Nur raus hier!: 18 Geschichten von der Flucht aus der DDR. 18 Geschichten gegen das Vergessen.
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18 Geschichten gegen das Vergessen.
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Buchvorschau
Nur raus hier! - Jochen Brenner
NUR RAUS HIER !
18 Geschichten von der Flucht aus der DDR. 18 Geschichten gegen das Vergessen.
Herausgegeben und fotografiert von Andree Kaiser.
Geschrieben von Florian Bickmeyer, Jochen Brenner & Stefan Kruecken.
Originalausgabe, 2014
Alle Rechte vorbehalten.
© 2014 by Ankerherz Verlag GmbH, Hollenstedt
Texte: Jochen Brenner, Hamburg; Stefan Kruecken, Hollenstedt;
Florian Bickmeyer, Bochum; David Schraven, Bottrop // beide CORRECT!V –
Recherchen für die Gesellschaft – www.correctiv.org
Fotos: Andree Kaiser, Freiburg
Illustrationen, Info-Grafiken: Drushba Pankow, Berlin
Einband-, Buchgestaltung und Satz: Ana Lessing, Berlin
Lektorat: Stefan Kruecken, Hollenstedt; Philip Laubach-Kiani, Dohren
Korrektorat: Wolfgang Sand, Landsberg
Herstellung: Peter Löffelholz, Berlin
eBook: Max Dombrowski, Berlin
Ankerherz Verlag GmbH, Hollenstedt
info@ankerherz.de
www.ankerherz.de
ISBN 978-3-940138-77-4
Coverfoto: Der 18-jährige Andree Kaiser auf dem erkennungsdienstlichen Foto der Stasi, aufgenommen in Hohenschönhausen kurz nach seiner Festnahme. Die Schnürsenkel wurden den Untersuchungshäftlingen entfernt, damit sie sich nicht an ihnen erhängen konnten.
NUR RAUS HIER !
18 Geschichten von der Flucht aus der DDR.
18 Geschichten gegen das Vergessen.
Herausgegeben und
fotografiert von
Andree Kaiser
Geschrieben von
Florian Bickmeyer,
Jochen Brenner &
Stefan Kruecken
Datenseite_PSO-Uncoated.psd00K110928D046CARO.psdBerlin * VON DER STASI GENUTZT AB 1951
geschlossen 1990 / Berlin
2014 FOTOGRAFIERTE ANDREE KAISER DAS EHEMALIGE STASI-GEFÄNGNIS HOHENSCHÖNHAUSEN
ZELLE 108
score_black.jpgNach seinem Fluchtversuch war Andree Kaiser in der zentralen Untersuchungshaftanstalt der Staatssicherheit inhaftiert. Mit dieser Foto-Reportage kehrt er an den Ort seiner Gefangenschaft zurück. Für ihn ist es eine Reise in die dunkelsten Stunden seiner Jugend.
Hohenschönhausen: Knapp 40 Jahre lang war es das wichtigste Untersuchungsgefängnis des Ministeriums für Staatssicherheit. Obwohl mitten in Ost-Berlin gelegen, suchte man den Gebäudekomplex auf Stadtplänen vergeblich. Hinter seinen Mauern wurden unter dem DDR-Regime mehr als 10.000 Häftlinge vor ihren Prozessen isoliert, vernommen und gepeinigt. Oft jahrelang. Die Stasi folterte mit Schlafentzug, Fesselungen und Schlägen, um ihre Häftlinge zu brechen, und setzte Spitzel in ihre Zellen. Viele der Republikflüchtlinge, die in diesem Buch ihre Geschichten erzählen, saßen in Hohenschönhausen in Untersuchungshaft.
Heute führen ehemalige Häftlinge Besucher über das Gelände, auf dem sich seit 1994 die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen befindet, und berichten von den Haftbedingungen und Verhörmethoden der Stasi.
Hinter Andree Kaisers Aufnahmen, entstanden im Sommer 2014, öffnen sich die Abgründe eines Unrechtsstaats.
00K110928D018CARO.psdZellentrakt: Von hier aus ging es zu den Verhören und zum Freigang – 30 Minuten am Tag.
