altersstufen und Rundungen ihre erotischen Träume aus. Und hier erforschte Mihael allwöchentlich mit einer Dame, die Ungarisch sprach, seine und ihre Körpersäfte. Aus allen Kammern drangen Gestöhn, heftiges Atmen, Lachen, Fluchen, auch Weinen und Schläge, Schreie und freudvolles Juchzen, was den jungen Mihael noch mehr ermutigte, im Schoß der reifen, vollbusigen Ungarin alle Hemmungen abzulegen. Schon bald war er auf dem Dachboden des Hurenhauses in der Herrengasse neben der Reiterkaserne als der Herr Schlecker bekannt. Denn, und das machte schnell die Runde, er war besessen vom Vaginalgeruch der Ungarin, von den sämigen Säften, die er mit der Zunge zwischen ihren rosigen Schamlippen hervorzulocken verstand, bis sie ihm übers Kinn und auf die Brust troffen. Stundenlang machte er mit seinem Gesicht zwischen ihren Beinen rum, und erst am Schluss, für gewöhnlich in den frühen Morgenstunden, wenn das Bett schon so nass war, als hätte sich ein sommerlicher Regenschauer durch das Loch im Dach darauf ergossen (das Loch im Dach gab es tatsächlich, und wenn es regnete, deckten es die beiden mit einem Stück Armeezeltplane ab), erst dann bestieg er sie und rammelte sie wie eine läufige Hündin. Dann schlief er ein, und gegen neun, wenn es in seinem heimatlichen Dolina zur dritten Messe läutete, machte er sich wieder über sie her. Er wiederholte die Übung, während im Kurbnhaus alle schliefen oder wenigstens so taten, als würden sie schlafen, in Wahrheit aber lauschten sie den leidenschaftlichen ungarischen Flüchen und dem Schmatzen des triefnassen und aufgeweichten Geschlechts, gefolgt von heftigem Schieben und Stoßen, das um zwölf, genau zu Mittag, mit dem Glockengeläut aus der nahen Stadtpfarrkirche verschmolz. Dann zog er sich an, beglich die Rechnung und begab sich mit dem nächsten Zug nach Hause, wo er sich um eins zusammen mit seinem Vater Ivan Novak zum sonntäglichen Mittagsmahl niedersetzte.

    Damals war eine solche sexuelle Praxis sogar in den Bordellen eher die Ausnahme als die Regel. Die Männer klopften an die Tür im Eck des Innenhofs, suchten sich ein Mädchen nach ihrem Geschmack aus und gingen mit ihr in eine der abgetrennten Kabinen im Dachgeschoss, zogen den Vorhang zu, spülten ihr bestes Stück rasch im Lavoir mit einer leichten Jodlösung ab und steckten es dann unverzüglich, ohne spezielles Vorspiel, der Dame zwischen die Beine. Das Ganze dauerte, solange es dauerte, und das war’s. Gegen neuerliche Bezahlung konnten sie die Übung noch einmal oder auch mehrmals wiederholen. Sehr selten betätigte sich ein Kunde mit dem Gesicht und der Zunge zwischen den Beinen der Mädchen. Den Männern der damaligen Zeit erschien dies schmutzig und erniedrigend. Darum galt der junge Mihael als Sonderling, als seltsamer Vogel, als Perverser. Doch der Ungarin gefiel er; sie machte bei der Belegschaft im Kurbnhaus viel Werbung für ihn, und so manches Mädchen äußerte den Wunsch, einmal die Zungenfertigkeit des jungen Mannes auszuprobieren. Die Ungarin war eine besondere Frau, von der es hieß, dass sie abspritze wie ein Mann. Sie war eine jener Frauen, aus denen es im Schwall höchster Erregung hervorbrach wie aus einem Geysir, sodass der Verkehr zwischen Mihael und der Ungarin harmonisch war. Mitunter passierte es sogar, dass er ihr beim abschließenden Gerammel zum Gebammel der Glocken sagte: Ich liebe dich! Ich liebe dich! Sie verstand das nicht oder tat, als würde sie nicht verstehen. Später, als er schon mit Maria, der Tochter Otos von Eichhein, verheiratet war, erklärte sich diese die Sexualgewohnheiten ihres Mannes als eine Folge des Ablebens seiner Mutter bei seiner Geburt. Männer, die ohne Mutter aufwuchsen, sehnten sich danach, in sie zurückzukehren, sie auf andere Weise zu spüren, sich in den Frauenkörper zu lecken und so das Gefühl fehlender Mutterliebe zu kompensieren. Dergleichen Schwachsinn fand sich in den zu Anfang des 20. Jahrhunderts beliebten deutschen Schmökern, die sich mit der Sexualität und den sogenannten sexuellen Deviationen beschäftigten. Eines davon war das Buch des Österreichers Otto Weininger Geschlecht und Charakter, das jede Menge populistischen Unfug über die Geheimnisse der männlichen und weiblichen Sexualität enthielt. Wegen der ungewöhnlichen und kühnen Anschauungen war solcher Lesestoff sehr begehrt, und wie die große Mehrheit der damaligen gebildeten jungen Mädchen las Maria wahrscheinlich genau diese Bücher.

