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DER ÜBERHEBLICHE: Im Namen des Volkes" - Erinnerungen eines Ost-Erfinders
DER ÜBERHEBLICHE: Im Namen des Volkes" - Erinnerungen eines Ost-Erfinders
DER ÜBERHEBLICHE: Im Namen des Volkes" - Erinnerungen eines Ost-Erfinders
eBook396 Seiten4 Stunden

DER ÜBERHEBLICHE: Im Namen des Volkes" - Erinnerungen eines Ost-Erfinders

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Über dieses E-Book

Der Autor bezeichnet sich als DDR-Mensch 2.Klasse. Er muss sich bewähren, um als soge-nannter Kapitalistensohn im Arbeiter- und Bauernstaat anerkannt zu werden. Dieses Han-dicap belastet den parteilosen Ingenieur von Kindheit bis zum Mauerfall 1989. Ungeniert plaudert er über Interna seiner Anbiederungen der 50ger Jahre um Studieren zu dürfen, seinen Diskriminierungen mit Prozess bis zum Obers-ten Gericht der DDR, der Kungelei von Alltag und Reisen ins sozialistische Ausland, privat und als Botschafter der Ost-Wirtschaft. Beim Erfinden und Realisierung von Patenten im Sozialismus kommen skurrile Erlebnisse ans Tageslicht. Die Stasi mit dem Neid der Spitzel hat seine Erfolge auf Staatstreue aufmerksam begleitet.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum21. Aug. 2020
ISBN9783347066786
DER ÜBERHEBLICHE: Im Namen des Volkes" - Erinnerungen eines Ost-Erfinders

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    Buchvorschau

    DER ÜBERHEBLICHE - Dr. Friedrich Bude

    1. Vater ist tot

    Radabum-radadam, radabum-radadam.

    Es ist kalt im Bummelzug. Eine klare Nacht, der Mond starrt grausam durchs Fenster. 9-jährig sitzt der kleine Frieder mit kurzen Hosen zitternd auf der Holzbank - gegenüber ein Polizist, in dessen Obhut er vom Umsteigebahnhof Falkenberg zurück zu Tante Kläre nach Bad Liebenwerda gebracht wird. Der döst vor sich hin. Im dunklen Abteil, vom Mondlicht beschienen, sah er auch aschgrau, wie tot aus - gruslig!

    Die vergangenen Stunden waren so unwirklich! - Vati soll tot sein? Habe ich tatsächlich auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig die Elektrokarre wegfahren sehen? Vorn stand ein „Bahner" drauf, bediente die Hebel. Hinter ihm die tief liegende Ladefläche mit meinem toten Vati - auf dem Rücken liegend, die Beine auf der Erde schleifend?

    Wie bei einer Schallplatte, deren Nadel in defekten Rillen immer wieder die gleichen Melodiefetzen abspielt, wiederholen sich an seinem geistigen Auge die Bilder des irreal erscheinenden Ereignisses:

    Vati winkt zum Abschied lange mit dem großen Taschentuch am Fenster, bis der Bahnhof mit Tante Kläre nicht mehr zu sehen ist. In Falkenberg wollen sie umsteigen.

    „Wie lange haben wir Aufenthalt?" fragt Vati einen Mitfahrenden.

    „Nur zwei Minuten! Manchmal ruft der Schaffner schon bei der Einfahrt: Beeilen, der Zug fährt gleich ab."

    „Mach dich bereit, Frieder, wir müssen schnell machen!"

    Er rennt gleich los. Der einfahrende Zug nach Leipzig rattert schon über ihnen auf den Bahnsteig. Er hastet mit dem Koffer die Treppen hinauf, immer schneller: „Vati, renn nicht so!" Ich komme gar nicht hinterher.

    Abteiltür aufgerissen, hochgeklettert. Im überfüllten Abteil sagt er: „Mir ist schlecht!"

    Zurück in den langen schmalen Gang bis zum letzten Abteil, dieses ist leer. Er schiebt dort die Tür auf: „Mir ist schlecht!", hetzt zurück, Ich hinterher, Wagentür auf, die Stufen runter.