Auf dem Weg durch den Trakt bekamen die Gefangenen nie einen Mithäftling zu Gesicht.
score_black.jpg00K110928D038CARO.psd00K110928D037CARO.psdZelle 108: Eine der Zellen Andree Kaisers während seiner dreijährigen Haft. Durch die Klappe wurde das Essen geschoben, mit den diversen Lichtschaltern knipsten die Wärter in der Nacht alle 20 Minuten die Zellenbeleuchtung an.
score_black.jpg00K110928D014CARO.psd00K110928D041CARO.psd00K110928D015CARO.psdGang zu den Vernehmungsräumen: In den Zimmern, in denen die Verhöre liefen, mochten es die Stasi-Offiziere vergleichsweise gemütlich. Gardinen und Tapeten statt nackter Kacheln und Glasbausteinen. Das Bild des Staatsratsvorsitzenden durfte nicht fehlen.
score_black.jpg00K110928D006CARO.psdIm Haftkrankenhaus: Inhaftiert wurden hier unter anderem angeschossene Flüchtlinge, schwer erkrankte Häftlinge oder Gefangene im Hungerstreik. In den regulären Zellen gab es keine Rückzugsmöglichkeiten. Selbst die Toiletten waren von allen Seiten einsehbar.
score_black.jpg00K110928D007CARO.psd00K110928D002CARO.psd00K110928D001CARO.psd00K110928D032CARO.psd00K110928D027CARO.psd00K110928D031CARO.psdDas »U-Boot«: So nannten Häftlinge das Kellergefängnis, das unter der sowjetischen Besatzung nach dem Zweiten Weltkrieg erbaut worden war. In den Isolierzellen gab es nichts als eine Holzpritsche und einen Kübel. Die Glühbirnen blieben Tag und Nacht eingeschaltet.
00K110928D044CARO.psdEiner der drei Wachtürme der Haftanstalt: Der Gebäude-komplex befand sich in einem militärischen Sperrbezirk, der von der Außenwelt hermetisch abgeschlossen war.
score_black.jpgSEHNSUCHT
score_blue.jpgandreekaiser.psd1982 Fluchtversuch über die
tschechisch-österreichische Grenze
ANDREE KAISER
NUR RAUS HIER!
Sie frisieren Mopeds, sie lungern herum, sie lehnen sich auf gegen einen Staat, der ihnen wenig Freiraum lässt. Aus Wut wird für Andree Kaiser nach einer Familientragödie reine Verzweiflung. Als sein Fluchtversuch scheitert, lernt er die Willkür in den Gefängnissen der Stasi kennen. Und auch den »Roten Terror«.
score_blue.jpgAm Tag, als meine Großmutter starb, wusste ich, dass ich so nicht mehr weiterleben wollte. Meine Trauer, meine Verzweiflung, meine Wut formten einen Gedanken, der sich in meinem Kopf festsetzte: Ich wollte raus aus der DDR, diesem dreckigen Staat, weg von dieser Ungerechtigkeit, die ich nicht mehr länger ertragen konnte. Ich war 16. Mein Entschluss stand fest: Ich wollte die Flucht versuchen.
Oma war nach West-Berlin gefahren, um meinen Großonkel zu besuchen. Während der kurzen Visite hatte sie einen schweren Herzinfarkt erlitten, es sah nicht gut aus, und die Ärzte im Charlottenburger Krankenhaus alarmierten meinen Vater. Sie schrieben ein Gutachten für die DDR-Behörden, in dem sie den Zustand erklärten und im Sinne der Angehörigen darum baten, einen letzten Besuch zu genehmigen. Mit diesem Schreiben beantragte mein Vater, seine Mutter besuchen zu dürfen. Die Behörden lehnten ab. Ohne Begründung. Wenige Stunden später starb meine Großmutter. Wir hatten uns nicht von ihr verabschieden können.
Ich dachte: Wie kann ein Staat seinen Bürgern so etwas antun? Ich dachte: Wie kann man das hier aushalten?
Ich hatte ein enges Verhältnis zu meinen Großeltern. Großvater Siegfried, ein Sozialist, war während des Dritten Reichs im Widerstand aktiv gewesen; er leitete in der DDR ein Heim für Kriegswaisen. Ich erinnere mich an seine sanfte, aber zupackende Art. Opa war Ende der 1960er-Jahre aus der SED ausgetreten, weil er sich mit dem System, das er vorfand, nicht gemein machen wollte. Mit allen Konsequenzen, die das für ihn bedeutete. Man trat nicht einfach aus der Partei aus, denn das galt als klare Botschaft, die jeder verstand. Sie lautete: »Nicht mit mir.« Opa hatte an die DDR geglaubt und war tief enttäuscht, wie sich das Land entwickelte. Durch ihn kam ich zur Fotografie. Er brachte mir die Technik bei und auch das Handwerk in der Dunkelkammer. Ich habe schöne Erinnerungen daran, wie ich mit ihm Bilder entwickelte. Opa schenkte mir meine erste Kamera, eine Contax E. Ein Jahr vor Oma war er gestorben.