    Das Intimleben des jungen Mihael vollzog sich solcherart im Geheimen bis zum 2. Dezember 1930, als der Gastwirt und Bürgermeister Novak seinen Sohn nötigte, mit ihm ins Feuerwehrhaus zur Laientheateraufführung Eine Handvoll Groschen zu viel zu gehen, wo er dann neben der Tochter Otos von Eichhein, der zwanzigjährigen Maria, sitzen musste. Maria trug ein Kleid, das mit großen roten Rosenblüten auf weißem Leinen bedruckt war. Das Kleid wäre einer anderen Jahreszeit angemessener gewesen, jedoch zog sie es an, um ihre schönen, entblößten Schultern zeigen zu können. Alle im Saal starrten sie an. Mihael hingegen saß gleichgültig neben ihr, biss sich auf die Lippen und dachte, dass ihm der Vater den heutigen Besuch in der Herrengasse verdorben hatte, denn er würde dem geselligen Beisammensein nach der Vorstellung unmöglich ausweichen können. Er stellte sich vor, wie die reife Ungarin den Seim ihres Schoßes über sein Gesicht ergoss. Oto von Eichhein, der auf der anderen Seite neben seiner Tochter saß, glotzte auf die Bühne, klapperte mit den Augen und kicherte freundlich. Dort traten nämlich gleich mehrere Keuschlermädchen und -frauen auf, denen er in den letzten Jahrzehnten zwischen die Beine gekrochen war. Der alte Bürgermeister Novak saß neben seinem Sohn, sodass das junge Paar in der ersten Reihe Mitte gleichsam von den Vätern eingerahmt und so den Blicken aller ausgesetzt wurde, was in der Gemeinde etwas bedeutete und durchaus als Hinweis aufgefasst wurde. Der alte Novak verzog das Gesicht und schnitt Grimassen, die an das theatralische Lachen von Schauspielern auf der Bühne erinnerten, in Wahrheit aber hatte er tierische Schmerzen im Fuß. Die Gicht. Die geselchten Wildwürste, die ihm Oto von Eichhein mitgebracht hatte, waren zu viel des Guten gewesen.

    Dies geschah am 2. Dezember 1930, einem normalen Tag im normalen Leben irgendwo im südlichen Teil Europas. Schon im Frühjahr würde alles anders sein. Schon in wenigen Stunden. Schon am Ende der Vorstellung. Schon beim Applaus.

    Besuch im Stadtarchiv

    Ich telefonierte mit dem Freund meines Freundes, der im Stadtarchiv arbeitete. Ursprünglich hatte ich das gar nicht vorgehabt, aber dann verschlug es mich aus beruflichen Gründen in jenes Städtchen bei Dolina, wo meine Erzählung spielt.

    Ich hatte die Wahl, gleich wieder heimzufahren oder noch etwa eine Stunde in der Stadt, die ich nicht mochte, wo ich mich unglücklich fühlte und wo ich seit der Matura nicht mehr gewesen war, zu verplempern. Ich entschied mich fürs Verplempern und besuchte das Stadtmuseum.

