Jenseits der Nischen: Die Geschichte von Rainer und Cleo
Von Peter Albach
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Über dieses E-Book
Gemeinsam mit Rainer Buchwald und Clemens Lindenau begibt er sich auf eine Reise in die Vergangenheit. Entstanden ist ein Buch, das zwei Leben im Sozialismus zwischen Jugendwerkhof und Arbeitslager schildert, mit sehr persönlichen Einblicken in einen Alltag in der DDR, der weitestgehend im Verborgenen blieb, obwohl Tausende von der unmenschlichen Härte des Sozialismus betroffen waren.
Peter Albach
Peter Albach Jahrgang 56, studierte Jura und war bis zu seiner Wahl 1990 zum Bürgermeister der Stadt Weißensee in Thüringen als Justiziar tätig. Das Wahlamt hatte er mehr als 25 Jahre inne. Ab 2009 wand er sich verstärkt der Malerei und Grafik zu. 2019 wurde er auf das geheimnisvolle Voynich-Manuskript aufmerksam.
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Buchvorschau
Jenseits der Nischen - Peter Albach
Während im Sozialismus die Verteilung der materiellen Güter nach Umfang und Qualität der geleisteten Arbeit erfolgt, wird es beim Übergang zum Kommunismus möglich werden, ein Verteilungsprinzip zu verwirklichen, das es in der bisherigen Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat.
Was die Menschen zu einem kulturvollen, schöpferischen, gesunden und glücklichen Leben benötigen, werden sie von der Gesellschaft unentgeltlich erhalten.
Sie werden gern arbeiten, werden an einer nützlichen, in höchstem Maße produktiven Arbeit interessiert sein, sie werden ihre Fähigkeiten uneingeschränkt in den Dienst der kommunistischen Gesellschaft stellen.
Weltall, Erde Mensch, Verlag Neues Leben, Berlin 1954, Seite 497
Gegen das Vergessen
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Mehr als 30 Jahre später
Zeitreise
Der Start ins Leben
Die gestohlene Jugend
Rüdersdorf
Ein Tag in der Anstalt
Vom kurzen Glück in Freiheit
Oben und unten
Besserungsunwillig
Als die Mauer fiel
Arbeitslager-Notizen von Clemens Lindenau
Lagerjungs
Flucht
Braune Hölle
Verhör
Nur noch weg
Was aus uns geworden ist
Epilog
Das geschriebene Unrecht der DDR
Prolog
Ein abgehärmter, kahlgeschorener Mensch, in filziges Dunkelblau gekleidet, sitzt mir gegenüber, blass und verletzt, mitten auf der Stirn eine frische Narbe, es ist mein Bruder. Nur mühsam gelingt ein Gespräch.
Ich erinnere mich nur ungern an jenen regengrauen Tag im Frühjahr 1974, als wir, meine Mutter und ich, mit barschen, harten Worten von Männern in schwarzblauen Uniformen empfangen wurden, die Kalaschnikow vor der Brust. Meine Mutter hatte die Erlaubnis bekommen, meinen Bruder in der Haftanstalt, in der Braunkohle bei Leipzig gelegen, zu besuchen, und ich war mitangemeldet.
Was ich sah, war Stacheldraht, zweifach war das Lager umzäunt und in der Mitte zwischen dem Stacheldraht, als ob das nicht schon genügt hätte, wohin wollte man denn in einem komplett eingezäunten Land entfliehen, Bretterzäune für dazwischen frei laufende Hunde, so scharf, wie ich später erfahren sollte, dass sich niemand an diese herantraute und das Fleisch zum Fraß über den Bretterzaun den Hunden zugeworfen wurde.
Ich hatte gerade Kafka gelesen und Bruno Apitz in Erinnerung.
Nach Kontrolle der Ausweise und der Besuchserlaubnis wurden wir in einen Raum geführt, wo weitere Besucher bereits Platz genommen hatten. Die dort waren, vermieden jeglichen Blickkontakt, schwiegen und waren still.
Bis auf eine Frau, die den Kopf in den Händen vergraben hatte und auf den Boden blickte. Immer wieder wiederholte sie dieselben Worte: „Die Hunde, diese schrecklichen Hunde, haben Sie auch die Hunde gesehen? Das sind Bestien. Mein Sohn hat doch nichts getan, diese Hunde, diese schrecklichen Hunde."
Wir wurden dann von Bewaffneten abgeholt und über das Gelände geführt.
Auf dem Weg zum Besucherraum sah ich eine Gefangenenkolonne im Karree heranmarschieren, in filziges Dunkelblau gekleidet mit gelben Flicken zur Kennzeichnung versehen, bewacht wieder von Männern mit Kalaschnikow im Anschlag und Hunden an der Leine.
Ich rief: „Das sieht ja aus wie ein KZ."
„Noch ein Wort und du bleibst hier", brüllte mich einer der Bewaffnete an.
Ich verstummte augenblicklich, sagte kein Wort mehr. Ich war 17 und hatte gelernt, in der besten und menschlichsten aller vorstellbaren Welten, im Sozialismus der DDR zu leben, die strahlende Krone des Humanismus, ein Hort der Menschlichkeit.
Was ich dort in der Braunkohle sah, konnte es deshalb nicht geben. Es widersprach jeder Theorie, allem, was mir gelehrt worden war, und spottete allen humanistischen Beteuerungen.
Mehr als 30 Jahre später
An einem Donnerstagnachmittag in Berlin. Ich bin direkt gewählter Bundestagsabgeordneter, wollte zunächst Malerei und Grafik studieren, wurde aber Jurist.
