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Wenn der Berg ruft (eBook): Ein Bergkirchweih-Krimi - Frankenkrimi
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Wenn der Berg ruft (eBook): Ein Bergkirchweih-Krimi - Frankenkrimi
eBook304 Seiten4 Stunden

Wenn der Berg ruft (eBook): Ein Bergkirchweih-Krimi - Frankenkrimi

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Über dieses E-Book

Tote wie Fallobst und das schon im Frühjahr. Während in Erlangen die Vorbereitungen für die Bergkirchweih auf Hochtouren laufen, sorgen mysteriöse Leichenfunde für Aufsehen. Zuerst stolpert der eher erfolglose Radioreporter Ernst Pier über die Leiche des seit Monaten vermissten Brauereibesitzers Albert Adler, dann wird während der Vorbereitungen zur Bergkirchweih in einem Kellerstollen ein Massengrab entdeckt. Die Polizei vermutet im ersten Fall Suizid, im zweiten ein Verbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg. Doch als sich weitere unerklärliche Morde rund um Erlangen ereignen, werden Ernst Pier und sein Freund Nero Kaiser, seines Zeichens Privatermittler, in den Fall hineingezogen. Sie kommen dahinter, dass die Gründe aller Morde tatsächlich in der Vergangenheit liegen und die Brauereifamilie Adler im wahrsten Sinne des Wortes Leichen im Keller hat.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum3. Sept. 2007
ISBN9783869133140
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    Buchvorschau

    Wenn der Berg ruft (eBook) - Lucas Bahl

    Eltern

    I · Schnee

    Zuerst hielt er die Hand für einen Ast. Seine verdorrten Zweige griffen wie Finger nach der im Wind flatternden Plastikplane. Fleischfarben war die Hand nicht. Nicht mehr ... Das hing vielleicht mit dem grauen, regenverschatteten Licht des Tages zusammen. Dem Kalender nach stand der Frühling vor der Tür. Seinem Gefühl nach war es Herbst und de facto Winter, aber immerhin hatte es endlich aufgehört zu schneien. Die Regentropfen, die seit einem Tag wie kleine Wasserbomben die Schneedecke durchlöcherten, waren da auch keine Verbesserung, weder für seine Gemütslage noch für die Sicht. Doch dann erkannte er nach wenigen Schritten, dass es sich bei dem Gebilde, das da aus der Schneewehe ragte, nicht um ein Stück Holz handeln konnte.

    Der Wind war immer noch eisig. Bisher hatte ihn der anthrazitfarbene, gut gefütterte Mantel einigermaßen davor geschützt, doch jetzt breitete sich mit einem Schlag die Kälte in ihm aus, so als stünde er nackt im wadenhohen, pappigen Schnee.

    Dabei hatte er nur eine Abkürzung nehmen wollen. Quer durch das Waldstück bis runter zum Kanal. ›Wenn ich schon nach Baiersdorf fahren muss, um den Bürgermeister wegen des Kirchenglocken-Urteils zu interviewen, dann kann ich die Gelegenheit nutzen und einen Spaziergang machen‹, hatte er sich gedacht. ›Einen langen Spaziergang.‹ Der Wald, der sich zwischen der fränkischen Meerrettichmetropole und Röttenbach ausbreitete, lud dazu ein. Schlechtes Wetter hin oder her.

    Nachdem er zwanzig Minuten O-Ton – vom Bürgermeister und seinem Kontrahenten – für einen Beitrag von maximal eineinhalb Minuten in seinem Sony abgespeichert hatte, war er aufgebrochen, hatte in Wellerstadt die hübsche, alte Brücke über die Regnitz genommen, etwas später die ­weniger attraktive über den Kanal, war dann ein kurzes Stück auf dem Kanaldamm in Richtung Hausen gelaufen und bald darauf nach links in den Wald abgebogen, noch lange bevor er in die Nähe der Hau­sener Schleuse gekommen war. Oben auf dem Damm hatten ihn Wind und Wetter gebeutelt, sodass er den ­schneematschigen Boden unter den Bäumen schon fast begrüßte.

