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HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 1
HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 1
HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 1
eBook398 Seiten4 Stunden

HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 1

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Über dieses E-Book

Wer weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss sich ihn nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

Der erste Band versammelt Arbeiten zur deutschsprachigen Literatur seit den 1960er-Jahren. Man lernt einen seriösen Hippie kennen, einen äthiopischen Prinzen, einen masurischen Berserker, einen tuwinischen Schamanen, eine bulgarische Berlinerin, einen Münchner aus Teheran und einen wunderbaren Lyriker aus Luxemburg. Dazu preußische Heimatkunde, Robinson und Freitag auf Hiddensee, Fallobst aus Schwabing, mehrere Windhunde und einiges mehr.
SpracheDeutsch
Herausgeberp.machinery
Erscheinungsdatum13. Apr. 2020
ISBN9783957658975
HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER: Kein Twitter, kein Facebook • Von Menschen, Büchern und Bildern • Band 1

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    Buchvorschau

    HIPPIES, PRINZEN UND ANDERE KÜNSTLER - Klaus Hübner

    5

    Vorwort

    In der Wochenzeitung Die Zeit vom 10. Januar 2019 charakterisiert der 1995 mit dem Büchner-Preis bedachte Dichter Durs Grünbein unsere Gegenwart so: »Jeder sein eigener Handy-Sklave, jeder sein eigener von Computern und Tablets gesteuerter Idiot in der rund um die Uhr aktiven Netzwerkgemeinschaft.« Mir ist das zu pauschal. Jeder? Es gibt viele, die Handy, Computer und Tablet nutzen und trotzdem keine Sklaven oder Idioten sind. Und es gibt eine Menge Leute, die über ihr Tun nachdenken und zu manchem einfach »Nein« sagen. Wer zum Beispiel weder Twitter noch Facebook noch andere angeblich soziale Medien nutzt, wird schon seine Gründe haben. Ein im moralischen Sinne besserer Mensch ist er deswegen noch lange nicht. Einen ignoranten Technik- und Modernitätsverweigerer darf man ihn auch nicht nennen. Was aber dann? Man muss ihn sich nicht zwingend als einen Menschen vorstellen, der eher von Künstlern, Büchern, Bildern, Städten und Landschaften angeregt wird als von noch schnelleren Rechnern und noch spezielleren Apps. Aber man darf. Auch als einen, der weiß, dass es nicht wenige Zeitgenossen gibt, denen es ähnlich geht. Für solche Menschen ist dieses Buch gedacht.