Dass ich mit meinem familiären Hintergrund in der DDR Jura studieren durfte, nie ernsthaft für die SED oder Stasi angeworben wurde, gehört zu den Mysterien des real existierenden Sozialismus.
Noch nicht einmal eine Akte gibt es über mich. Und ich hätte darauf gewettet, dass eine Stasiakte existiert. Alle Überprüfungen, ob als Stadtverordneter, Bürgermeister oder Abgeordneter, blieben jedoch ergebnislos.
Im Plenum wurde soeben heftig über den Mindestlohn gestritten. Jetzt sitze ich am Schreibtisch, trinke Kaffee und sehe den Ordner „Arbeitslager" durch. Um an nähere Informationen zu kommen, hatte ich etliche Bürgermeister angeschrieben.
„Hat schon jemand auf meinen Brief geantwortet?", frage ich meine Mitarbeiter.
„Ja, die meisten."
„Klasse."
Ich nenne hier nicht jeden Bürgermeister beim Namen. Jedoch danke ich allen, die selber nachgeforscht haben oder Nachforschungen veranlassten.
Da waren nicht nur Bürgermeister, sondern auch Stadtkämmerer und Stadtarchivare. Sie haben mir sehr weitergeholfen. Aus den Antworten kann ich sehen, wie dürftig die Aktenlage zu diesem Thema ist. Die Bürgermeister haben ihre Stadtarchivare beauftragt, in den Unterlagen zu recherchieren. Vielerorts wurden keine Hinweise auf entsprechende Arbeitslager gefunden.
An einigen Orten erinnern sich die Menschen noch an die Busse, die die Häftlinge zur Schicht fuhren und nach Feierabend wieder abholten.
Ich habe viele Einladungen erhalten, bei den zuständigen Ministerien nachzufragen und Akteneinsicht zu beantragen. Das würde allerdings voraussetzen, dass ich in den nächsten Monaten meine Arbeit als Bundestagsabgeordneter niederlege, um in die Archive zu gehen und Akten zu wälzen. Das kann ich nicht machen.
Es würde auch viel zu lange dauern und dem, was ich will, nicht gerecht werden. Einige haben mir geschrieben, es sei ihnen bislang nicht möglich gewesen, das Thema Arbeitserziehung gründlich zu bearbeiten. Ob ich das nicht machen könnte?
Optimal wäre, es ließen sich Historiker finden.
Ich möchte, dass dieses schreckliche Segment der deutschen Geschichte nicht vergessen bleibt, es dahin zurückholen, wo es hingehört, in das öffentliche Bewusstsein. Gerade auch, weil ich mir bewusst bin, dass die große Mehrheit der DDR-Bürger von Arbeitslagern nichts wusste und wissen konnte.
Ich will jetzt nicht langweilen, indem ich alle Antworten aufzähle. Nur ein paar will ich extra erwähnen. Gespannt bin ich, wie die Antwort aus Regis-Breitingen ausgefallen ist. In den Archiven hat der Bürgermeister nichts gefunden, aber er berichtet von seinen eigenen Erinnerungen an das Arbeitslager. Das ist gleich viel interessanter. Die Arbeitserziehungskommandos waren in zwei Barackenkomplexe geteilt. Die Häftlinge arbeiteten vor allem im Tagebau. Ein paar Gruppen rückten morgens zur Arbeit in die Stadt aus, um Gruben zu schaufeln und Gräben auszuheben. In der Strafanstalt Regis-Breitingen gab es Sportanlagen. Bürgermeister Thomas Kratzsch erinnert sich an eine Judo-Jugendgruppe, die in der Sporthalle trainierte.
Ich hatte gehofft, dass ich einen Zeitzeugen aus Regis-Breitingen finde, der mir seine Geschichte erzählt. Der Bürgermeister kann mir nicht weiterhelfen. Er habe einige angesprochen, doch leider müsse er mir mitteilen, dass kein Interesse besteht. Dann ist es ebenso.
Ich blättere im Ordner weiter. Eine Absage aus der Stadt Lübbenau im Spreewald. Eine Absage aus Oberhof.
Mein Vorhaben sei mit Interesse aufgenommen worden. Recherchen und Nachfragen bei „Ur-Einwohnern", Heimatforschern und Hobby-Chronisten hätten allerdings ergeben, dass niemand etwas über ein Arbeitslager wisse. Es sei lediglich bekannt, dass am Bau der Großschanze Strafgefangene eingesetzt wurden.
Endlich wieder eine positive Nachricht. Sie kommt aus Rossleben. Auf dem Gelände des Kaliwerkes Roßleben, Schacht II in Wendelstein, hat es in den fünfziger Jahren ein Haftarbeitslager gegeben, das bis Mitte der sechziger Jahre bestand. Es war dem Strafvollzug der Bezirksbehörde der Deutschen Polizei in Halle zugeordnet. Auf dem umzäunten und bewachten Gelände wohnten und arbeiteten nur männliche Strafgefangene, die aus politischen Gründen und wegen krimineller Vergehen Strafen verbüßen mussten. Circa 250 Häftlinge im Lager Roßleben arbeiteten in der Grube. Während sie sich plagten, stand immer ein Wachmann dabei mit einem bissigen Hund.
Arbeiter aus dem Strafvollzug erhielt auch der VEB Eisenhüttenkombinat. Das Arbeitslager wurde Mitte der sechziger Jahre aufgelöst. Die Häftlinge arbeiteten im Gleisbau, wurden für Verlade- und Betonarbeiten eingesetzt, formten Steine und reinigten Rohre.
Heute heißt die Firma ArcelorMittal Eisenhüttenstadt GmbH. Wir fragen in der Presseabteilung des Unternehmens nach.