    Er schwankt, bleich im Gesicht, erschöpft, mit steifen Knien, jeden Schritt ausbalancierend in Richtung Treppe. Den Koffer in der Hand, den Mantel über dem Arm, lässt beides fallen, sinkt auf die Knie, als wenn er brechen wolle. Es kommt aber nichts. Rafft sich wieder auf, Koffer und Mantel liegen am Boden, dreht sich plötzlich mit letzter Kraftanstrengung zu mir um, quält sich hoch. Mit erhobenen Händen stakst er auf mich zu - mit steifen hölzernen Schritten - immer langsamer, Ich weiche erschrocken aus, - seine Fußspitzen schleifen über das Pflaster – er kippt wie ein abgesägter Baum nach vorn ab, die Hände an der Hosennaht - fällt aufs Gesicht. – ich stehe daneben!

    Der Zug fährt lange, sehr lange an uns vorbei - und Vati guckt nicht mal hin!

    Kein Bahner, kein Sanitäter, nur zwei Leute sind noch auf dem Bahnsteig, als der Zug weg ist. Einer dreht Vati um, öffnet den Hemdkragen, greift ihm an den Hals:

    „Geh mal runter, Kleiner, zur Sanitätsstelle und sag, es möchte jemand hochkommen."

    Ich, die Treppe hinunter, finde die Rotkreuzbaracke, keiner drin, nur Baugeräte. Da kommt ein Bahner:

    „Ich soll einen Sanitäter holen, oben liegt jemand, mein Vati!"

    Sie gehen zum Hintereingang, auch dort ist keiner. Man schickt mich ins Büro der nächsten Baracke. Dort sage ich wieder, dass mein Vati oben auf dem Bahnsteig liegt… und muss noch mal zum Sani-Gebäude:

    „Es muss einer dort sein!" - War aber wieder keiner da! Zurück ins Büro, jetzt sind sie zu dritt.

    „Mein Vati liegt oben auf dem Bahnsteig, in der Sanitätsstelle ist niemand!"

    Einer telefoniert - sagt dann: „Ja hier oben liegt einer, der ist tot. Geh nur wieder rauf, es kommt gleich jemand."

    Männer kommen mit einer Trage, legen Vati drauf, wollen ihn in einen Keller tragen, kommen mit Tragebahre nicht um die Ecke, stellen diese mit Vati in einen Lagerraum. Ich immer dabei. Polizisten mit Hund, dann kommt der Arzt, mit hellem Mantel. Betrachtet Vati - dessen offene Augen - streicht mit der Hand übers Gesicht, da waren sie zu, gibt mir die Hand und geht.

    Vati sieht bleich und fremd aus - nicht wie mein Vati.

    Man fragt, wo ich hingebracht werden will: „Zurück zu Tante Kläre."

    „Später sehe ich die bewusste Elektrokarre mit Vati fahren. Die Schienen trennen uns. Im dusteren Licht zerhacken die Säulen bei der Fahrt von einem zum anderen Ende des Bahnsteiges den sich als Schatten abzeichnenden Körper, die Füße, welche auf dem Boden schleifen!"

    Immer wieder rollt der gleiche Gedankenfilm ab:

    Der Bahnmann thront vorn auf der Elektrokarre, die Hände am den lenkenden Bediengriffen. Die dunkle liegende lange Gestalt, fast schwarz gegenüber dem Abendlicht, deren abgewinkelten Beine am Ende der Ladefläche bei jeder Unebenheit das Pflaster streifen, das Zwielicht der kargen Deckenleuchten und der Dämmerung im Hintergrund mit dem Aufblinken der Totenlade bei ihrer Fahrt zwischen den Stützpfeilern der jetzt tiefschwarzen Überdachung - ein ständig zurückkehrender bildhafter Alptraum.

    Der 10-jährige Frieder durfte das erste Mal mit der Bahn von Schmölln, allein mit Vati, dessen Basen und Vettern in Bad Liebenwerda besuchen. Die große V erwandtschaft seiner Großmutter Ernestine, geb. Hübner, hatte dort das städtische Tischler-Monopol. Es gab drei Hübner-Tischler. Auch die Großmutter heiratete einen Tischlermeister, Robert Bude aus Schönborn/Brandenburg. Er gründete seine Tischlerei in Schmölln/Thüringen am Bahnhofsplatz. Sie arbeitete anfangs im städtischen Zeitungsverlag auf der gegenüber liegenden Bahnseite als Redakteurin. Kein Wunder, dass Vater in Liebenwerda sein Furnierholz für die Werkstatt einkaufte.