    »Das Buch mag den neuen, scheinbar körperlosen, sein Erbe beanspruchenden, in überbordendem Maß Informationen zur Verfügung stellenden Medien in vielem unterlegen und ein im ureigenen Sinn des Wortes konservatives Medium sein, das gerade durch die Abgeschlossenheit seines Körpers, in dem Text, Bild und Gestaltung vollkommen ineinander aufgehen, wie kein anderes die Welt zu ordnen, manchmal sogar zu ersetzen verspricht«, schreibt die 1980 geborene Judith Schalansky im Vorwort ihres 2018 erschienenen Buchs Verzeichnis einiger Verluste. Dass weniger Bücher, vor allem weniger literarische Texte gelesen werden als noch vor zehn oder zwanzig Jahren, ist ein Faktum. Das verheißungsvoll und schön klingende Wort »Sprachkunstwerk« hört sich heute sehr gestrig an. Wer ist neugierig auf Sprachkunstwerke? Und – um die Schraube noch weiter zu drehen – wer liest heute überhaupt noch Bücher über Bücher? Allzu viele Leute werden es nicht sein. Aber die sind wichtig. Wäre ich davon überzeugt, dass eine umfangreiche Sammlung von Interviews mit Literaten, literarischen Essays, Künstlerporträts, Glossen und Streiflichtern aller Art und obendrein auch noch vielen Buchrezensionen ein altmodisches und tendenziell nutzloses Unterfangen ist, hätte ich auf die Arbeit an diesem Projekt verzichtet und mich stattdessen – lesend natürlich – in einen wundermilden Biergarten zurückgezogen. Oder sonst wohin. Aber ich weiß ganz sicher, dass es immer noch einige, darunter auch relativ junge Leute gibt, die mit Interesse und manchmal mit Begeisterung genau das suchen: Begegnungen mit Literatur, mit Malerei, mit Kulturgeschichte – und mit den Menschen, die sie machen und gestalten. Auch die weiterhin enorme Aufmerksamkeit für Literaturfeste, Autorenlesungen, Ausstellungen und andere Kulturevents spricht dafür. Trotz des allenthalben konstatierten und oft bitter beklagten gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts von Kunst und Literatur können sich nur wenige Zeitgenossen ein Leben ganz ohne sie vorstellen. Und nennen Sie mich ruhig einen Träumer, einen Fantasten oder einen hoffnungslosen Idealisten: Auch heute noch – und höchstwahrscheinlich auch in nächster Zukunft – lassen sich der Kunst und der Literatur soziale Funktionen zuschreiben, die nicht die allerunwichtigsten sind. Die Förderung der Wach- und Aufmerksamkeit für ein lebenswertes und vielleicht sogar schönes Leben – nicht nur für sich selbst – könnte man da anführen, die Erweckung und Intensivierung von Empathie für nicht konforme Mitmenschen und zunächst fremd anmutende Kulturen, die Weiterentwicklung verantwortungsvollen Handelns in Politik und Gesellschaft und noch manches mehr. Ich bin zum Beispiel ziemlich sicher, dass die deutsche Einwanderungs-, Flüchtlings- und Asylpolitik anders und besser aussehen würde, hätten die maßgeblichen Politiker und andere wichtige Entscheidungsträger die spätestens seit den 1990er-Jahren kaum noch zu übersehende interkulturelle Literatur – mit ihren vielfältigen Blicken »von außen« – wirklich wahrgenommen. Ich bin auch recht sicher, dass die intensive Lektüre von Literatur und Dichtung dazu führen kann, die überall festgestellte und kritisierte Verrohung der öffentlichen wie der privaten Sprache zu erkennen, nicht auf sie hereinzufallen oder ihr sogar bewusst entgegenzutreten. Und ich bin … oh weh, doch ein hoffnungsloser Idealist? Urteilen Sie selbst, fangen Sie einfach an zu lesen …

    Das Projekt Kein Twitter, kein Facebook ist auf vier Bände angelegt und enthält ungefähr zwei Drittel meiner in den letzten beiden Jahrzehnten entstandenen Texte. Alle wurden leicht überarbeitet. Irgendwelche Positionierungen auf politischen, wissenschaftlichen oder kulturellen »Feldern« sind mit diesem Projekt nicht beabsichtigt. Nachweise der Erstpublikationen finden sich am Ende jedes Einzelbandes. Die Regelkonformität der Rechtschreibung ist der Lesbarkeit untergeordnet. Das modische Thema »Sprache und Gender« bleibt außen vor. Zu danken wäre vielen Freunden und Kollegen, auch wenn sie von meinen Plänen nichts wussten. Einer, der davon wusste, war der Schriftsteller Tiny Stricker, der mich zu diesem Projekt fast schon überreden musste und das mit Feingefühl und Beharrlichkeit getan hat. Danke, Tiny!

    Voilà, es kann losgehen …

    Klaus Hübner

    München, im Februar 2020

    Literatur aus Deutschland, mit einem Hippie und einem Windhund

    Sind die Deutschen noch deutsch? Nicht nur Hans-Dieter Gelfert wundert sich über die heutigen Deutschen

    Die Frage, was »deutsch« sei, bleibe immer aktuell. Meinte, so glaube ich mich zu erinnern, der große Nietzsche. Sinngemäß jedenfalls. In den Jahrzehnten nach der 1990 festgeklopften staatlichen Einheit schien sie mal wieder höchst aktuell. Man musste nur deutsche Zeitungen lesen. Besinnungsaufsätze allerorten – oft Befreiungsversuche von »Deutschland peinlich Vaterland« hin zu einer »Normalität«, vor der niemand mehr Angst haben müsse. In den Buchhandlungen lag viel Neues zum Thema: Das Deutschlandgefühl. Die deutsche Frage. Warum die Einheit unser Land gefährdet. Bei Hempels auf dem Sofa. Auf der Suche nach dem deutschen Alltag und noch hundert Bücher mehr. Sollte ich alles mal lesen, überlege ich beim Öffnen meiner Mailbox. Da – schon wieder: Er konzipiere gerade einen Hochschulkurs über »German Mentalities« und suche Material dazu, schreibt mir ein Germanistikdozent aus den USA. Besonders über »the tendency to analyze all experiences, new ideas, the unexpected, in a way often misunderstood by our students as pessimism or negativity«. Alles Neue, das wisse man ja, werde von den Deutschen zuerst kritisch untersucht, zergliedert und mit Hergebrachtem verglichen, und erst dann sei es sozusagen diskussionswürdig. Das war mir zuvor noch gar nicht so aufgefallen, höchstens bei manchen Altakademikern mit politisch korrektem Bewusstsein und grundsätzlich hyperkritischem Blick ins 21. Jahrhundert hinein. Stimmt das eigentlich?