    Früher befand sich dort das Museum der sozialistischen Revolution, nach 1990 wurde die Einrichtung geschlossen und das Museum in ein Stadtarchiv umgewandelt. Als wir Schüler waren, schleppten sie uns klassenweise in dieses Museum, in dem Partisanenuniformen, Partisanenwaffen, für die sich die Buben am meisten interessierten, aber auch Fotos von Partisanenkompanien und -brigaden zu sehen waren. Wir konnten die Abschiedsbriefe lesen, die die Kämpfer für die Freiheit im gegenüberliegenden Gefängnis geschrieben hatten, vielleicht eine Stunde, bevor sie im Innenhof erschossen wurden. Die Briefe waren auf die verschiedensten Stücke Papier geschrieben, einer war, wie ich mich erinnere, sogar auf ein Taschentuch gekritzelt. Die Briefe erschütterten mich schon als Kind. Sie lagen in Glasvitrinen, gelblich, weiß, mit abgestoßenen Rändern, manche waren nur herausgerissene Heftseiten, andere längliche Ausrisse aus Notizbüchern, geschrieben in kleiner, hübscher Schrift, in Großbuchstaben, Druckbuchstaben, Kursivschrift, in geraden oder in verwackelten Zeilen; manche Blätter waren von Rand zu Rand vollgeschrieben, auf anderen standen nur ein paar Zeilen. Später erschienen sie in dem Buch Abschiedsbriefe der Opfer für die Freiheit. Wir hatten es zu Hause, ich las es oft und weinte immer Rotz und Wasser. Dann versteckte ich es, um es nicht mehr zu finden. Ich hatte Angst davor, dieses Buch war meine erste Begegnung mit dem Tod. Zu wissen, dass die Menschen, von denen diese Zeilen stammten, wirklich erschossen worden waren, machte dieses Buch und alles, was darin stand, wahr. Wenn man die letzten Mitteilungen an seine Angehörigen, an die Menschen, die man gernhat, schreibt, erfindet man nichts, beschönigt man nichts. Man sagt alles zum letzten Mal, und alles ist blutig ernst.

    Dann holte ich das Buch wieder hervor, las es und weinte wieder. Etwas zog mich an, es war und ist immer noch das wahrhaftigste Buch, das ich kenne. Als Teenager erschütterte mich der Brief eines jungen Burschen am meisten. Der Brief war an einen Nachbarn gerichtet, den er in Wahrheit fast nicht kannte. Die Deutschen hatten alle seine Verwandten in Lager gesteckt, das Haus war leer. Der Bursche sollte in ein paar Stunden erschossen werden. Im Brief steht: Sie können sich vielleicht an mich erinnern, ich heiße Marko … Ihr Vater war mit meinem Vater bekannt. Heute Abend um sechs werde ich erschossen. Könnten Sie bitte kommen und meine Sachen abholen. Es ist nicht viel. Die Taschenuhr, die ich zur Firmung bekommen habe, und ein Kamm. Sie kennen sicher die Ocvirk Zala. Vorn bei der Bushaltestelle steht ihr Haus. Ich hätte gern, dass sie meine Uhr bekommt. Wenn Sie sich bitte bei ihr melden könnten. Vielleicht wird ihr das seltsam vorkommen, sie kennt mich ja nicht. Vielleicht kennt sie mich nur vom Sehen. Wir haben nie miteinander geredet. Heuer im Frühling habe ich hingehen wollen. Sonst geht es mir gut. Ich habe meinen Frieden gemacht. Ich freue mich, dass ich bald meine Lieben sehen werde. Bitte nochmals um Entschuldigung, dass ich Sie belästige.

    Ein Bursche, der niemanden auf der Welt hatte, wurde erschossen. Er hatte seinen Frieden gemacht. Er verurteilte niemanden, er jammerte nicht, bat nicht um Gnade. Eigentlich war es das, was mich am meisten erschütterte und zugleich mit einem gewissen Stolz und der Erkenntnis erfüllte, dass der Widerstand gegen den Besatzer eine moralische und ethische Tat war; heute weiß ich, dass sie auch eine staatsschöpferische war. Die Briefe der Geiseln formten meine Persönlichkeit. Männer und Frauen, Helden und einfache Menschen, Gläubige und Atheisten, Arbeiter und Kaufleute, die nicht vor ihren Exekutoren krochen, kein Einziger bat in diesen Briefen um Gnade oder bereute, was er getan hatte, ihr Tod war Widerstand. Und alle Briefe, ungeachtet der Namen und Vornamen, ungeachtet der Landstriche, in denen die deutschsprachigen Bewohner vielleicht in der Mehrheit waren, waren auf Slowenisch geschrieben.