    Hinter des Onkels Garten fließt ein schlammiger Bach. „Mein jüngerer Cousin zeigte mir, was man mit den Zehen im Bachgrund wühlend erfühlen, ans Ufer bugsieren konnte. Zwei äußere ovale Scheiben mit etwas Schwabbeligem dazwischen, Muscheln. So was hatte ich noch nie gesehen. Das machte Spaß."

    „Auch wenn wir im Kinderzimmer herumtollten. Seine größere Schwester balgte mit. Ich hätte sie auch gern mal angefasst, traute mich aber nicht. Ein komisches, noch nicht gekanntes Gefühl kam bei diesem Gedanken auf."

    Der Urlaub war schön. Frieder durfte mit Tante Kläre im Zug nach Kreischa fahren, im großen Baggersee baden.

    Radabum-radadam, jetzt sitzt ein Polizist ihm gegenüber im kalten Abteil, der grelle Vollmond beleuchtet unwirklich sein schlafendes Gesicht, maskenhaft weiß schimmert es in kalten Lichtstrahlen der gelben Himmelsscheibe. Der Schrecken überzieht seine Arme und Beine mit Gänsehaut.

    Erst auf Tante Kläres kuscheligem Sofa - endlich allein - kann Frieder weinen, den erlebten Schock, irreal, wie in einem Kinofilm, begreifen.

    29.8.50, Kriegstagebuch der Großmutter

    Emstine Bude:

    „Ein Marmorkränzchen im Strauchwerk versteckt, ein Hügel mannshoch mit Blumen bedeckt darunter mein Junge, den keiner mehr weckt. Kein Kindslachen, kein zärtliches Wort aus Frauenmunde beglückt ihn hinfort.

    Von Bruders Lippen kein froher Scherz, nichts rührt mehr an das stille Herz.

    Die Hand, die die seinen so treu umhegt sich nie mehr warm in die meine legt.

    Und doch hör ich oft seine lieben Schritte, er weilt doch immer in unserer Mitte."

    Ab jetzt war alles anders!

    2.Rückblende

    27.05.1940 Kriegstagebuch Ernstine Bude:

    Heute wurde Fritz Bude ’s Abend 9 Uhr unter Blitz u. Donner ein kleiner Junge geboren. Fried rich heißt er u. ist das 3.Kind. Er kam ein bißchen voreilig u. infolgedessen entstanden in den 1 ½ Std. da er endgültig unterwegs war allerhand Situationen,

    über die man nachträglich herzlich lacht. Johanna ist sehr mobil. Der Kleine ist niedlich u. artig.

    Heute kam der Heeresbericht, daß die Auflösung des noch vorhandenen franz. u. engl. Heeres nur noch eine Frage der Zeit sei. Heinz liegt jetzt in Wien auf dem größten Truppenübungsplatz Großdeutschlands. Auch Fritz hat sich melden müssen u. ich mache mir um die nächste Zukunft Sorgen. In der Werkstatt ist viel zu tun.

    Damals war die kindliche Welt in der Kleinstadt noch in Ordnung. Sieg und Niederlage weit weg.

    Das grausame Geschehen des 1. und 2. Weltkrieges mit den vielen Toten der näheren Verwandtschaft, den Selbstmorden während der Inflationszeit, die Überlebenskämpfe der Handwerkerfamilie hat Frieders Großmutter in ihrem sogenannten „Kriegstagebuch festgehalten. Dort findet sich auch der erste schriftlich fixierte „Kommentar zur politischen Lage des damals Dreijährigen.

    Kriegstagebuch Ernestine Bude:

    1.6.1943

    Kam Heinz aus Russland auf Urlaub, am 22.6. ging er wieder an die Front. … Wann wird endlich das furchtbare Morden enden?

    Damals sagte unser kleiner Frieder zu ihm:

    „ Onkel Heinz, geh nur nicht wieder bei die alten Russen, geh lieber bei die Feuerwehr."

    Wir haben die Ansicht des Kleinen geteilt, u. sein Ausspruch wird bei uns wohl zum geflügelten Wort werden.

    „Fritz! - wie ein Pistolenschuss, kurz und hell, schallte es über den Hof, wenn Mutter unseren Vater rief. Alle nannten ihn so. Laut Geburt und Taufe durfte er dagegen den etwas hochtrabenden „Friedrich beanspruchen. Mutter war diese Verkürzung ein Dorn im Auge. Sie bestand erneut auf diesem königlich-preußischen Taufnamen. Aber auch das Sonntagskind Friedrich II. von Budes Gnaden verlor durch die kindgemäße namentliche Verniedlichung über Friederlein zu Frieder seinen adligen Glanz.

