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KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 2
KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 2
KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 2
eBook365 Seiten4 Stunden

KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 2

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Über dieses E-Book

Wer weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss sich ihn nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

Der zweite Band versammelt Arbeiten zur Gegenwartsliteratur aus Österreich und der Schweiz. Man lernt einen alttestamentarischen Aphoristiker kennen, einen ewigen Existentialisten, einen Lachsfischer aus Barbarswila, einen passionierten Helfer namens Viktor, einen albanischen Wiener und einen Berner aus Süditalien. Dazu siebenundsiebzig Geschwister, Pferdekutschen im Prater, erotische Malerei und einiges mehr. Sogar Habsburg steht in Flammen.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum26. Apr. 2020
ISBN9783957658951
KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 2

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    Buchvorschau

    KAISERSCHMARRN, RÖSCHTI UND ANDERE SCHMANKERL - Klaus Hübner

    1

    Vorwort

    In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchnerpreis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft«. Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn allein deshalb auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

    »Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und, nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

    Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny!

    Voilà, der zweite Band beginnt …

    Klaus Hübner

    München, im April 2020

    Literatur aus Österreich

    Herzzeit für Philologen. Der Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Paul Celan

    Liebe ist immer etwas sehr Privates, und nur durch den Bekanntheitsgrad der Liebenden wächst ihr zuweilen ein Element von Öffentlichkeit zu. Das gilt mit einiger Sicherheit für das Verhältnis zwischen Ingeborg Bachmann (1926–1973) und Paul Celan (1920–1970). Die Werke dieser beiden Schriftsteller gehören zum Kernbestand der deutschsprachigen Literatur nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, und sie gehören auch deshalb dazu, weil sie, auf unterschiedliche Art und Weise, vom deutschen Zivilisationsbruch in der NS-Zeit geprägt sind, vor allem von der fabrikmäßigen Ermordung vieler Millionen Juden und deren so unsagbaren wie unendlichen Folgen. Was wäre die deutschsprachige Lyrik ohne Die gestundete Zeit (1953) und Anrufung des Großen Bären (1956)? Ohne Mohn und Gedächtnis (1952) und Sprachgitter (1959)? Was wäre die Erinnerung an die Fünfziger- und Sechzigerjahre ohne die berühmte Gruppe 47? Unser Blick auf die Nachkriegszeit wäre unvollständig ohne die Verse, die Stimmen und die Fotos von Bachmann und Celan.

    Dass die Tochter eines Kärntner Nazis der ersten Stunde und der jüdische Holocaustüberlebende aus Czernowitz, die sich im Mai 1948 in Wien kennenlernten, eine für ihre Literatur eminent folgenreiche Liebesbeziehung zu gestalten versuchten, die letztlich in Verzweiflung, Verstummen und Tod endete, weiß man seit Langem. Dokumentiert wird diese nicht nur poetische Korrespondenz in dem Band Herzzeit, und sie wird so gut dokumentiert, wie das durch Briefe und Gedichte, Kommentare und Nachworte überhaupt möglich ist. Gedichte? Mit In Ägypten, entstanden im Juni 1948 und »Ingeborg« gewidmet, beginnt Herzzeit. Der Titel des Bandes stammt aus dem Celan-Poem Köln, Am Hof, das nach dem Wiederaufleben der Liebesbeziehung im Herbst 1957 entstand. Beide Gedichte gehören zu den 196 in Herzzeit versammelten und ausführlichst kommentierten Dokumenten aus etwa zwanzig Jahren. Das Herausgeberteam hat ganze Arbeit geleistet, und entsprechend begeistert zeigten sich die Experten – wenn auch der eine oder andere Einwand gegenüber manchem Detail nicht ausblieb. Die Briefe, Postkarten, Widmungen und Grußtelegramme enthüllten ein »existenzielles Ringen um die deutsche Sprache im Angesicht der historischen Katastrophe« und offenbarten zudem »einen verzweifelten Kampf um private Verständigung und poetisches Verstehen«, schreibt der Kritiker Hubert Spiegel, der den »Kampf gegen das Verstummen, die Überwindung des Schweigens« als zentrales Thema der Briefe bezeichnet. Was unbedingt richtig ist, durch alles Auf und Ab dieses immer höchst gefährdeten Verhältnisses hindurch. Die junge Frau aus Klagenfurt wird zu einer erfolgreichen Dichterin, die Kritiker und Kollegen der Gruppe 47 im Sturm für sich einnimmt, während Celan mit seiner heute weltberühmten Todesfuge beim Gruppentreffen in Niendorf (1952) kopfschüttelnd abgetan wurde. Schon 1951 hatte der nach Paris gegangene Dichter seine spätere Frau Gisèle Lestrange kennengelernt. Bachmann war dem Komponisten Hans Werner Henze begegnet, und im Mai 1958, wenige Monate nach dem Wiederaufleben ihrer Liebesbeziehung zu Paul Celan, traf sie zum ersten Mal den Schweizer Schriftsteller Max Frisch, mit dem sie sich bald darauf zusammentat. Die Briefe zwischen Celan und Frisch, die man in Herzzeit aufgenommen hat, sind zum Verständnis der Konstellation ebenso wichtig wie die zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Auch sie bestätigen, was man ahnen konnte: Paul Celan, dessen Kosmos durch die sogenannte Goll-Affäre und durch eine als antisemitisch empfundene Kritik seines Sprachgitter-Bandes verdüstert wurde, war im Grunde auf Erden nicht zu helfen. Weder der Büchnerpreis konnte sein Gefühl tilgen, verraten worden zu sein, noch vermochten das die Hilfs- und Tröstversuche seiner Freunde – Ingeborg Bachmann an erster Stelle. Nichts und niemand konnte verhindern, dass der Mann, der die Dichtung in deutscher Sprache um eine ganze Dimension atemberaubend neuer lyrischer Ausdrucksmittel bereichert hat, 1970 seinem Leben ein Ende setzte. Drei Jahre später starb Ingeborg Bachmann an den Folgen eines Brandunfalls in Rom.