    Aus dem Museum ist mir auch der dicke Stamm eines Apfelbaums in Erinnerung geblieben, der in der Aula gleich beim Eingang lag. Er stammte von einem der hunderten Apfelbäume, an denen die Deutschen Geiseln aufgehängt hatten. Ein schauerlicher Baumrest. Immer wenn wir ins Museum kamen, und in meiner Grundschulzeit von 1965 bis 1972 war das einmal im Jahr, lief ich schnell daran vorbei und versuchte, nicht hinzuschauen. Der Baum war ein Abbild des Todes. Mir war, als griffen seine verdrehten Äste wie die Knochenfinger des Todes nach mir. Natürlich war die sozialistische Erziehungsdoktrin falsch. Die Pflege eines Märtyrerkults, die Auseinandersetzung mit dem Tod kann auf einen jungen Menschen auf keinen Fall stimulierend wirken, ganz im Gegenteil. Vermutlich hätte es völlig gereicht, wenn wir das Revolutionsmuseum einmal besucht hätten, und zwar im richtigen Alter. Doch der Sozialismus betrieb einen geradezu panischen Kult des Helden- und Märtyrertums, der freilich eine reale Grundlage hatte, als fürchtete er, die Menschen würden die heroische Vergangenheit verwerfen und vergessen. Und die Menschen verwarfen und vergaßen sie trotzdem. Es liegt in unserer Natur, dass wir vergessen, dass wir undankbar auf uns selbst und unseren Nutzen fixiert sind. Das Leben kennt nur eine Richtung, vorwärts, immer nur vorwärts, ohne Rücksicht. Das fragile Gleichgewicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart zu finden ist vermutlich sehr schwer. Vielleicht ist gerade das die Aufgabe des Geschichtenerzählers.

    Das Gebäude, in dem früher das Museum der sozialistischen Revolution war und sich heute das Stadtarchiv befindet, steht mitten im Zentrum, gegenüber der großen gotischen Kirche, in deren Kapelle die mittelalterlichen Herren der Stadt und der Umgebung bestattet sind. Hinter der Kirche ist das Gefängnis. Es war schon immer ein Gefängnis, auch während der deutschen Okkupation. Eine Straf- und Folteranstalt. Im Gefängnishof wurden Geiseln erschossen, Frauen und Männer. Mädchen und Burschen. Über dem Haupteingang zum heutigen Stadtarchiv ist ein großer Balkon. Das Haus war früher, Anfang des letzten Jahrhunderts – vielleicht noch früher – die Residenz des Bürgermeisters, das Rathaus. Als ich klein war, erzählte mir meine Mutter jedes Mal, wenn wir daran vorbeigingen, dass Hitler von diesem Balkon zu den Bürgern der Stadt gesprochen habe, die stürmisch applaudiert und begeistert die Arme hochgerissen hätten. Die Stadt war nämlich von jeher ausgesprochen deutsch. Die Mehrheitsbevölkerung war zwar slowenisch, den größten gesellschaftlichen Einfluss hatten aber die Deutschen. Alle reichen Kaufleute waren Deutsche, die übrigen Einwohner waren Deutschtümler, den Deutschen und der deutschen Kultur zugetane Slowenen. Meine Mutter erzählte mir, dass auf der Straße schon vor dem zweiten Krieg fast kein slowenisches Wort zu hören gewesen sei. Kurz: Hitler begrüßte vom Balkon des Hauses, in dem sich heute das Stadtarchiv befindet, die Bürger und bellte ihnen in rauem Deutsch sein Willkommen im Tausendjährigen Reich entgegen. So irgendwie soll es gewesen sein. War es aber nicht. Hitler hat nie von diesem Balkon gesprochen. Ich bezweifle, dass er überhaupt je durch dieses deutschtümelnde Städtchen gefahren ist, obwohl der Großteil der Bevölkerung das glaubt. Wir Menschen denken uns kleine Geschichten aus, wir mögen das, wir tragen zum großen Erfinden bei. Und so manche historische Tatsache ist teilweise oder zur Gänze erfunden. Auch heute stellen die Historiker Ungenauigkeiten und Fehler in manchen historischen Erklärungen fest. In gewisser Weise hat Hitler aber wirklich von diesem Balkon gesprochen. Er hat von allen Rathausbalkonen in allen Ländern, die er sich unter den Nagel gerissen hat, gesprochen. In Wahrheit ist es völlig egal, ob er tatsächlich von dort oben auf die ihm begeistert zujubelnde Menge heruntergebellt hat. Er hat es in einem symbolischen, metaphorischen Sinn getan. Er ist auf allen Balkonen im Land gestanden und war bei jeder Erschießung eines Fünfzehnjährigen dabei. Er ist hinten gestanden, hinter dem Exekutionskommando, hat gekichert, sich die Eier gekratzt und geschrien: Schießt! Tötet! Schießt! Tötet! Schießt! Tötet! Und das ist die Wahrheit.