    ›Immer noch besser, als diesem Ekelwetter von allen Seiten ausgesetzt zu sein!‹, dachte er und zuckte beim Anblick seiner nagelneuen Stiefel, die bis in Knöchel­höhe eine undefinierbare Farbe angenommen hatten, resigniert die Schultern. ›Es gibt kein schlechtes Wetter, nur schlechte Kleidung‹, schoss es ihm mit der unverkennbar oberlehrerhaften Stimme seines Vaters durch den Kopf, den er und seine beiden Brüder nicht nur wegen seiner platten Sprüche gefürchtet hatten, sondern auch wegen seines verbissenen Eifers, mit dem er das allwöchent­liche Ritual des Sonntagsspaziergangs, ungeachtet jeglicher klimatischer Verhältnisse, zu zelebrieren pflegte.

    Der eisige Griff, der sein Herz innerlich gepackt hielt, ging direkt von der Hand aus, die neben dem Holzstoß wie die Überreste eines vom Sturm gefällten jungen Baums hochragte. Trotz der Erstarrung, die ihn in einen Eisklotz zu verwandeln drohte, zwang er sich, noch einige Schritte auf sie zuzugehen. Er bewegte sich mechanisch, so wie ein Spielzeugroboter. Es waren eindeutig menschliche Finger, die vor ihm in die Luft griffen. Und der Wind tobte so heftig in den Bäumen, dass es aussah, als winkten sie ihn immer näher heran.

    »Das perfekte Szenario für einen Horrorfilm«, würde er später am Abend seinem Freund Nero berichten, »in diesem Augenblick habe ich fast damit gerechnet, dass die Klaue nach mir greifen würde, sobald ich in Reichweite käme ...«

    Erst einige Gläser Don Pascual später würden dann am Abend zumindest die Kühltruhentemperatur in Herz und Magen vertreiben. Außerdem würde der Wein helfen, Nero gegenüber betont locker aufzutreten – das Wort »cool« mochte er im Moment wirklich nicht. Nicht nur, weil sein Freund gewissermaßen vom Fach war, sondern auch wegen der ironisch hochgezogenen, rechten Augenbraue, die Nero fast immer dann zum Einsatz brachte, wenn man ihm von ungewöhnlichen Vorfällen berichtete.

    Der Arm ragte aus dem Schnee empor.

    Ellbogen, Oberarm und Schulter waren noch von einer Schneeschicht bedeckt, der Regen hatte aber inzwischen auch einen Teil des Kopfs der Leiche freigelegt, und es war der Blick des Toten, der ihn noch wochenlang bis in seine Träume verfolgen sollte, was jedoch nicht nur an den wie in einer alten Fotografie zwischen Erstarrung und Entgleisung fixierten Gesichtszügen lag, sondern vor allem daran, dass er den Mann kannte, über dessen Leiche er fast gestolpert wäre. Das aufdringliche Knattern der Plastikplane im Wind, die über den Holzstoß gespannt worden war und die sich an der Ecke, wo die Leiche lag, losgerissen hatte, rief ihn aus seinem Schock zurück in die Realität. Er spürte, dass er einige Momente lang im Begriff gewesen war, aus Furcht und Panik in ein imaginäres Irgendwohin abzudriften, wo es keine Kontrolle mehr über das Hier und Jetzt gegeben hätte.

    Plötzlich beneidete er die zart besaiteten Damen des 18. Jahrhunderts, die bei geringeren Anlässen in den ­wohligen Zustand der Ohnmacht gesunken waren, aus dem sie von starken Kavalieren mittels Riechfläschchen und vorsichtigem Öffnen der Mieder – vor allem durch das Öffnen der Mieder! – wieder zurückgeholt worden waren.

    Dann verscheuchte er mit einer wütenden Geste die Gedanken an Mieder und Riechfläschchen und nestelte mit zittrigen Fingern endlich sein Handy aus der Tasche.

    »Natürlich hatte ich es ausgeschaltet!«, blaffte Ernst später am Abend heftiger als angemessen. »Ich lass mich doch ­während meiner Spaziergänge nicht durch Anrufe von meiner Redaktion oder wem auch immer nerven ...«

    In einer wirren, unnötige Details hervorhebenden Erzählung schilderte er seinem Freund Nero den Leichenfund. Er nahm einen tiefen Schluck von dem samtig-herben Rotwein aus Spanien und atmete mit einem ebenso tiefen Seufzer aus. Erst jetzt begann er zu spüren, dass ihn die Geschichte anscheinend doch mehr mitgenommen hatte, als er sich eingestehen wollte.