    Muss man Herzzeit gelesen haben? Nein, das muss man nicht. Wer die literarischen Werke der Briefpartner nicht kennt, wird von der Lektüre nur wenig haben. Der für die Celan- und die Bachmann-Forschung äußerst wichtige Band könnte allerdings ein Anlass sein, sich den heute nicht mehr allgemein präsenten Texten zweier großer Poeten des 20. Jahrhunderts zuzuwenden. In Bachmanns Spätwerk, speziell in Drei Wege zum See und im Malina-Roman, kann man auch mehr über ihre unglückliche Liebe zum Autor der Todesfuge erfahren. Die Gedichte und Prosastücke aber, für die Ingeborg Bachmann und Paul Celan zu Recht berühmt geworden sind, ruhen meistens, oft lange nicht mehr gelesen, in den Regalen. Sie sollte man hervorholen und mit neuen Augen lesen. Sie sind das Primäre. Ihnen sollte man sich widmen. Und das geht zur Not auch ohne den beeindruckenden und aufschlussreichen Herzzeit-Band.

    Ingeborg Bachmann / Paul Celan: Herzzeit. Der Briefwechsel. Mit den Briefwechseln zwischen Paul Celan und Max Frisch sowie zwischen Ingeborg Bachmann und Gisèle Celan-Lestrange. Herausgegeben und kommentiert von Bertrand Badiou, Hans Höller, Andrea Stoll und Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2008: Suhrkamp Verlag. 399 S.

    Aphoristik als Moralistik. Elazar Benyoëtz – Dichtung und Weisheit

    Der wunderbaren Buchreihe Profile, die sich im Untertitel als Magazin des Literaturarchivs der Österreichischen Nationalbibliothek entpuppt, können in Deutschland wohl nur einige Marbacher Kataloge das Wasser reichen. Wunderschön aufgemacht, mit zahlreichen Fotos und Faksimiles aus dem Vorlass oder dem Privatbesitz des Dichters, ist kürzlich ein stattlicher Band über Elazar Benyoëtz erschienen: Korrespondenzen. Der 1937 als Paul Koppel in Wiener Neustadt geborene und Ende 1939 mit den Eltern nach Palästina gelangte Dichter, der in hebräischer Sprache debütierte und seit 1969 meistens auf Deutsch schreibt, ist nach wie vor einer der am wenigsten bekannten Chamisso-Preisträger. Schon 1988 hat er den Preis erhalten, und seitdem ist sein Werk ungeheuer angewachsen – Gedichte und Prosa, Essays und Briefe, vor allem aber Aphorismen. Benyoëtz schreibe »Aphoristik als Moralistik«, hat Harald Weinrich einmal gesagt – Korrespondenzen enthält auch eine kluge Auswahl aus seinem Briefwechsel mit dem Dichter. Aphorismenbände jedoch, und seien sie noch so brillant, kaufen die Leute selten.