Zu dieser Zeit verbrachten mein Bruder Dirk und ich die Freizeit mit einer Moped-Clique in unserem Viertel, Ho-Chi-Minh-Straße, Lichtenberg, eine Plattenbau-Siedlung. Wir frisierten die Zweitakter unserer Mopeds, schraubten andere Lenker dran, wir drehten die mitgebrachten Kassettenrekorder auf: »Ramones«, »The Clash« und »Ideal«. Musik war uns wichtig, Alkohol und Zigaretten. Natürlich gab das Ärger. Es dauerte nie lange, bis ein Wagen der Volkspolizei auftauchte. Die Beamten nahmen uns die Führerscheine weg und schikanierten uns, wo sie konnten, aber dafür mussten sie uns zuerst einholen. Wir rasten davon, wenn die erste »Bullenwanne« in Sicht kam. In der Nähe unseres Treffpunkts befand sich eine Laubenkolonie, und es galt als Mutprobe, durch die schmalen Fußwege zu entkommen. Einer von uns, er hieß Thorsten Albrecht, knallte dabei gegen einen Laternenmast. Er starb im Krankenhaus. Zu seinem Gedenken hielten wir Mahnwachen, doch auch diese wurden von der Staatsmacht verboten.
Meine Großcousine Wiebke, eine rothaarige Hamburgerin, kam zu Besuch und brachte mir einen Parka mit, mit einer Deutschland-Fahne auf dem rechten Ärmel. Ich trug ihn gerne, auch in der Schule. Als ich nach Hause ging, erwarteten mich zwei Beamte in Zivil. Sie sagten kein Wort, zückten eine Schere. Einer hielt mich fest, der andere schnitt die Flagge aus meinem Ärmel. In meinem Parka klaffte ein großes Loch. Dann fuhren die Männer davon. Ich war so fassungslos, dass ich mitten auf der Straße weinte.
Ich ging ungern zur Schule. Ich konnte mich schwer anpassen und meine Noten waren schlecht. Meinen Wunsch, eine Ausbildung zum Fotografen beginnen zu können, lehnten die Behörden wegen meiner schlechten Leistungen ab. »Keine Chance«, sagte ein Lehrer. Ich sollte Maurer werden, doch das wollte ich nicht. In den wenigen Monaten, die ich auf dem Bau zubrachte, schleppte ich Steine, mischte Beton an und wurde mit plumpen Befehlen durch die Gegend gescheucht. Meine Eltern, beide Tierärzte, konnten mich wenig unterstützen. Meine Mutter war eine typische DDR-Frau, die im Berufsleben stand und dazu noch die Kinder und den Haushalt versorgte. Eine bemerkenswerte Leistung, vor allem, wenn man bedenkt, dass sie von meinem Vater keinerlei Hilfe erwarten konnte. Mein Vater war ein stiller, in sich gekehrter Mann. Man hatte ihn in den Schlachthof von Friedrichshain versetzt. Er funktionierte, schleppte sich trotz seiner Alkohol- und Tablettenabhängigkeit zur Arbeit, die für einen Menschen, der Tiere liebt, eine tägliche Pein gewesen sein muss. Er lebte wie in einer eigenen Welt, zu der wir keinen Zugang hatten.
Mein bester Freund Thomas Popiesch spielte Eishockey. Er galt als einer der talentiertesten Nachwuchs-Stürmer, war in der Junioren-Nationalmannschaft, stand vor einer großen Karriere. Doch einige seiner Verwandten lebten im Westen und diese »West-Kontakte« genügten, um seine Laufbahn auszubremsen. Er durfte nur in kommunistischen Bruderländern spielen. Als wir an einem Samstagabend im »Lichtenberger Krug« Bier tranken, sagte ich zu ihm:
»Das macht doch alles keinen Sinn mehr.«
Er sah mich an. »Okay, wir hauen ab.«
Doch wie und wo? Die Geschichten der Maueropfer in Berlin kannten wir. Wie stark der Todesstreifen nach Westdeutschland gesichert war, wussten wir. »Über die ČSSR nach Österreich«, meinte Thomas. Klang einleuchtend, auch wenn wir dafür gleich zwei Grenzen überqueren mussten. Ich hatte meinen Ausweis verloren.
Ich fälschte die Unterschrift meiner Eltern und hob in der Bank 400 Ost-Mark ab, von denen wir Fahrkarten nach Bad Schandau kauften, dem letzten Bahnhof vor der Grenze zur ČSSR. Wir stiegen in den Zug und reisten über Dresden an unser Zwischenziel, von wo wir den Bus nach Schmilka nahmen. Wir warteten auf die Dämmerung und marschierten los. Hinter dem Ort wanderten wir durch Hügel und liefen die Elbe entlang. In der Dunkelheit stolperten wir Kinder der Stadt durch den Wald. Jedes Knacken, jeder Schrei eines Tieres ließ uns vor Schreck zusammenfahren und ausharren. Wir hatten Angst, keine Frage. Als der neue Morgen dämmerte, erreichten wir einen großen Felsen. Es ging nicht weiter. Wir wollten schon umdrehen, als wir erkannten, dass direkt dahinter ein Haus stand; ein Hotel, das sich schon auf dem Gebiet der ČSSR befand. Wir kletterten auf den Fels, sprangen hinüber aufs Dach, wo es uns gelang, eine Luke zu öffnen. Das Hotel schlief noch in den frühen Morgenstunden, nichts zu hören, als wir in den Flur traten und die Treppen hinunterliefen. Der Portier sah uns schlaftrunken an. Wir stolperten hinaus auf die Straße. Die erste Grenze hatten wir geschafft: Wir waren in der Tschechoslowakei.