    Woher soll ausgerechnet ich das wissen? Ich lebe und arbeite in einer deutschen Großstadt, schicke meine Kinder in deutsche Schulen und Kindergärten, kaufe in deutschen Geschäften ein und habe eigentlich so viel zu tun, dass ich mich nicht auch noch groß von außen betrachten kann. Natürlich, die Dialektik von Fremdem und Eigenem hat mich mal beschäftigt, die heute in fast jeder Stellenanzeige geforderte »interkulturelle Kompetenz« ist mir nichts Neues, gereist bin ich viel und meistens auch aufmerksam, und die Fremdsprachen – na ja, in Manchester oder Bilbao oder Lille ginge es noch, in Krakau oder Malmö wäre es schon schwieriger, in Riad, Shanghai oder Kyoto wäre es unmöglich.

    »Mentalities«? Was soll ich dem Mann antworten? Was für Material soll ich ihm schicken? Deutsche Literatur von Adelung bis Zaimoglu? Erst mal abwarten, beschließe ich – und das war recht getan. Denn ein paar Tage später flattert unerwarteterweise ein Taschenbuch auf meinen Schreibtisch, und ehe ich es auf den Stapel noch zu lesender Bücher lege, werfe ich natürlich einen Blick auf den Titel. Was ist deutsch? heißt es, und schon fällt mir der amerikanische Dozent wieder ein. Das schicke ich ihm – da wird doch wohl alles drin stehen über die »German Mentalities«? Andererseits: Man weiß ja nie. Wenn das neue Buch nichts taugt, blamiere ich mich. Es hilft nichts: Ich muss es zuerst selber lesen, kritisch natürlich, gründlich-analytisch, mit Hergebrachtem vergleichend. Ob es überhaupt diskussionswürdig ist. Das ist doch normal? Oder ist genau das typisch deutsch?

    Zur Beruhigung sei gleich gesagt: Das Buch ist gut und jeder Diskussion wert, es ist anregend geschrieben und informiert, wie sein Untertitel »Wie die Deutschen wurden, was sie sind« zutreffend ankündigt, auf knappem Raum über historische Zusammenhänge, zu denen man ganze Bibliotheken schreiben könnte. Im Anhang auch darüber, dass zum Thema »Was ist deutsch?« bereits ganze Bibliotheken vollgeschrieben worden sind – und dass der Tübinger Volkskundler Hermann Bausinger mit Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen? ein exzellentes Buch zum Thema vorgelegt hat. Wie Bausinger bezieht sich auch unser Autor, der Berliner Anglist, Übersetzer und Sachbuchschreiber Hans-Dieter Gelfert, unter anderem Verfasser der Bücher Typisch amerikanisch und Typisch englisch, auf zahlreiche Vorgänger, vor allem auf Schriftsteller und Gelehrte aus aller Herren Länder. Aber er traut deren Urteilen nicht unbesehen. Die deutsche Gegenwart ist ja oft wenig deutsch. Sind auch die heutigen Deutschen ein Volk von Pflichtbewussten, Pünktlichen und Fleißigen? Oder die Faulsten der Welt, mit zahlreichen Feiertagen, wochenlangen Urlauben, kräftigen Gehaltszulagen für nichts und wieder nichts und üppigen Beamtenpensionen? Oder stimmt am Ende beides? Sympathisch ist, dass Gelfert gleich auf der ersten Seite verdeutlicht, dass alle Aussagen über die Mentalität eines Volkes »auf schwankendem Boden« stehen und allen Versuchen einer historischen Erklärung typischer Merkmale einer Nation »etwas Spekulatives« anhaftet. Trotz dieser grundlegenden Vorbehalte aber könne man durchaus zu zeigen versuchen, »dass Reste einer jahrhundertelangen Prägung auch heute noch das deutsche Denken und Fühlen beeinflussen«. Und genau das macht Gelfert dann auch – und er macht es gut.