    Fast fünfzig Seiten umfasst die Einleitung, die die Überschrift »Folgenichtig. Oder: Ich unterschreibe nicht« trägt und von Elazar Benyoëtz selbst stammt. »Ich habe keine deutsche Umwelt, kein Deutsch um die Ohren, ich muss mein eigenes Herz essen«, heißt es in dieser autobiografischen Melange. Genauso fundamental: »Auschwitz und Deutsch sind unzertrennlich, Hebräisch und Auschwitz sind unvereinbar … Als ich ins Deutsche geriet, sah ich seinen großen Vorzug ein: in jeder anderen Sprache wäre es leichter, Jude zu sein.« Warum diese Collage aus Gedicht- und Prosazeilen, Aphorismen, Briefstellen und Zitaten? Weil man dem Poeten damit wohl am nächsten kommt, und er selbst sich vielleicht auch: »Das Hohelied der Fälscher läuft unter ›Memoiren‹.« Ein Fälscher will Benyoëtz nicht sein – er spricht als Dichter, immer. Und als religiöser Mensch: »Wenn ich etwas über Gott und die Dichtung sagen möchte, will ich nicht gezwungen werden, mein Urteil über Arafat oder Sharon abzugeben. Mit Fragen solcher Art wird die Poesie öffentlich ausgepeitscht.« Das Problem dabei: Wer hört noch zu? »Welche Blumen sind es noch, durch die man heute sprechen könnte?«

    Um diesen eminenten Dichter zu entdecken oder genauer kennenzulernen, kommen diese Korrespondenzen gerade recht. Zwölf Experten, darunter der Schriftstellerkollege Robert Menasse und die profilierte Wiener Kritikerin Daniela Strigl, beleuchten und deuten sein Werk, und die von Michael Hansel zusammengestellte »Korrespondenz in Bildern und Texten« liefert aufschlussreiche Fotos. Zum Beispiel eins von Benyoëtz und SAID (Stuttgart 1998), auf dem im Hintergrund deutlich ein Schriftzug zu erkennen ist: »Viele Kulturen – eine Sprache.«

    Elazar Benyoëtz, Korrespondenzen. Herausgegeben von Bernhard Fetz, Michael Hansel und Gerhard Langer (= Profile 21). Wien 2014: Zsolnay Verlag. 269 S.

    Fremde Denkräume. Elazar Benyoëtz zum achtzigsten Geburtstag

    Der in Wiener Neustadt geborene und in Palästina aufgewachsene Elazar Benyoëtz, der mit dem literarischen Schreiben in seiner »Muttersprache Hebräisch« angefangen hat und seit 1969 meistens in seiner »Vatersprache Deutsch« publiziert, ist inzwischen einer der am wenigsten bekannten Chamisso-Preisträger. Das liegt natürlich daran, dass er Israel nur noch selten verlässt und im hiesigen Literaturbetrieb so gut wie nicht präsent ist. Es liegt aber mit Sicherheit auch daran, dass seine Art des Dichtens und Denkens völlig quer steht zu einem Zeitgeist, dem das möglichst mühelose und möglichst unterhaltsame Konsumieren von Medien aller Art den Zugang zu einer Weisheit blockiert, deren gedankenreiche Widerständigkeit ohne Reflexion und Empathie nicht zu haben ist.