    »Was genau interessiert Sie?«, fragte mich der Freund meines Freundes, als ich in seinem Büro stand.

    »Ich weiß es nicht«, sagte ich und zuckte die Achseln.

    »Dann werde ich Ihnen kaum helfen können«, lächelte der dürre, lange Mann undefinierbaren Alters. Er sah genauso aus wie die Archivare und Beamten in Kafkas Geschichten. Er hatte sogar einen mausgrauen und pedantisch gebügelten Kittel an.

    Ich lächelte auch. Natürlich war der Herr überzeugt, dass ich über seine Bemerkung lächelte, seinen leicht ironisch intonierten Satz: Dann werde ich Ihnen kaum helfen können, aber so war es nicht. Ich lächelte über die Erkenntnis, wie sehr sich unsere stereotypen Vorstellungen über manche Berufe bestätigen. Der Beamte hager, der Bürgermeister dick, und so weiter. Ich war mir aber nicht ganz sicher, ob sich schmächtige und ausgetrocknete Menschen mit langen knochigen Fingern selbst den Beruf eines Archivbeamten aussuchten, oder ob der Beruf es war, der sie auswählte. Über diesen Gedanken lächelte ich, und ich sagte: »Eigentlich weiß ich es. Mich interessiert der Nachbarort Dolina, und zwar das Leben dort zwischen den Kriegen, während der Okkupation und unmittelbar nach dem Krieg.«

    »Oh, das ist aber viel!«, sagte der Herr und machte große Augen.

    »Mich interessiert vor allem das Bildmaterial«, überhörte ich seine Bemerkung. »Und mich interessieren zwei Familien …« Ich sagte ihm die Namen und erklärte ihm kurz den Sinn meiner Recherche. Der Herr nickte, lachte durch die Nase, fuhr sich mit der Hand übers Kinn und sagte: »Wir digitalisieren gerade unsere Bestände, haben aber mit den Sachen begonnen, die am häufigsten verwendet werden, und das ist sicher nicht die Geschichte des Ortes, der Sie interessiert. Dolina ist ein ganz unbedeutender Ort. Na, ich kann Ihnen trotzdem zeigen, was wir haben.«

    Er ließ mich in einer Art Leseraum Platz nehmen und verschwand. Während ich wartete, schaute ich aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite sah ich die weiße Mauer des Kirchengebäudes. Ich schaute ins Weiße. Wie passend, dachte ich mir, vor mir der leere Tisch, und wenn ich den Blick hebe, das Weiß der Kirchenmauer. Nichts. Ein leeres Blatt Papier, eine weiße Fläche, die Leinwand, auf die bald Bilder und Porträts projiziert werden. Das Weiß als das Geheimnis, das sich offenbaren wird, aber auch das Weiß als das Vergessen, das kommt.

    Der Archivar legte einen recht umfangreichen Stapel Fotografien, die in Mappen geordnet waren, und ein paar Bücher vor mir auf den Tisch. »Es ist nicht viel. Wie gesagt, der Ort, der Sie interessiert, wird selten nachgefragt«, sagte er und lächelte wieder, diesmal über sich selbst und seine geistreiche Ironie.

    »Ich möchte Sie etwas fragen«, sagte ich.

    Er nickte.

    »Ich weiß noch, dass unten beim Eingang früher ein Baum gelegen ist, also ein vertrockneter Baum, der Stamm eines Apfelbaums mit Ästen. Sie wissen schon … Die Deutschen haben Geiseln aufgehängt.«

    Er machte wieder nur große Augen.

    »Keine Ahnung«, sagte er. »Als ich hergekommen bin, war da kein Baum, kein Stamm.«

    Ich nickte.

    »Ich bin erst ein knappes Jahr hier, davor war ich Turnlehrer. Ich bin interimistisch hier, bis geklärt ist …«, jetzt brach er ab, er würde den Satz nicht beenden. »Ich habe eine Fachprüfung abgelegt und bin jetzt hier«, sagte er noch und ging. Diesmal ohne Ironie, fast ein wenig verärgert.