    Erst einmal räumt er mit altmodischem Unsinn auf, den speziell Briten bis heute gerne von sich geben, der aber auch anderen europäischen Nachbarvölkern nicht fremd ist. Autoritätshörigkeit sei den heutigen Deutschen kaum noch nachzusagen, mit der Arbeitswut stehe es nicht zum Besten, Militarismus und Nationalismus spielten im Großen und Ganzen kaum eine Rolle, und Humorlosigkeit kennzeichne dieses Volk bestimmt nicht. Vielmehr hielten sich die Deutschen, denen das dem Gedächtnis der Welt unauslöschlich eingeprägte Bild vom bösen Hitler-Deutschland sehr wohl bewusst sei, heute für ganz normale Europäer, die in Frieden ihr Geld verdienen und es ausgeben wollen. Der deutsche Michel mit seiner Zipfelmütze habe zur Charakterisierung deutscher Mentalität ebenso ausgedient wie Doktor Faustus. »Das gesamte deutsche Alltagsleben ist geprägt von der nüchternen Beschränkung auf das Zweckmäßige und Lebensnotwendige sowie durch das weitgehende Fehlen von Konventionen und Ritualen.« Und allen gesellschaftlichen Missständen und politischen Fragwürdigkeiten zum Trotz müsse auch der letzte Skeptiker anerkennen: »Deutschland ist heute eine der freiesten, gerechtesten und modernsten Demokratien der Welt.« Das musste wohl einmal deutlich gesagt werden, und ich hoffe, der Autor irrt sich darin nicht. Dem müsste man genauer nachgehen, denke ich schon wieder. Aber dafür gibt’s ja Politikwissenschaftler.

    Jetzt aber kommt der interessanteste Teil des Buches, »Urworte, deutsch« überschrieben, und vor allem wegen dieser sechzig Seiten empfehle ich es dem amerikanischen Dozenten. Hier werden nämlich »Wertbegriffe, die für eine Nation typisch sind, ohne dass sich deren Angehörige dessen bewusst sind«, mit ständigen Seitenblicken auf Franzosen, Briten und Nordamerikaner aufgespießt, hinreichend erklärt und aus der spezifisch deutschen Geschichte hergeleitet. Wer nur das Pizza- und Döner-Deutschland mit viel unfreundlichem und – besonders im Vergleich zur Schweiz – oft unerhört unhöflichem Volk vor Augen hat, mag sich ein wenig wundern über die Auswahl dieser Begriffe. Doch Gelferts hervorragende, mit guten Beispielen plausibel gemachte Skizzen über Heimat, Gemütlichkeit, Geborgenheit, Feierabend, Verein, Ordnung, Pünktlichkeit, Sauberkeit, Sparsamkeit, Tüchtigkeit, Fleiß, Ernsthaftigkeit, Gründlichkeit, Pflicht, Treu und Redlichkeit, Schutz und Trutz, Innigkeit, Einfalt, Weltschmerz, Sehnsucht, Tiefe, Ursprung, Wesen, Ehrfurcht, Tragik, Totalität, das Absolute, Staat, Wald und Weihnacht führen ins Zentrum dessen, was zum Thema zu sagen ist. Man erfährt, warum der deutsche Arbeitnehmer nicht so mobil ist wie der amerikanische, woher »das irrationale Verlangen der Deutschen« kommt, »sich in ein bergendes Ganzes wie in den Schoß einer Großen Urmutter zu flüchten«, dass Friedrich Schillers »Heilge Ordnung, segenreiche« etwas ganz anderes meint als das den Deutschen oft nachgesagte strikte und pedantische, unflexible und Kompromissen kaum zugängliche Einhalten einmal festgelegter Regeln. Allerdings erlebe ich in meinem Alltag und meinem Arbeitsleben nicht allzu viele ordentliche Menschen. Meinem Ordnungsbegriff nach jedenfalls.