    In seinem 2001 erschienenen Band Allerwegsdahin hat Elazar Benyoëtz seinen Weg als Jude und Israeli ins Deutsche, wie der sich an Jakob Wassermann anlehnende Untertitel lautet, erläutert: »Deutsch schreibend, nehme ich Anteil an dem vergossenen, an dem verflossenen Leben und verschreibe mich der Zukunft alles buchstäblich Vergänglichen … Vergänglichkeit wird begangen, und sie erstreckt sich weithin, weitaus. Niemand würde aus meinen Texten entnehmen, dass ich in Tel Aviv fast geboren und daselbst Strand- und Straßenkind war.« Am 29. Oktober 1981 schrieb der Dichter an Harald Weinrich: »Deutsch war mir nie eine Fremdsprache, auf einem dürftigen Niveau begleitet sie mein Gehör fast unaufhörlich.« Das Niveau blieb natürlich nicht sehr lange dürftig: »Ich liebte die Dichtung, die Dichter, die Gedichte, die Strophen, die Zeilen, über alles Jakob Haringer … Else Lasker-Schüler gab mir den Segen, Haringer gab mir nichts, er ließ mich aber wissen, dass es Dichter unter Umständen gibt, und andere – unter allen Umständen.«

    Bereits 1988 hat Elazar Benyoëtz den Chamisso-Preis erhalten, und seitdem ist sein Werk ungeheuer angewachsen – Gedichte und Prosa, Essays und Briefe, vor allem aber Aphorismen. Harald Weinrich nennt in seinem Vorwort zur Studie Der israelische Aphoristiker Elazar Benyoëtz, die Christoph Grubitz 1994 veröffentlicht hat, den Aphorismus »eine eigenartige Gattung«, und er fährt fort: »Sie ist, außer durch ihre knappe, prägnante, pointierte Form, auch durch ihren Inhalt definiert: Aphoristik als Moralistik.« Zum aphoristischen Sprechen dieses Dichters gehören das Entlarven sprachlicher Gewohnheiten durch ihr Wörtlichnehmen oder ihr Umdeuten, manchmal auch das absichtliche Missverstehen und der bewusste Verstoß gegen grammatische Regeln. Seit 1969, als er mit Sahadutha in Deutschland debütierte, hat Elazar Benyoëtz weit mehr als dreißig Aphorismenbände veröffentlicht. »Ein guter Aphorismus ist von erschöpfender, ein schlechter von ermüdender Kürze«, hat er einmal formuliert. Nicht nur das Gedicht, auch der Aphorismus ist für Benyoëtz eine dem Verstummen benachbarte Ausdrucksform, eine »Bruchstelle des Schweigens«. Die konzise, manchmal bis zum Einzelwort verknappte literarische Form des Aphorismus sei »als unsystematisches Erlebnisdenken und Erkenntnisspiel im Grenzgebiet von Wissenschaft, Philosophie und Literatur besonders auf die kritische Weiterarbeit des Lesers angewiesen«, heißt es im Metzler Literatur Lexikon. Die Hauptthemen von Elazar Benyoëtz sind Sprache, Vergänglichkeit, Erinnerung und Glauben – große Themen aller Dichtung überhaupt, höchst geeignet für die »kritische Weiterarbeit des Lesers«. Wobei zu präzisieren wäre: eines dazu auch bereiten, eines geduldigen, zweifelnden und nachdenklichen Lesers. Im Grunde möchte man nur noch zitieren: »Ein Dichter / muss auch leere, / vollendet leere Seiten / schreiben können.« Oder: »Man hat die Wahl, / die man trifft.« Oder auch – jeder kennt das und hat es doch noch nie so formuliert gesehen: »Es ist leichter, / sich verständlich zu machen, / als sich zu erklären.« Anders gesagt: »Dem Verständnis / stehen alle Erklärungen / im Wege.« Und im Hinblick auf das neue Modewort »postfaktisch« könnte man mal über folgenden Aphorismus sinnieren: »Auch Tatsachen / bleiben nicht gern / bei den Fakten.« Was macht man damit? Erwägen, überlegen, weiter nachdenken natürlich – mit Elazar Benyoëtz! Doch wer mag heute noch hinhören, nachfühlen, sich verzaubern lassen, mitdenken und bedenken?