    In früher Kindheit entdeckte der kleine Frieder in Muttis Nachttisch einen dicken hölzernen Stab mit aufgezogenen Vierecken, Sternen, Rollen und Kugeln. Die konnte man drehen, hin- und herschieben, an der Wand oder am hohen Kopfteil der glänzenden Mahagonibetten abrollen. Was aber langweilig war - bis auf die kleinen winzigen Kratzer, die auf der Holzpolitur entstanden. Sie waren kaum zu sehen: Kreise, und Schlaufen, Haken und krumme Linien, immer waren sie anders.

    Einmal sah der Vierjährige, wie Mutti sich mit dem rollenden Stab den Rücken rieb, wagte aber nicht zu fragen, ob dort auch Kratzer gemacht werden sollten?

    Mehr Spaß machten schon die kleinen dehnbaren durchsichtigen Röllchen aus Vatis Nachttisch. Wozu braucht der die denn? - Heißa! Die konnte man aufrollen, den Finger hinein stecken und lang ziehen. Wurde damals schon Frieders Entdecker- und Erfinderveranlagung geweckt?

    Mit großer Mühe zerrt er, als Mutter nicht im Haus, einen Stuhl bis zum eisernen becherförmigen Ausguss der Küche, klettert auf den Sitz, um kniend das auf zwei Finger aufgezogene Gummibeutelchen über den Wasserhahn zu stülpen.

    Wasser marsch! - Der Beutel wird immer größer.

    „Wau!" - fast so groß wie das Becken war jetzt der schwere Sack. Seine Hände können das wabbelnde Gebilde nicht mehr halten:

    Patsch, kaputt, Stuhl nass, der Küchenboden voller Pfützen.

    Also, dafür waren die kleinen Gummiringe nicht gedacht.

    Aber Aufblasen konnte man sie ohne Mühe! Vorn bildete sich ein klitzekleines Köpfchen, dann blähte sich eine dicke wellige Wurst auf, noch mehr blasen, wurde die Wurst ein richtiger langer Luftballon, nur das Köpfchen wurde nicht viel größer. Man konnte damit herumrennen. Bis die Nachbarin, Frau Hoffmann, dem Kind im Hofgang eindringlich dies verbot, die restlichen Gummis seiner Hosentasche einkassiert hat.

    „Wozu braucht denn Vati die Gummiröhrchen im Schlafzimmer!"

    Am 16. April 1945 eroberten die amerikanischen Soldaten von General Patton Ostthüringen und befreiten damit ganz Thüringen von der nationalsozialistischen Herrschaft. Nur 100 Tage dauerte die amerikanische Besatzung.

    „Die Amis kommen! In wenigen Minuten flüchteten alle Hausbewohner in den Keller, ausgebaut als „Luftschutzbunker. Dass heißt, es wurden Fensteröffnungen zu ebener Erde eingebaut, welche nur so hoch waren, dass jeder mühsam heraus kriechen konnte. Die Luftschutzübung war damals spannend, Leiter anlegen – hochsteigen – raus kriechen. Und die Erwachsenen hatten schon da erhebliche Schwierigkeiten.

    Großes Gedränge am Fenster, als die ohrenbetäubenden Geräusche den Marktplatz erschütterten. Plötzlich und nur Sekunden ratterten und quietschten direkt vor dem Fenster bullige Räder mit Ketten vorbei. Mehr war nicht zu sehen, nur drei Meter entfernt lärmen die amerikanischen Panzer.

    Als der Spuk vorbei war, zeigte der Vater seines Freundes Peter, Zahnarzt im 1 .Stock, den Kindern zwei Patronen. Nach Kriegsverletzung wieder als Mediziner tätig, hatte der den Einmarsch am Markt durch die drei Erkerfenster voll überblicken können, ist von den Scharfschützen auf dem Panzerturm auch erkannt worden. Die Einschusslöcher in der Glasscheibe waren einzige langfristige Zeugen militärischen Geschehens am Markt der Stadt.