    Doch bei Gelfert steht ja auch: »Da heute die Ordnung auch für die Deutschen nichts Ersehntes mehr ist, sondern ein lästiger Zwang, breitet sich nun auch bei ihnen immer mehr Unordnung aus.« Viele heutige Deutsche hielten sich für ordentlicher, als sie eigentlich sind. Mit der deutschen Pünktlichkeit stehe es auch nicht zum Besten, wenngleich das effiziente Arbeiten immer noch einen Standortvorteil im globalen Wettbewerb darstelle. Ich sage nur: deutsche Autos! Aber nicht alle haben Arbeit. Welcher Deutsche kann Untätigkeit wirklich als Muße genießen? Unser Autor beobachtet eine bedenkliche »Aufspaltung in Leistungserbringer und Jammerer«, wozu zu sagen ist, dass die deutschen Leistungserbringer auch ständig jammern, über andere Dinge allerdings als die Nur-Jammerer. Schon mal einen nicht jammernden Deutschen gesehen? Na, das ist vielleicht ein bisschen übertrieben. Abwegig ist es nicht.

    Das Büchlein jedenfalls regt an zu solchen Spekulationen, was erst einmal nichts schadet. Aber Hans-Dieter Gelfert kann ziemlich präzise erklären, aus der deutschen Geistesgeschichte heraus und mithilfe der Soziologie, warum viele jüngere Deutsche heute eher »cool« sein wollen und angeblich deutsche Werte wie »Innigkeit« oder »Einfalt« fast verschwunden sind, trotz wunderschöner einschlägiger Gedichte von Angelus Silesius, Matthias Claudius oder Clemens Brentano.

    Überhaupt scheint nicht viel übrig geblieben zu sein von den angeblich so typisch deutschen Werten, die vor allem das romantisch-biedermeierliche 19. Jahrhundert propagiert hat. Was davon aber immer noch nachwirkt, führt uns der Autor sehr einleuchtend vor Augen. Beispiel Staat: »Heute stehen die Deutschen der staatlichen Autorität mit gleichem Misstrauen gegenüber wie ihre westlichen Nachbarn, erwarten aber«, und jetzt kommt’s, »erwarten aber immer noch mehr von ihr als diese und sind tiefer enttäuscht, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt werden.« So ist es wohl – und welcher Engländer, Italiener, Spanier oder gar US-Bürger wunderte sich nicht über die immer noch latente deutsche Sehnsucht nach dem allseits gerechten »Vater Staat«? Aber keine Bange – es gilt als ausgemacht, ja geradezu unvermeidlich, dass die nationaltypischen Traditionen mehr oder weniger schnell verblassen und in einer globalisierten Weltkultur aufgehen. Und dass Gelferts »Urworte, deutsch« rasch zu Begriffen mit nur noch antiquarischem Beigeschmack werden. Ohne Geborgenheit oder Innigkeit in die Zukunft? »Das könnte aber auch eine gegenläufige Entwicklung auslösen«, schreibt unser Autor. »Die Frage ist nur, ob man sich das wünschen sollte.«

    Der Rest des Buchs umkreist und variiert das Thema, recht knapp oft und doch nicht ganz ohne Überschneidungen. Von den deutschen Mythen und Helden über die deutschen Frauen, die sich heute »nüchterner und tatkräftiger« präsentierten als die Männer, streifen wir bis zum deutschen Kitsch, Humor oder Ungeist. Die Frauen übrigens kommen im ganzen Buch zu kurz. Aber, wie gesagt, überall Gescheites und Gelehrtes, einleuchtend verbunden mit dem, was wir heute hören und sehen, wenn wir in den Supermarkt um die Ecke gehen, fidelen deutschen Frührentnern mit ihren nicht selten asiatischen Zweit- oder Drittfrauen begegnen, deutsche Autowaschanlagen aufsuchen oder deutsche Fernsehsendungen verfolgen. Genau das hoffentlich, was mein amerikanischer Dozent braucht: Skizzen zur Mentalitätsgeschichte der Deutschen, mit tiefem Blick in die nationale Geschichte und weitem Blick in die heutige Welt. Hans-Dieter Gelfert schließt mit einem Ausblick – die Deutschen, vereinigt, nationalstolz und dennoch verzagt, in der Mitte Europas. Vernünftig sei es, die alte deutsche Sehnsucht nach dem großen Ganzen auf das sich einigende Europa zu lenken, meint er. Da hat er wahrscheinlich recht, denke ich, und so wird es auch kommen. Aber 2006 war Fußball-WM in Deutschland, und diese Italiener … Aber das sagen die Franzosen auch. Typisch deutsch ist das nicht.