    ›Als Journalist solltest du wirklich abgebrühter sein‹, mahnte eine seiner inneren Stimmen, ›denk an die Kollegen im Irak oder in Afghanistan ... So was müssen die sich jeden Tag anschauen, und dort sind die Leichen meist in einem wesentlich schlimmeren Zustand ...‹ Er war froh, dass er nur ein kleiner Lokalreporter war, der, wohl behütet und ohne allzu ehrgeizige Ambitionen, im Schoß des Bayerischen Rundfunks sein Auskommen gefunden hatte.

    »Und du hast die Redaktion angerufen, bevor du die Polizei verständigt hast?«, fragte Nero ungläubig.

    »Das war doch Ehrensache«, erwiderte Ernst, »aber ich hätte es genauso gut auch umgekehrt machen können. Schließlich haben mich unsere uniformierten Freunde und Helfer noch mindestens eine Viertelstunde in dem Sauwetter warten lassen, bevor sie sich endlich bequemt haben zu kommen.«

    »Es war für sie ja auch wirklich der nächste Weg«, sagte Nero trocken. Der Wald zwischen Baiersdorf und Hausen reichte an einigen Stellen bis an den Kanal heran, oft lag nur ein schmaler Streifen Acker oder Wiese zwischen dem Weg am Kanal und den Bäumen.

    »Wenn du willst, kommst du da auch mit dem Auto hin«, erwiderte Ernst.

    Er wunderte sich immer noch, mit welcher Abgebrühtheit er später nach Nürnberg ins Studio gefahren war und seinen Beitrag über den Fund der Leiche des seit Dezember vergangenen Jahres vermissten Erlanger Brauereibesitzers Albert Adler fertig gestellt hatte. Selbstverständlich ließ er in der Meldung unerwähnt, dass er selbst es gewesen war, der die Leiche gefunden hatte. Danach schrieb und schnitt er die eineinhalb Minuten über den Baiersdorfer Kirchenglocken-Streit und war stolz: Er hatte seine Arbeit gemacht.

    Die sich zerfasernde Erzählung des Vorfalls, die Nero von Ernst hörte, unterschied sich gravierend von dem Radio­bericht, obwohl sie beide das Gleiche aussagten. Doch Nero kannte die Rundfunkfassung nicht, und er bekam auch keine Langfassung oder »extended version« zu hören, sondern den ganz privaten Remix seines Freundes.

    Ernst wunderte sich noch immer darüber, dass der Polizist, der seine Personalien aufgenommen hatte, mehr an ihm und seinen Daten interessiert gewesen war, als daran zu erfahren, um wen es sich bei dem Toten handelte. Dabei war das doch die eigentliche Sensation. Eine beklemmende Sensation, ohne Frage, aber eine für die Region wichtige. Möglicherweise hatten sogar die Münchner seinen Beitrag übernommen. Das würde ihm mit dem Bericht über die Baiersdorfer Kirchen­glocken nicht so schnell passieren. Er schmunzelte halb­herzig. Der würde da stecken bleiben, wo er hingehörte. In den Regionalnachrichten von Studio Franken.

    »Sie heißen also Bier?«, hatte der Polizist ihn gefragt.

    »Pier«, erwiderte er knurrend und deutete mit dem Finger aus dem beschlagenen Fenster des VW-Busses, in dem sie saßen. »Hören Sie, da draußen liegt die Leiche von ...«

    »Schon gut, das sagten Sie schon. Und Ihr Vorname ...?«

    »Sagen Sie, interessiert Sie das überhaupt nicht?«

    »Doch, aber da kümmern sich jetzt die Kollegen drum. Sie heißen also Bier«, wiederholte der Beamte und tippte auf den Journalistenausweis, der vor ihm auf der kleinen Platte des Klapptischs lag. Inzwischen standen mindestens ein ­halbes Dutzend Einsatzwagen auf dem Kanaldamm, und trotz des Dauerregens hatten sich einige Schaulustige eingefunden, die von den Polizisten daran gehindert wurden, sich über dem halb verschneiten, halb matschigen Feld dem Waldstück zu nähern.