    Sie haben ihr Lager aufgeschlagen unterhalb des Felsens mit der katholischen Kirche. Frieders zehn Jahre älterer Bruder Albrecht wurde nach erfolgreichen Diebstählen von Kaffee, Schokolade, vor allem Zigaretten, dort dann doch noch erwischt, musste im hilfsweise errichteten Gefängnis in der Rathaustoreinfahrt, vier Häuser nebenan, einsitzen. Mutti und Frieder haben dann „belegte Bemmen" vorbei gebracht.

    Überraschender kam für die Thüringer Bevölkerung Anfang Juli 1945 der Besatzungswechsel. Die Frage der Rückverlegung der amerikanischen Truppen aus künftigem sowjetischen Besatzungsgebiet in die ihnen zugewiesene Zone war Mitte Juni in ein entscheidendes Stadium getreten und nach einem Briefwechsel zwischen Stalin und Truman für die Zeit ab 1. Juli 1945 befohlen worden.

    Der Einmarsch der Roten Armee begann am 2. Juli 1945 in Ostthüringen durch die 8. Gardearmee unter Generaloberst Tschuikow, die in Stalingrad gekämpft, Berlin mit erobert und dann in Sachsen stationiert war.

    05.09.45 Kriegstagebuch Ernstine Bude:

    Seit 1. Sept. gibt es neue Lebensmittelkarten. Die Empfänger in 6 Gruppen: Schwerstarbeiter, Schwerarbeiter, Arbeiter (zu denen unser Betrieb gehört), Kinder von 3 - 5 Jahr. bis Schüler und Angestellte, Sonstige, Hausfrauen u. alte Leute. In der Gruppe Sonstige gibt es weder Fleisch noch Fett oder Butter. Die Tagesration ist folgende: 200 gr. Brot, 10 gr. Nährmittel, 30 gr. Marmelade, 15 gr. Zucker, 0 gr. Fleisch u. Fett. Die nach uns kommen und sich geregelt ernähren können, mögen sich das vorstellen und nach Bedarf genau überdenken. Sie werden auch begreifen, daß wir ohne Mühe eine schlanke Generation geworden sind. Raucher bezahlen im Schleichhandel für eine Zigarette 5 - 8 RM (Reichsmark). Wir fertigen in unserer Werkstatt eine mittelmäßige Küche für 450 bis 580 RM, dafür bekommt man gerade ein Pfund Kaffee (300 - 800 RM).

    Morgens schon schwül-warm. Mutti hantiert in der Küche.

    „Ich 5-jähriges Sonntagskind hocke am Fenster, denke darüber nach, warum der Storch, als Belohnung für auf dem Fensterbrett ausgestreuten Zucker, Babys bringt. Wie er das macht, das Tuch mit dem Baby im Schnabel! Er kann sich doch gar nicht auf das schmale Fensterbrett setzen! Wir wohnen ganz oben im 3. Stock von Oma Knorrs Haus. Da kommt der Storch leicht ran. Wie soll das aber bei den unteren Stockwerken funktionieren, bei dem schmalen Hofgang zum Nachbarhaus?"

    Markt 7, das größte Haus am Platz. Die städtische Feuerwehrleiter wurde danach gebaut.

    Die drei Türme bilden den Blickfang der oberen Marktseite.

    Es hat auf der oberen Marktseite den dritten großen Turm. Einige Häuser weiter steht das Rathaus mit dem zweiten Turm. Gleich hinter der Rathausecke überragt der Kirchturm beide.

    Auf unserem Dachboden im Turmgewölbe ist es dunkel. Dort eine runde Luke, seine große Schwester Renate hat ihn einmal hochgehoben, man kann über die ganze Stadt sehen. Früher wurde bei Festlichkeiten, wie der 600-Jahrfeier, dort immer eine große, sehr lange Hakenkreuz-Fahne rausgehängt. Jedenfalls ist das auf den vielen schönen Fotos zu sehen, die Opa gemacht hat.

    Schmölln, Markt 1958

    Opa ist tot, betitelt als Ratsuhrmachermeister war er für den richtigen Gang aller Stadtuhren verantwortlich. Albrecht, Frieders großer Bruder, durfte Opa helfen, täglich in den Kirchturm steigen, die Turmuhr aufziehen. Muss spannend gewesen sein. Jetzt ist Opas großes Geschäft geschlossen. Die lange Fahne liegt noch auf dem Boden, wird aber nicht mehr rausgehängt, weil das abgetrennte Hakenkreuz dort einen hellroten Fleck hinterlassen hat, ihre wahre Vergangenheit verrät.