    Elazar Benyoëtz spricht aus einer anderen Zeit, und er spricht aus der Fremde: »Ich habe keine deutsche Umwelt, kein Deutsch um die Ohren, ich muss mein eigenes Herz essen«, heißt es in einem autobiografisch grundierten Essay, in dem er seine Schreibsituation erläutert. Diese ist, schon immer und heute erst recht, vom barbarischen Zivilisationsbruch des NS-Terrors unauslöschlich geprägt: »Auschwitz und Deutsch sind unzertrennlich, Hebräisch und Auschwitz sind unvereinbar … Als ich ins Deutsche geriet, sah ich seinen großen Vorzug ein: In jeder anderen Sprache wäre es leichter, Jude zu sein.« Was es bedeutet, nach dem brutalen Einschnitt des Holocaust im 20. und 21. Jahrhundert »Jude zu sein«, auch das erfährt man in den Aphorismen, Gedichten, Prosaskizzen und Briefen von Elazar Benyoëtz. Und man erfährt es nur dort, denn vermeintlich leichter Zugängliches zu schreiben hat er stets verweigert: »Das Hohelied der Fälscher läuft unter ›Memoiren‹.« Und ein Fälscher, der über die Abgründe menschlicher Existenz allzu glatt und flott hinweggeht, will Benyoëtz nicht sein. Er spricht nicht als Unterhaltungsschriftsteller, er spricht als Dichter, und zwar immer: »Nicht alles ist Dichtung, und Dichtung ist nicht die Wahrheit, aber sie ist das, was wir von der Wahrheit haben und von ihr zu berichten wissen.« Zugleich ist er ein religiöser Mensch, dem das Buch Kohelet das einzige unumschränkt geltende Vorbild ist. Doch nicht der Glaube überzeugt, nur die Sprache: »Sprichst du nicht viel und bleibst du dem Wenigen treu, kommst du glimpflich, gerade noch gottesfürchtig davon. Davon? Wenn du nicht fragst, wohin. In jedem Fall wirst du gerichtet.« Literatur und Religiosität gehören bei ihm unauflöslich zusammen: »Ist Gott mit mir, ist es auch das ganze Alphabet.«

    Niemand darf, in welchem Kontext auch immer, das Werk und die Person dieses Poeten für eigene Zwecke instrumentalisieren – was das angeht, wird Benyoëtz ganz deutlich: »Wenn ich etwas über Gott und die Dichtung sagen möchte, will ich nicht gezwungen werden, mein Urteil über Arafat oder Sharon abzugeben. Mit Fragen solcher Art wird die Poesie öffentlich ausgepeitscht.« Einen ähnlich emphatischen Begriff von Poesie wie Benyoëtz hat wohl kaum ein anderer zeitgenössischer Autor. Das Wichtigste an seinen großartigen Gedichten und sinnreichen Aphorismen ist der Denkraum, den sie mit nur wenigen Worten öffnen. Wer sich von der Literatur nicht ausschließlich Nutzen und Vergnügen, sondern noch dazu das Öffnen solcher Denkräume erwartet, der blättere in den Büchern von Elazar Benyoëtz. Da steht alles drin.

    Elazar Benyoëtz: Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Zürich/Hamburg 2001.

    Elazar Benyoëtz: Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. München 2007.

    Elazar Benyoëtz: Der Mensch besteht von Fall zu Fall. Aphorismen. Mit einem Nachwort von Friedemann Spicker. Stuttgart 2009.

    Elazar Benyoëtz: Korrespondenzen. Herausgegeben von Bernhard Fetz, Michael Hansel und Gerhard Langer (= Profile 21). Wien 2014.

    Sein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche. Neues von Elazar Benyoëtz

    Aber? Wenndig? Soll der Buchtitel ein hochreflektiertes, konjunktivisches Schreiben mit musilschem Möglichkeitssinn ankündigen? Im Duden jedenfalls wird man »aberwenndig« vergeblich suchen. Elazar Benyoëtz hat unter diesem Titel eine Fülle autobiografischer Splitter zu einem Lebensmosaik zusammengetragen. »Mein Weg – ein großes Wort auch dies, ich lass' es lieber fallen; zerbricht es, findet es Anklang vielleicht. Splitter sind die Bedeutungen dessen, was Sinn hatte« (18). Die Splitter verdichten sich zur Bilanz, zur Summe eines ungewöhnlichen Lebens: »>Man kann nicht über seinen Schatten springen<: die wachsende Lebenserfahrung ist dieser Schatten« (29). Was dieses Dichter- und Gelehrtenleben durchgängig prägt und es für Nachgeborene anregend und reich macht, ist nicht allein sein historischer Ort: »Rom wie Jerusalem sind … nur noch über Auschwitz zu erreichen« (167). Es ist auch das geistige Dazwischen, das aus dieser Verortung hervorgegangen ist: »Für den Israeli denke ich zu deutsch, für den Deutschen zu jüdisch« (276). Und es ist die Singularität dieses Lebens: »Den umgekehrten Weg, aus dem Deutschen ins Hebräische, sind viele gegangen; den Weg als israelischer Dichter ins Deutsche ging niemand, außer mir« (380).