    »Sagen Sie«, fuhr der Polizist fort, »ist das ein Künstlername? Nachname Bier, Vorname Ernst?«

    »Pier«, zischte er wütend. »Mit ›Paula‹!«

    »Ja, ja, hab schon verstanden«, der Beamte redete ungerührt weiter.

    Ernst seufzte.

    Der Rest der Fragen plätscherte an den Ohren des Reporters vorbei wie das Wasser einer Toilettenspülung. Laut genug, um es zur Kenntnis zu nehmen, jedoch definitiv zu eintönig, um es länger als über den Augenblick hinaus im Gedächtnis zu behalten.

    Obwohl er mittlerweile 35 Jahre Zeit gehabt hatte, sich an seinen fast bierernsten Namen und die damit verbundenen Scherze und Veralberungen zu gewöhnen, war das Gegenteil der Fall. Jede Situation, in der er sich Fremden vorstellen musste, wurde für ihn zum Drahtseilakt. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund Nero Kaiser, der um ein Vielfaches souveräner mit seinem sprechenden Namen umzugehen vermochte.

    ›Kaiser Komma Nero klingt aber auch wesentlich besser als der Name, mit dem ich geschlagen bin‹, dachte Ernst resigniert.

    Jedenfalls war er lange davon überzeugt gewesen, dass Nero ein wesentlich unbelasteteres Verhältnis zu seinem Namen hatte als er. Bis der ihm einmal erzählt hatte, nachdem sie unter Zuhilfenahme zahlloser Gläser billigen Weins durch mindestens ein halbes Dutzend Erlanger Kneipen gezogen waren, dass auch ihm der Spott wegen seines Namens gelegentlich auf die Nüsse ging. Aber eben nur gelegentlich. Es war längst jenseits der Sperrstunde gewesen, als sie feierlich den »Club der sprechenden Namen« gegründet und mit weiteren Schoppen besiegelt hatten.

    II · Atem

    Mit den Toten ist es nicht anders als mit den Lebenden; sobald sie keine Schlagzeilen mehr machen, geraten sie in Vergessenheit – zumindest für die Öffentlichkeit. Es war mittlerweile April, aber außerhalb Erlangens sollte es noch immer Stellen geben, an denen sich der Schnee des letzten Winters hielt. Das hatte ihm zumindest Ernst erzählt, der Tag für Tag seinen Reporterpflichten nachkommend, im Land der Franken unterwegs war. Nero hätte sich mit zu ihm in den klapprigen Wagen setzen und ihn begleiten können. Zu tun gab es für ihn derzeit nämlich nichts. Doch Streikposten zu interviewen oder mit dem Vorsitzenden einer Freiwilligen Feuerwehr anlässlich eines anstehenden Jubiläums zu sprechen, war nicht unbedingt das, was sich Nero als Traumjob vorstellte. Für ihn taugte es noch nicht einmal dazu, die Zeit totzuschlagen. ›Aber immer noch besser, als in dem Wohnklo‹, das er Fremden gegenüber auch gerne als sein Büro bezeichnete, ›herumzuhängen und Däumchen zu drehen‹, meldete sich Neros Verstand.

    ›Aber es kann ja immer noch ein Anruf aus dem Festnetz kommen‹, widersprach Nero zwei, ›und dann springt der altersschwache Anrufbeantworter nicht an, und Meisterdetektiv Nero Kaiser verpasst den ultimativen, ihm zum endgül­tigen Durchbruch verhelfenden Auftrag.‹

    So war es doch immer. Kaum setzte er den Fuß vor die Tür, versuchte alle Welt, ihn in seinem Büro zu erreichen, und er war nicht da. Nero hegte den begründeten Verdacht, dass sich die Existenz moderner Kommunikationsmittel wie Mobil­telefone oder E-Mails noch nicht bis zu seiner Klientel herumgesprochen hatte.

    Also lehnte er das freundliche Angebot ab, Ernst gelegentlich zu begleiten, und harrte lieber in der billigen Hinterhofbude in der Schiffstraße aus, die er vor einigen Jahren als Büro zu einem völlig überhöhten Preis angemietet hatte.