    Vom Küchenfenster kann man weit runter in den schmalen Gang bis zum Hof sehen. Frieder traut sich nur selten, bekommt Angst vor der Tiefe unter ihm. Aber geradeaus hat man einen schönen Blick auf die Dächer der oberen Marktseite - und die anderen beiden Türme. Noch schöner ist es, im Turm-Erker des Wohnzimmers zu sitzen. Aus drei Fenstern sind alle Seiten des großen Marktes zu überblicken. - Ihnen entgeht somit nichts!

    Früher hatte er neben Mutti am offenen Erker gehockt: an den Fenstern der meisten Häuser rundum standen Leute, Musik hat gespielt. Alle streckten wie Mutti die Hand raus - das war der Hitler-Gruß!

    Als Frieder so nachdenkend über Klapperstorch und Kinderkriegen am Küchenfenster hockt, klingelt es zweimal - ganz heftig. Mutti kommt, guckt mit ihm aus dem Fenster den steilen Hofgang runter. Unten stehen zwei Polizisten und rufen:

    „Ihr Haus wird von der russischen Kommandantur bezogen. In zwei Stunden muss das Haus geräumt werden. Außer Koffern darf nichts mitgenommen werden!"

    Vieles ist dem kleinen Frieder danach verschwiegen worden. Aber er weiß noch, mit welcher Eile Vater aus der Werkstatt geholt wurde. Die Tischlerei stand drei Straßen weiter am Bahnhofsplatz neben dem Haus der Budens-Oma. Dort wohnten auch Tante Anneliese und sein riesengroßer Cousin Henner. Onkel Heinz, in russischer Gefangenschaft, war Tapezierer, betrieb die Polsterwerkstatt, welche im Nebengebäude untergebracht war.

    Die nächsten Stunden stand er nur im Wege! Bruder Albrecht und mehrere Gesellen schleppten heimlich Möbel aus dem dritten Stock nach unten.

    Frau Hoffmann hatte im Hof gerade Wäsche aufgehängt. Sie musste die großen Betttücher so umhängen, dass den Polizisten, welche an der Hausecke am Markt standen, der Blick durch den schmalen Gang bis in den Hof verdeckt wurde.

    Vom Ende des langen Hinterhofes gelangte man in den Garten. An Apfelbäumen vorbei ging es über schmale Treppen zwischen Büschen im Zickzack den steilen Berg hoch. Dort stand links im benachbarten Fleischereigrundstück ein Holzgerüst. Dieser mehrere Meter hohe Bretterverschlag, im Viereck um eine Wasserspritze angeordnet, diente winters als Eismaschine. Wenn diese bei Minusgraden sich drehte und Wasser versprühte, bildeten sich rundum an den Holzwänden dicke Eisschichten, welche abgeklopft, im Eiskeller des Berges unterhalb des Gerüstes Fleisch und Wurst frisch hielten.

    Einmal war der Antrieb defekt, die Spritze drehte sich nicht. Der Wasserstrahl zielte die ganze Nacht über die Mauer auf unser Gebüsch. Am nächsten Morgen glitzerte dort ein fester Eisberg in der Sonne, rau, hüglig, mit Schluchten und Spitzen bis zur Laube des oberen Gartenteiles. Man konnte drauf rumklettern. In Frieders Fotoalbum gibt es ein imposantes Bild mit dem Untertitel: „Ich auf dem Eisberg."

    Vom oberen Garten führte durch ein festes hohes Tor die Treppe wieder runter bis zur Schulstraße. Gegenüber unser Felsen, steil zum Klettern und Spielen, dahinter die Lohsen, unser Stadtwald.

    Vor der Russenbesetzung schleppten Albrecht und Tischlergesellen die Möbel im Schutz der Hoffmannschen Bettwäsche durch den Garten bis zur Schulstraße. Dort stand schon ein Platten-Handwagen. Ab ging es durch die Stadt zur Budens-Oma am Bahnhof. Das dortige Möbellager, während des Krieges sowieso leer, wurde jetzt wieder voll gestellt. Auch vom Studienrat Brodeck kamen später noch Möbel rein; große, mit Schnitzereien versehene Schränke, welche dem Raumbedarf von Besatzung und Flüchtlingen weichen mussten.