    Zunächst fällt auf, dass Aberwenndig womöglich das erste deutsche Buch ist, das wie ein hebräisches gelesen werden will, also von rechts nach links. Was anfangs etwas verwirrend ist – aber wirklich nur anfangs. Am Text und an der Lesefolge ändert sich ja nichts, wenn man das Buch »hebräisch« in Händen hält. Weiter fällt bald auf, dass Aberwenndig einen Vorgänger hat. Schon in seinem 2001 erschienenen Band Allerwegsdahin hatte Elazar Benyoëtz seinen Weg als Jude und Israeli ins Deutsche, wie der sich an Jakob Wassermann anlehnende Untertitel beider Bücher lautet, knapp erläutert. In Aberwenndig liest man, ähnlich wie schon in Allerwegsdahin: »Niemand würde aus meinen Texten entnehmen, dass ich in Tel Aviv fast geboren und daselbst Strand- und Straßenkind war. Ich wollte immer in die Welt hinaus schwimmen, am Ende saß ich im Zug und hörte das entsetzliche Rollen von Wien bis Köln. Züge, deutsche Atemzüge« (96). Die Hauptthemen von Elazar Benyoëtz sind Sprache, Vergänglichkeit, Erinnerung und Glauben – große Themen aller Dichtung überhaupt. Er hat Gedichte und Prosa, Essays und Briefe, vor allem aber Aphorismen veröffentlicht. Nicht nur das Gedicht, auch der Aphorismus ist für ihn eine dem Verstummen benachbarte Ausdrucksform, eine Art Bruchstelle des Schweigens.

    Seine spezielle Art aphoristischer Moralistik findet sich selbstverständlich auch im neuen Band, neben zahlreichen Zitaten aus Literatur und Philosophie, vor allem solchen aus dem Alten Testament. Etwa: »Aller Gründe Grund ist Bodenlosigkeit« (10). Oder: »Wo nichts einleuchtet / gibt es nichts aufzuklären« (197). Doch die Aphorismen machen nur einen Bruchteil des gesamten Buches aus – auch, weil der Dichter weiß, dass man nicht allzu viele hintereinander weg lesen kann. Außerdem: »Gute Aphorismen sind von erschöpfender, schlechte von ermüdender Kürze« (44). Schlechte Aphorismen sucht man hier vergebens. Was man jedoch allenthalben findet, sind gute Gedichte und kluge Prosastücke, von denen viele speziell für Literaturhistoriker hoch interessant sind, auch weil sie mit Urteilen nicht sparen: »Im Gegensatz zu den wenigen anderen, die sich mit ihr messen können, war sie, Gertrud Kolmar, nicht entschieden, aber fraglos die größte deutsch-jüdische Dichterin im 20. Jahrhundert« (185). Oder: »Auf Celan kann die deutsche Sprache nicht verzichten, sowenig sie das Recht auch hat, auf ihn Anspruch zu erheben« (186). Zu derartigen Betrachtungen und Sentenzen – »Anne Frank ist das Lächeln Kafkas« (214) – treten prägnante Briefe oder Briefstellen von Dichterinnen wie Margarete Susman oder Marie Luise Kaschnitz, dem nach Jerusalem vertriebenen Dramatiker Max Zweig, dem im Londoner Exil lebenden Schriftsteller H. G. Adler, dem Romanisten und Sprachwissenschaftler Harald Weinrich, dem Frankfurter Philosophen Theodor W. Adorno, dem Theologen und Friedenskämpfer Rufus Flügge und vielen anderen Korrespondenzpartnern des Autors.

    1963 kam Elazar Benyoëtz zum ersten Mal nach Berlin, und bald darauf begann er mit der konkreten Arbeit an einem Projekt, das inzwischen Kanon- und Kultstatus besitzt und bis heute einmalig geblieben ist: die Bibliographia Judaica. »Ich lege meinen Weg zurück, ziehe mit Moses Mendelssohn von Dessau aus und eben durch das Rosenthaler Tor in Berlin ein … ich warte nur noch, bis Salomon Maimon eintrifft,

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