    »Das klingt zwar wie ein Widerspruch«, dozierte Nero für eine unsichtbare Zuhörerschar, »ist es aber nicht. Wer Erlangen kennt, weiß das. In dieser Stadt kann eine Hütte billig sein und dennoch ein Vermögen kosten ...«

    Inzwischen hatte er sich in seinem Büro auch wohnlich niedergelassen. Angesichts mauer Auftragslage senkte diese Maßnahme seine Fixkosten gewaltig. Die noch viel teurere Wohnung, die er sich einmal in besseren Zeiten in der Fichtestraße gegönnt hatte, konnte er sich allein sowieso nicht mehr leisten. Bessere Zeiten, das war nicht nur finanziell gemeint. Das bedeutete auch geordnete Verhältnisse – zumindest nach außen hin. Als seine Freundin die Stelle in Bielefeld annahm, wusste er sofort, dass das kein Abschied auf Raten werden würde, sondern ein schneller, schmerzhafter Schnitt, bei dem er darauf achten musste, dass die Wunde nicht anfangen würde zu eitern. Er wäre ihr fast überallhin gefolgt … Aber doch nicht in ein Kaff wie Bielefeld. Sie wusste genau, dass er nicht dorthin zurückgehen würde. Nicht für alles Geld dieser Welt und auch nicht für sie. Aber ihr waren Karriere und Moneten wichtiger gewesen. Doch, es stimmte: Bessere Zeiten, das war finanziell gemeint und zwar ausschließlich.

    »Sie haben Post«, sagte Humphrey Bogart.

    Nero hatte die Ansage seines Providers durch die deutsche Synchronstimme des smarten Helden ersetzt. Fast ­gleichzeitig ertönte von irgendwoher eine ziemlich lächerlich klingende Fassung von »As Time Goes By«. Die E-Mails konnten warten. Wo steckte bloß das verdammte Handy? Als er es endlich in dem Jackett fand, das er gestern in den Schrank gehängt hatte, hörte das Gedudel abrupt auf. Das war immer so: Der unbekannte Beobachter, der einen anrief, wartete exakt so lange, bis man das Telefon gefunden hatte und der Zeigefinger nur noch einen Millimeter von der Taste entfernt war, um das Gespräch entgegenzunehmen, dann legte er auf. Heute handelte es sich anscheinend um die Paranoia-Variante des unbekannten Beobachters. Das Display zeigte nur die Buchstaben C-A-L-L an, aber keine Nummer.

    »Entweder Steinzeit oder Rufnummernunterdrückung«, murmelte Nero verärgert. Wer konnte das jetzt noch sagen. Es sollte ja tatsächlich noch zahllose analoggeschaltete Lebewesen geben, die – wahrscheinlich ohne es zu wissen – beim Telefonieren keine digitalen Spuren hinterließen. »Glückliche Neolithen!« Und dann gab es noch die bereits digitalisierten, die bewusst keine Spuren hinterlassen wollten. Zwei, drei Klicks mit der Maus, und die Sache war für sie erledigt.

    Also doch die Elektropost. Nachdem er die üblichen Angebote für Online-Casinos, Preisausschreiben, die ultimative Geld­anlage, Viagra und Penisverlängerung gelöscht hatte, blieben nur zwei Mails übrig. Die erste enthielt den Newsletter vom Team Sulzbach, den er mit einer gewissen Wehmut las. Ballonfahren – selbst zu den Tarifen des Oberpfälzer Clubs – erlaubte seine miese Auftragslage derzeit nicht.

    Die zweite Mail hatte ihm Ernst weitergeleitet und eine kurze Notiz dazugeschrieben: »Celia Cé ist ein Alias. Die junge Frau heißt im bürgerlichen Leben Cecilia Adler! Kommst du mit? Gruß EP«

    Darunter war eine Presse-Einladung zu einem Benefiz-Konzert für die renovierungsbedürftige Orangerie im Schloss­garten, das in derselben stattfinden sollte. Er las: »Celia Cé, gebürtige Erlangerin, studierte Komposition bei Heider und Rihm und wird die Uraufführung ihres Werks ›ASK.AtemSchrittKonversation‹ selbst inszenieren.«