    Nach dem Rausschmiss wohnten sie in Oma Budes Schlafzimmer am Bahnhof. Frieder hat das nicht gestört. Jetzt konnte er oft in der benachbarten Tischlerei zusehen. Das war interessant. Vor allem, wenn gehobelt wurde, die Späne mit einem großen Ventilator durch dicke Rohre über das Dach in einen Holzverschlag gesaugt wurden. War dort die obere Tür offen, konnte man hinein springen und rumtollen.

    Eigentlich durfte er nicht im oberen Stock der Tischlerei bleiben. Dort arbeiteten die Gesellen an Hobelbänken, wo er unerwünscht war. Aber von Omas Wohnung gelangte man auch durch Tapeziererwerkstatt und Tischlerei in den Hof, weshalb er diesen Weg meist neugierig nutzte.

    Wenn der Zug am Haus vorbei ratterte und fauchte, konnte man aus Omas Fenster alles beobachten. Die Betriebsamkeit der „Bahner" ganz oben im Stellwerk verfolgen, wie sie mit der Kurbel die dann klingelnde Bahnschranke öffneten und schlossen, die Hebel für die Weichen stellten. Alles konnte man verfolgen.

    Außer Hoffmanns, welche in einer Mansarde unter der Bodentreppe wohnten, die Hausmeisterarbeiten für die Russen machen sollten, mussten alle raus aus dem schönen großen Haus mit Turm. Zahnarzt Pauling mit Peter, meinem Freund, zog in die Kellerwohnung einer Villa auf der anderen Seite der Bahn.

    Am Tag nach dem Einzug der Russen schlich er mit Peter durch den schmalen Hofgang bis zum Zaungitter. Den ganzen Hofkonnten sie, vorsichtig um die Ecke guckend, überblicken. Welch ein Schock:

    Im Sonnenschein auf dem Gullydeckel im Hof stand die schöne Glasvitrine aus Omas Korridor mit dem zierlichen Porzellan! Zwischen deren Glasplatten spielten die Russenkinder mit Puppen, stellten diese zu den zierlichen Figuren! So was hätte Frieder nie machen dürfen! Natürlich lag dann auch schon eine kleine Porzellantänzerin kaputt auf dem Hofpflaster.

    Als er entsetzt in der neuen Notunterkunft seiner Knorrs Oma diese Untaten berichte, schlägt diese entsetzt die Hände über dem Kopf zusammen. Vati kam zufällig mit der schmutzigen Tischlerschürze vorm Bauch ins Zimmer. Und noch Mal musste er berichten: „Das has’de nu davon, wie kann mo nur so däämlich sein, das Zeug nicht mitzunähm’. Wenn’ch mo überleg, was mo alles durch den Garten rausgeschleppt ham! - Und du lässt dei Porzellan drin!" Furchtbar hat er sich aufgeregt.

    Auf den Tag genau ein Jahr wohnten sie bei der Budens-Oma am Bahnhof.

    Als die Russen auszogen, war es wieder spannend.

    Vorm Haus stand ein großer Laster. Die Russen schleppten mit eifrigen deutschen Helfern die Möbel raus. Diesmal hat Oma aufgepasst, „wie ein Heftelmacher": Sie stand aufgeregt im Tor des uns gegenüberliegenden Einganges der Fleischerei. Ihre Wohnzimmerstühle wurden verladen. Kaum waren die Möbelträger wieder im Haus, schwuppdiwupp, war Oma am Wagen, zerrte Stühle vom Wagen, rein in den Hausflur der benachbarten Fleischerei.

    Die schweren Möbel nahmen die Besatzer nicht mit. So war ihnen vieles geblieben. Vati zeigte auf die Kerben seines Kirschbaumschrankes:

    „Da haben sie die Flaschenköpfe abgeschlagen!"

    Jetzt zog die Familie in eine größere Wohnung im Haus mit dem dritten Turm der Stadt - ein Stockwerk tiefer, langer Korridor mit elf Türen!

    Das Schönste war, dass sein großer Bruder am Korridorbalken Haken für die Schaukel einschraubte. Er hat ihm das Schaukeln gelehrt, konnte bei den Schwüngen mit den Füßen sogar die Decke berühren. Aufpassen musste man. Auf der einen Seite stand Vatis Meisterstück: ein großer Kleiderschrank, welcher heute noch auf der Datsche in Ehren gehalten wird. Passgenau schließen nach Jahrzehnten Fächer und Türen, so dass eingeklemmte Kleidungsstücke ständigen Ärger verursachen.