    Der amerikanische Dozent ist dankbar für den Hinweis. »Mentalities« zu studieren ist an den entsprechenden Departments gerade schwer in Mode. Ich aber bin unzufrieden. Ist Gelferts Buch denn mehr als eine brillante Zusammenschau dessen, was man irgendwie doch schon wusste oder mindestens geahnt hat? Wird man der Frage »Was ist deutsch?« allein mit Soziologie und Kulturgeschichte gerecht? Gottseidank ist heute Donnerstag, mein Sporttag. Fände der Turnvater Jahn mein »Fitnesscenter« in Ordnung? Heißt deutsch sein auch, seine Runden um ihrer selbst willen zu drehen – um den Richard Wagner zugeschriebenen, immer noch recht bekannten Spruch abzuwandeln? Nach drei Stunden – ich sitze mit meinen Sportfreunden da, wo wir immer sitzen und den lebensbedrohlichen Flüssigkeitsverlust auszugleichen suchen – frage ich schüchtern: »Was ist deutsch? Eine Sache um ihrer selbst willen tun?« »Unsinn«, ruft mein Gegenüber, ein Historiker und Archivar übrigens. »Unsinn! Deutsch sein heißt, in einem sicherlich immer löchriger werdenden sozialen Netz herumzuschaukeln, beim TV-Zapping Big Macs oder Wurststullen zu verdrücken, dazu ein Getränk in sich reinzuschütten, das mit deutschem Bier nur noch den Namen gemein hat, und über die Politik, die Ausländer, die Ärzte, das Finanzamt, den allgemeinen Verfall von Moral und Anstand und natürlich über die Fußballnationalmannschaft zu schimpfen und zu jammern. Prost!« Das sei nichts Typisches, entgegnet der Dritte am Tisch, der technischer Redakteur ist und als klug und besonnen gilt. Das sei die Unterschicht, die zwar immer größer werde, ebenso wie die kulturelle und auch moralische Verwahrlosung der Mittelschichten – Deutschland jedoch sei das noch lange nicht. Die sozialen Unterschiede seien so gewaltig, dass man nur wenig Verbindendes finden werde, zu schweigen von den geografischen. Was habe ein Reeder aus alter Bremer Kaufmannsfamilie mit einem Allgäuer Bergbauern zu tun? Was der Saarländer mit dem Vorpommern? Jeder ist eine Insel. Na ja, fast jeder. Und überhaupt: DDR- und BRD-Mentalität! Also, das Land sei zerfranst und ausdifferenziert, außerdem voll in den Stürmen der Globalisierung.

    »Mentalities« möge es ja geben, die Frage nach dem Typischen allerdings sei altmodisch. Aber amerikanischen Germanisten, auf die Nazizeit fixiert und immer auf der Suche nach dem Dämonischen und Irrationalen im Deutschen, denen könne man ja alles erzählen. Alt-Heidelberg! Rothenburg! Rüdesheim! Was habe das denn mit »typisch deutsch« zu tun? »Nix. Zum Wohl!« Ich werde immer stiller. Schließlich ist noch ein Vierter am Tisch, ein höherer Beamter und ein durchaus politischer Kopf. Und was der sagt, umständlich und mit treffenden Beispielen aus dem praktischen Leben, das ja, wie jeder weiß, unweigerlich irgendwann in Verwaltungsakte mündet, das klingt in der Summe dann wieder sehr nach Gelfert. Na ja, wir bestellen uns dann noch eine Runde und wenden uns anderen Themen zu. Was jetzt eigentlich typisch deutsch sein könnte, das interessiert meine deutschen Sportler offenbar nicht so sehr. Als ich mal einige Zeit in Spanien arbeitete, erinnere ich mich auf dem Heimweg, da war das anders. Ständig wurde ich mit meinem Deutschsein konfrontiert. Mit meiner damaligen Ernsthaftigkeit – zu meinen, man fragt nach dem Weg und bekommt eine zutreffende Auskunft oder wenigstens ein »Das weiß ich leider nicht«. Mit meiner Pünktlichkeit – ich war um 21 Uhr eingeladen, kam drei Minuten danach und hatte wirklich Hunger. Das war typisch deutsch! Na ja, naiv vielleicht auch. Mit meiner viel zu geringen Flexibilität – Sturkopf, »cabeza cuadrada« nannte man mich mehr als einmal. Oder gleich, wahrscheinlich meiner manchmal etwas forcierten Zielstrebigkeit wegen, »Panzer«! Lange her. Ob das alles einem nicht-deutschen Europäer heute überhaupt noch auffallen würde? Ist das nicht auch typisch europäisch? Bin ich eigentlich heute noch der Deutsche, der ich damals schon nicht so recht sein wollte? Oder ist genau diese Frage jetzt wieder typisch deutsch? Man sollte der Sache endlich auf den Grund gehen! Nietzsche lesen vielleicht?