    ›Das klingt ja furchtbar‹, dachte Nero, las aber weiter. Es folgte eine verquaste Begründung dafür, warum man bei Aufführungen von Celia Cés Kompositionen nicht im klas­sischem Sinn von Dirigieren sprechen könne: Sie würde Tanz, Choreo­grafie und Aufführungstechnik als integrativen und gestalterischen Bestandteil ihrer Stücke ansehen. Nero klickte die ­E-Mail in die Ablage. Das Attachment öffnete er nicht, was sich später als Fehler herausstellen sollte. Als Fan des Erlanger Comic-Salons gingen seine kulturellen Interessen sowieso in eine geringfügig andere Richtung. Moderne ­E-­Musik und vor allem die professoralen Begleitgeräusche waren seine Sache nicht. Obwohl er nicht uninteressiert an Musik war. Erst vor kurzem hatte er seine Leidenschaft für Cool-Jazz und Bebop entdeckt, und ab und an fand sich tatsächlich unter Ernsts in der Regel abstrus-obskuren Musikvorschlägen das ein oder andere Hörenswerte.

    Andererseits – er hatte ja Zeit. Zeit ohne Ende. Und im Gegensatz zu einem halben oder ganzen Tag im Ballon würde ihn dieser Abend nichts kosten. Als »Assistent« des BR-Reporters hatte er sich schon häufiger von Konzerten, Galas und anderen kulturellen Ereignissen überraschen lassen, die er sonst nicht besucht hätte.

    »So was nennt man Kontaktpflege, und Kontaktpflege ist immer gut«, sagte er laut.

    Vielleicht würde ihm der Abend ja einen neuen Auftrag­geber bescheren oder, noch besser, eine neue Kundin. Ein frustriertes Hausfrauen-Anhängsel eines angesehenen Siemens-Managers, der es seit Jahren mit seiner Sekretärin trieb. Eine Frau, die mit einem finalen Befreiungsschlag aus dem goldenen Käfig ausbrechen wollte und kühl kalkulierte, dass sie dem untreuen Gatten sicherlich mehr finanzielle Zugeständnisse aus den Rippen leiern konnte, wenn sie tatsächlich nachweisen würde, dass er sich in seiner Arbeit noch ganz andere Freiheiten erlaubt hatte. Zum Beispiel die diskrete Entgegennahme kleiner Gefälligkeiten bei der Auftragsvergabe oder umgekehrt. Dann wäre sie nicht nur moralisch im Vorteil, sondern würde zudem erreichen, dass sich der Kerl in ihrer Hand wie Knete formen ließ. Ein Vorteil, der die Kosten für einen guten, diskreten und effektiv arbeitenden Privatdetektiv um ein Vielfaches wieder einspielen würde. Nero merkte, wie die Phantasie mit ihm durchging. Ein schlechtes Omen. Solche Jobs waren rar gesät, und nur ein Sechser im Lotto war noch unwahrscheinlicher.

    Das Konzert sollte in drei Tagen, am Freitagabend, stattfinden. Vielleicht waren die Veranstalter ja spendabel und es gab ein Büffet. Zumindest für die Presse ... Er räusperte sich. Nein, angesichts des Veranstaltungszwecks war das kein Widerspruch. Wer Spenden will, muss auch spendabel sein.

    »Einem seriösen Privatdetektiv stünde eine etwas dezentere Garderobe tatsächlich besser«, sagte Ernst und musterte Nero mit kritischem Blick, als sie sich vor der Orangerie trafen.