    Auf der anderen Seite Opas zwei große Standuhren: sein Glanzstück, eine „ganz alte wertvolle, wie ihm sein großer Bruder erklärte, „die Zahnräder wären von Hand gefeilt, was das Kindergartenkind natürlich nicht verstand - und Omas Standuhr, welche heute noch den Westminstergong in des Autors Wohnzimmer schlägt.

    Wegen der Flüchtlingswelle musste Oma ihre Parterrewohnung aufgeben und bei der Familie mit einziehen.

    Kein Mensch hat sich in diesen Umbruchszeiten für die Uhren interessiert, wahrscheinlich landete das Glanzstück später aus Platzgründen in Vaters Möbellager am Bahnhof.

    Erst sechs Jahrzehnte später wird Großvaters Attraktion wieder zum Leben erweckt, kommt ihre Besonderheit beim Sichten alter Unterlagen mit der „Deutsche Uhrmacher-Zeitung, Juli 1941" erneut ans Licht. Sie gibt einen interessanten Einblick in die Familiengeschichte der letzten zwei Jahrhunderte:

    Frieders Ur-Ur-Großvater, 1822 geboren, hatte den Bau der bewussten Uhr schon 1848 begonnen. Unfertig wurde diese gegen 1880 von dessen Schwiegersohn, Frieders Urgroßvater, Franz Knorr, fertig gestellt, ging aber nur fehlerhaft, blieb erneut unvollendet.

    Dieser Franz Knorr gründete eine wahre Uhrmacherdynastie. Alle vier Söhne errichteten in Ostthüringen, in Kraftsdorf, Weida, Roda und Schmölln Uhren-, Optik- und Goldwarengeschäfte.

    Der Zweite, Frieders Großvater Richard Knorr, geboren 1874, eröffnete sein Geschäft 1906 in Schmölln, welches er von Oskert Lückert übernahm, der nach Las Palmas auswanderte. Bereits 1912 konnte er den Altbau aufstocken und mit dem Turm am Markt 7 vollenden.

    Er erbte die unvollendete Uhr somit in dritter Generation und hat diese um 1920 zum Laufen gebracht. Das Besondere daran ist, dass das Uhrwerk nur aus drei Rädern und einem sogenannten „ Stiftscherengang" besteht, so dass die drei Räder ohne Zwischenantrieb die Zifferblätter für Sekunden, Minuten und Stunden antreiben - eine wahre Rarität.

    Diese Standuhr schmückte noch 1933 als Ausstellungsstück die Druckerei Böckel vom „Tagesblatt" auf der anderen Seite der Bahnschienen, gegenüber dem Stellwerk, welches für Frieder als Kind so interessant war. Dort, wo auch seine Großmutter Ernestine früher als Redakteurin schriftstellerte.

    Wieder musste mehr als ein halbes Jahrhundert vergehen, bis ein Urenkel von Frieders Großmutter, väterlicherseits, also kein Nachkomme der Knorr-Familie, diese Standuhr im Möbellager Bude entdeckte, aufmotzte und zum Leben erweckte.

    Nach gütlicher Familieneinigung der väterlichen und mütterlichen Nachkommen wurde die Uhr der Blutsverwandtschaft zurückgegeben, tickt heute im Wohnzimmer von Frieders Neffen, einem Knorr´schen Urenkel in Jena. Dessen Ur-Ur-Ur-Großvater hatte das Werk 1848 begonnen, durfte es damals als vorgesehenes Meisterstück nicht weiter bearbeiten, weil die Arbeit vor dem offiziellen Prüfungsbeginn schon begonnen wurde.

    Winter 47/48, Kriegstagebuch Ernstine Bude:

    Wir haben, wie fast alle Mitmenschen keine Kartoffeln mehr, noch keine Butter, keine Nährmittel, keine Waschmittel, keine Schuhe.

    Die Leute vertauschen gegen Nahrungsmittel die notwendigsten Wäsche- u. Kleidungsstücke. Wir kauften in diesen Tagen 1 Ltr. Speiseölfür 400 RM, 1 Pfund Schwarztee kostet 1000 RM, 1 Pfund Weizen oder Roggenmehl 25 RM. Ein normaler Wochenlohn beträgt 40 -

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