    Hans-Dieter Gelfert: Was ist deutsch? Wie die Deutschen wurden, was sie sind. München 2005: C. H. Beck Verlag. 211 S.

    Aus der Zeit gefallen? Deutsche Schriftsteller jenseits der siebzig

    Viele Autoren, die ihre Glanzzeit vor 1990 hatten und inzwischen in die Jahre gekommen sind, schreiben und publizieren immer noch. Manche mischen sich auch weiterhin in aktuelle Debatten ein. Lob und Anerkennung ernten sie dafür selten. Gelangweiltes Achselzucken, schroffe Ablehnung und ätzender Spott sind nicht unüblich. Wer hört auf Schriftsteller jenseits der siebzig? Sind sie nicht nur noch wunderliche Zeitzeugen oder gar leise bröckelnde Monumente ihrer selbst? Sind sie nicht »von gestern«? Passen sie noch ins 21. Jahrhundert?

    Nobelpreis hin, Weltruhm her: Als Günter Grass (*1927) in seinem Band Eintagsfliegen (2012) eine ganze Reihe von hochartifiziellen, wunderbar melancholisch-lakonischen Gedichten über das Alter und das Altern veröffentlicht hatte, wurde er nur selten als großer, vielleicht sogar altersweiser Lyriker gewürdigt. Nein, die Sensation bestand darin, dass man aus einem seiner Poeme harsche Kritik an der israelischen Regierung herauslesen kann. Darf das sein? Der Tenor der aufgeregten Debatte, in der sein beachtlicher Gedichtband fast keine Rolle spielte, war deutlich: Grass nervt!

    Martin Walser (*1927) legte 2011/2012 gleich zwei sprachlich brillante Altersromane vor, Muttersohn und Das dreizehnte Kapitel. Er wurde dafür durchaus gelobt. Aber meistens ging es dann doch nicht um Walsers ungeheure Wortkunst, sondern um die Frage, ob der Alte vom Bodensee nun endgültig in katholisch-mystische Verstiegenheiten abgedriftet ist. Wenn ja – wer mag »so was« dann überhaupt noch lesen? Ist dieser Walser nicht schon seit Jahrzehnten politisch verdächtig? Und überhaupt: Geistig anspruchsvolle und sprachlich komplexe Bücher lesen? Muss das sein? Große Dichter? Ach was!

    Nun gut, Grass und Walser mögen die Öffentlichkeit polarisierende Ausnahmen sein. Die meisten Nachrufe auf die 2011 gestorbene Christa Wolf (*1929) waren durchaus respektvoll, und man wird kaum Abfälliges über Siegfried Lenz (*1926), Ernst Augustin (*1927), Günter de Bruyn (*1928), Günter Herburger (*1932) oder Gabriele Wohmann (*1932) hören. Eher nimmt man einen bald bedauernd, bald mitleidlos gesetzten Unterton wahr: Eure Zeit ist um! Euch muss man nicht mehr lesen! Das gilt oft sogar für Schriftsteller, die erheblich jünger sind als die Genannten. Die neuesten Bücher von Volker Braun, Friedrich Christian Delius oder Gerhard Köpf zum Beispiel sind allerbeste Literatur – aber auch leicht verderbliche Ware. Meist verschwinden sie in einem von Jahr zu Jahr rasanter werdenden Literaturbetrieb, der manchmal schon zur Leipziger Buchmessezeit nicht mehr weiß, was im Oktober in Frankfurt los war. Lebenskluge Kunstprosa? Erfahrungsgesättigte Sprachverdichtung? Brauchen wir das? Haben wir nicht ganz andere Sorgen? Na gut, womöglich schreiben die Alten sogar besser als vor drei Jahrzehnten. Aber muss man deshalb ihre Bücher lesen?