    Ich vergrub mich in die Fotos und Bücher, die er mir dagelassen hatte. Schwarz-weiße und gelbliche Fotos. Zuerst die Zeit zwischen den Kriegen, dann der Krieg und die Nachkriegszeit. Nichts Besonderes. Ein paar Landschaftsaufnahmen. Felder, Wald, Heuharpfen am Straßenrand. Dann die Hauptstraße, die einzige Straße in Dolina. Zu beiden Seiten Geschäfte, über den Türen Aushängeschilder, die meisten deutsch beschriftet. Auf halber Höhe ein großes weißes Haus. Auf der einen Seite der großen Fassade steht Rathaus, in der Mitte sieht man die Aufschrift Gasthaus. Es war zugleich Gemeinde- und Wirtshaus, nichts Ungewöhnliches für so einen kleinen Ort. Dann sind da noch ein paar Straßenaufnahmen mit Pferdegespannen. Aus dem Stapel ziehe ich sogar das Foto einer Werksanlage, zu der ein Bahngleis führt. Ich nehme an, das ist die Möbelfabrik. Dann finde ich ein paar Aufnahmen vom Sägewerk und sogar ein Gruppenfoto der Arbeiter, die vor der Säge posieren wie die Feuerwehr vor dem Löschfahrzeug. Finstere Mienen, vorwiegend Männer, dann sehe ich auch ein paar Frauengesichter. Die Männer tragen zerknautschte Hüte, die Frauen Kopftücher. Auf dem Foto steht: Eichhein-Säge, 1938.

    Der nächsten Mappe, auf der 1945–1950 steht, entnehme ich weitere Fotos. Auf ihnen ist dieselbe Straße zu sehen, aber ohne deutsche Beschilderung. Aus den Häusern hängen Fahnen. Auf der Straße sind sogar ein paar Leute. Wenn man genau schaut, sieht man auf einem der Fotos, nicht größer als zehn mal fünf Zentimeter, dass die Leute Gewehre geschultert haben. Das Partisanenheer, das den Ort befreit hat. Ein Partisan auf einem Schimmel mitten auf der Straße. Ein anderes Foto zeigt das Gast- und Rathaus, aber die Aufschriften sind weg. Vor dem Gebäude steht ein Militärlastwagen.

    Ich blättere in den Büchern, die mir der ehemalige Turnlehrer dagelassen hat. Eine Art agrarpolitisch-geografischer Bericht. Ich werfe einen Blick ins Inhaltsverzeichnis. Ich finde Angaben zur Bevölkerung unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg. Dolina hatte 843 Einwohner. Mit den Weilern, die damals laut Kataster demselben Verwaltungssprengel angehörten, waren es sogar 3822. Die meisten waren Kleinbauern, die in Eichheins Sägewerk und Möbelfabrik arbeiteten. Ich finde auch die Information, dass von 1934 bis Kriegsende Mihael Novak, Sohn und Nachfolger des Gastwirts Novak, Bürgermeister des Orts war, auch nichts Ungewöhnliches für die damalige Zeit. 1934, als er Bürgermeister wurde, war Mihael Novak 31 Jahre alt. Dann war er bis 1945 im Amt, weiter steht hier nichts.

    Ich nehme das nächste Buch. Es beschäftigt sich mit der Arbeiterbewegung in der gesamten Region. Das Buch wurde in den Sechzigerjahren geschrieben und herausgegeben und hat dementsprechend eine politische Schlagseite. Dort steht: … schon sehr früh organisierten sich die Arbeiter in der Eichhein-Säge und in der Fabrik für Holzprodukte unter der Führung der kommunistischen Partei. Der führende Organisator war Genosse Mirko Bregar, Gebietssekretär der illegal operierenden kommunistischen Partei. Schon 1941, gleich nach der Besetzung des Ortes durch die Okkupationsarmee, organisierte der Volksheld Silvester Grabner eine Partisanenkompanie, die den ersten militärischen Angriff in der Gegend der Grmada durchführte und die Eichhein-Säge in Brand setzte. Die Deutschen erschossen als Gegenmaßnahme am Bahndamm zehn Geiseln. Später wuchs die Kompanie zu einem Bataillon an, das aufgrund eines Verrats in einen Hinterhalt geriet, bei dem alle Kämpfer ums Leben kamen. Silvester Grabner starb den Heldentod. Die paar Absätze über

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