    »Aber heute bin ich doch dein Assistent, kein Schnüffler«, erwiderte Nero und zupfte an den lindgrünen Aufschlägen des ansonsten quittengelben Jacketts herum. Es amüsierte ihn, dass er Ernst mit seinen gelegentlich schrillen Outfits zur Verzweiflung treiben konnte. Wie üblich strahlte dessen Kleidung jene anthrazitgraue Unscheinbarkeit aus, hinter der er sich gerne zu verstecken pflegte. Fast einen Kopf kleiner als Nero, der mit seinem einen Meter fünfundachtzig in der heutigen Zeit auch nur noch Durchschnitt und kein Riese war, bemerkten Außenstehende an ihnen in erster Linie die Gegensätze. Während Nero mit seinen kurz geschnittenen blonden Haaren, dem kantigen Gesicht und dem schlanken, trainiert wirkenden Körper das machte, was man gemeinhin »eine gute Figur« nennt, konnte Ernst beim oberflächlichen Vergleich nur auf das hoffen, was man tröstend als »innere Werte« bezeichnet. Er war wie Nero Mitte dreißig und neigte zu einer gewissen Rundlichkeit, die sich auch im Gesicht widerspiegelte. Seine dunkel­braunen Augen waren im Grunde das einzige Pfund, mit dem er wuchern konnte. Sie waren ziemlich groß, blickten ihr Gegenüber offen, mit einem Ausdruck unschuldiger Neugier an und wurden von ausnehmend langen Wimpern umrahmt, um die ihn manche Frau beneidete. Leider verbarg er alles hinter kleinen, runden Brillengläsern, die ihm zwar das Flair eines Intellektuellen verliehen, ihn aber keinesfalls hübscher machten. Seit der Außenminister, der lange Zeit eine ähnlich unvorteilhafte Brille getragen hatte, von seinen Beratern davon überzeugt worden war, dass ein anderes Modell ihn besser kleiden würde, hatte Nero – allerdings vergeblich – ­versucht, Ernst ebenfalls zu einem Gestellwechsel zu überreden. »Mein Augenarzt sagt aber, dass die Werte konstant geblieben sind«, erwiderte Ernst, wenn dieses Thema zur Sprache kam. »Dann wechsle den Augenarzt!«, sagte Nero dann, ohne jedoch mit diesem Einwand irgendetwas zu erreichen. Dabei war Ernst im Grunde seines Herzens überhaupt nicht uneitel. Es war nur seine tief sitzende Schüchternheit, die jeden noch so kleinen Ansatz modischen Aufbegehrens sofort erstickte, wenn Nero ihn dann und wann überreden wollte.

    Der größte und im Rahmen einer oberflächlichen Inaugenscheinnahme überraschendste Gegensatz der beiden bestand in ihren sexuellen Präferenzen. Gemeinsam hatten sie nur, dass sie sich schon seit Längerem als Single durchs Leben schlugen.

    Nero, der sich nicht scheute, mittels schriller, greller Kleidung seine Umwelt mit einem ständigen Feuerwerk an op­tischen Signalen auf sich aufmerksam zu machen, wurde von Leuten, die ihn nicht kannten, deshalb gerne für einen Schwulen gehalten, ließ sich aber – zu Ernsts großem Bedauern – nur von weiblichen Reizen ansprechen.

    Ernst konnte sich dagegen nicht recht entscheiden; er mochte Männer wie Frauen, wenn er auch tendenziell das männliche Geschlecht bevorzugte. Seine Bisexualität hatte, als sich die beiden vor Jahren kennen lernten, zu kleinen und größeren Missverständnissen geführt, die aber, nachdem sie ausgeräumt waren, keine tieferen Zerwürfnisse zur Folge hatten.

    Da sie sich oft uneins waren und in Streit gerieten, hatte Nero Ernst vor einiger Zeit mal im Zorn gefragt, warum er denn immer wie eine Klette an ihm hinge, wo er doch wisse, dass der Inhalt seiner, Neros, Hose für ihn auch künftig tabu bleiben werde. »Machst du dir etwa immer noch Hoffnungen?«, hatte er ihn wütend gefragt. Den Anlass des Streits hatte er längst vergessen, Ernsts Antwort jedoch nicht: »Die Erlanger Szene ist etwas zu übersichtlich, als dass ich es mir leisten könnte, auf eine richtige Freundschaft zu verzichten, selbst wenn es sich dabei um einen Hetero handelt.« Aus Andeutungen wusste Nero von Ernsts regelmäßigen Reviererkundungen in Nürnberg und – er mochte es kaum glauben – in Fürth. Eine dauerhafte Beziehung war dabei, mit einer Ausnahme, für den Reporter bisher aber noch nie herausgesprungen.

    Die Ausnahme hieß ausgerechnet Silvia und war die Mutter von Ernsts siebenjähriger Tochter Lydia. Mutter und Kind lebten jetzt bereits

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