    Schon James Joyce kämpfte im frühen 20. Jahrhundert gegen profitsüchtige Verleger, überhebliche Kritiker und ein snobistisches Literaturestablishment, die seine Kunst nicht zu würdigen wussten. Er wurde zu einer Marke. Grass und Walser sind das inzwischen auch – nationale Symbole, die es wie Philip Roth machen könnten und nichts Neues mehr schreiben müssten. Aber selbst wenn es bei Symbolfiguren nicht mehr zuallererst um die Qualität ihrer jeweils jüngsten Werke geht – eingerostet, erstarrt oder erschlafft sind sie noch lange nicht. Doch die meisten Literaturkritiker, Kultursnobs und Glamourpseudos in Deutschland erwecken den Eindruck, als spielten diese immer einsamer werdenden Alten nur noch mit ihren reichlich abgegriffenen Karten von gestern. Was nachweislich nicht stimmt. Unerbittliche politische Kritik am Zustand der Welt, wie Günter Grass sie übt, hat diese nach wie vor nötig, ganz unabhängig davon, ob man ihr zustimmt oder nicht. Die oft ironisch vorgetragene, immer aber fundierte Gesellschafts- und Kulturkritik Martin Walsers ist dringend erwünscht, selbst wenn man vielleicht manchen Akzent anders setzen würde. Und dann ist da ja noch das, was man Lebenswerk nennen kann. Sicher: Es zu begreifen und für heute produktiv zu machen, kostet Zeit und oft auch Mühe. Sei’s drum! Ein bisschen mehr Hochachtung vor künstlerischen Höchstleistungen, anderswo eine Selbstverständlichkeit, würde unserer Gesellschaft wahrscheinlich gut tun. Gibt es denn so viele lebenserfahrene, hochreflektierte und gegenwartskritische Sprachkünstler im Lande? Es ist in Deutschland Mode geworden, pausenlos Respekt für die eigene Person oder die eigene Gruppe einzufordern. Nicht unbedingt Mode ist es, Respekt vor anderen zu haben: vor weltweit anerkannten Schriftstellern zum Beispiel. Und seien sie noch so alt.

    Günter Grass: Eintagsfliegen. Gelegentliche Gedichte. Göttingen 2012: Steidl Verlag. 107 S.

    Martin Walser: Muttersohn. Roman. Reinbek 2011: Rowohlt Verlag. 505 S.

    Martin Walser: Das dreizehnte Kapitel. Roman. Reinbek 2012: Rowohlt Verlag. 271 S.

    Schneit es bald in meinem Kopf? Vom Altern in der Literatur

    Auffällig viele literarische Neuerscheinungen des Herbstes 2006 beschäftigen sich mit dem Altern. »Vorherrschend« sei dieses Thema sogar, meint Volker Hage, der das Phänomen in einem Spiegel-Artikel mit der Überschrift »Club Methusalem« aufgreift. Mit Recht lobt er Silvia Bovenschens über manches Alterszipperlein angenehm hinwegtröstendes Buch Älter werden, ein schönes »Erzählmosaik aus kleinen Erinnerungen, Beobachtungen und Geschichten«, das nichts beweisen will und eben deswegen überzeugt. Nicht nur ästhetisch, sondern auch wegen seiner Ehrlichkeit gegenüber dem Prozess des Alterns, präziser: wegen seiner genauester Beobachtung und Empfindung entsprungenen, immer klug und angemessen formulierten, bisweilen auch ins Selbstironische spielenden Lakonie. Weitgehend überzeugend ist auch der neue Roman von Martin Walser, einer seiner besseren aus den letzten zwanzig Jahren: Angstblüte – was die letzte sich aufbäumende Blüte einer Pflanze meint, bevor sie endgültig zugrunde geht. Der vitale Veteran vom Bodensee, sprachlich brillant wie meistens, erfindet einen einprägsamen Romanhelden, den einundsiebzigjährigen Anlageberater Karl von Kahn, der auch im Alter seinem Wahlspruch »Bergauf beschleunigen!« treu bleiben will. Walser erzählt, reif und kunstvoll und süffig und gelegentlich auch etwas umständlich, von Kahns eifrig-verzweifelten und naturgemäß vergeblichen Bemühungen, das Altern aufzuhalten. In erster Linie geht es dabei um eine recht gnadenlose Abrechnung mit den Torheiten der Liebe, auch und gerade der körperlichen. Joni Jetter ist nicht einmal halb so alt wie Kahn, der dieser »Traumfrucht« wegen zu jedem Ehebruch bereit ist. Joni bringt den hoffnungslos Verliebten zur Raserei, einer komischen und peinlichen Altersraserei natürlich

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