Im nächsten Ort warteten wir auf den Bus und fuhren von dort in eine nahe gelegene Kleinstadt, wo wir den Zug nach Prag nahmen. Unser Fluchtplan basierte auf einem Erdkunde-Atlas für die achte Schulklasse. Eine Ansicht von Mitteleuropa; darauf konnte man erkennen, dass Bratislava nahe an der Grenze zu Österreich liegt. Bratislava also. Dort angekommen, bezogen wir ein kleines, schäbiges Hotel und bezahlten das Zimmer im Voraus mit D-Mark. Der Kerl an der Rezeption steckte den 50-Mark-Schein ein, verzichtete darauf, unsere Ausweise zu kontrollieren, und stellte keine Fragen. In einem Geschäft für Eisenwaren kauften wir eine Drahtschere, Taschenlampen und Schlafsäcke. So ausgerüstet, fuhren wir mit einem Bus Richtung Grenze. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit brachen wir auf.
Es war Sonntag, der 31. Oktober 1982.
Die Grenzzäune, die wir aus dem Dickicht des dichten Waldes beobachteten, waren noch stärker gesichert, als wir befürchtet hatten. Ein Zaun, ungefähr zweieinhalb Meter hoch, oben mit Stacheldraht bewehrt, dazwischen ein breiter Streifen sandiges Niemandsland, das aussah wie fein geharkt. Dahinter ein zweiter Zaun, alles ausgeleuchtet von Laternen. Im kalten Licht sah die Grenze gespenstisch aus.
»Brechen wir ab?«, fragte ich.
»Auf keinen Fall«, antwortete Thomas.
Die Nacht war kalt, hatte vielleicht drei Grad, und es war feucht, doch davon spürten wir nichts. Wir beobachteten die Grenze, warteten, ob Soldaten auftauchten. Nichts geschah. Es roch intensiv nach Holz. Gegen 4:30 Uhr beschlossen wir, dass nun der Moment gekommen war, es zu wagen.
Jetzt oder nie.
Wir schlichen an den Zaun und versuchten, mit unseren Scheren die Drahtschlaufen zu durchtrennen. Doch das Material war viel zu stabil. Thomas fluchte. »Los, klettern!« Er stieg hinauf, warf den Schlafsack hinüber, zum Schutz vor dem Stacheldraht, rollte über die Kante und sprang hinab. Er stand im Land zwischen den Zäunen. Ich versuchte, ihm schnell zu folgen. Als ich oben angekommen war, hörte ich Hundegebell. Ich sprang vom Zaun. Schockstarre, ich dachte, mein Herz bleibt einfach stehen. Angst, Panik, Hilflosigkeit. Keine dreißig Sekunden später heulten Motoren auf. Zwei Jeeps rasten heran, Soldaten sprangen heraus, schrien durcheinander, richteten ihre Gewehre auf uns. Sie rissen uns zu Boden, brüllten uns an.
Das Ende unserer Flucht.
Zunächst brachte man uns in eine Kaserne, dann in die Polizeistation, irgendwo auf dem Lande, schließlich ins Prager Staatsgefängnis. Ein altes Gebäude, Backstein, viel Stahl, lange Treppen und Gänge. Es war laut, das Knallen schwerer Türen hallte durch die Flure. Die Schreie von Insassen. Die Wärter trugen lange Knüppel. Meine Zelle war schmutzig, darin gab es einen Hocker und Pritschen, die man in der Wand verschraubt hatte. In die Schüsseln aus Metall klatschte man das Essen. Meine Zellennachbarn waren zwei stark tätowierte Roma, die keine Notiz von mir nahmen.
Zu beschreiben, welche Gedanken ein Jugendlicher in diesen Stunden hat, fällt im Rückblick schwer. Eine Mischung aus Furcht, Trotz, dem naiven Plan, eine Ausrede aufzutischen, nach der wir uns nur verlaufen hatten. Die Angst überwog, und die Ungewissheit, was nun mit mir geschehen sollte.
Erst nach zwei Tagen schwang die Tür auf und zwei Männer in dunklen Anzügen traten ein. Staatssicherheit. Man fesselte mich mit Handschellen, die man an einen Gürtel band. Die Fahrt ging zum Flughafen, wo eine Iljuschin bereits wartete. Ein Flugzeug für knapp hundert Passagiere, doch dieser Flug nach Ost-Berlin war nur für Thomas und mich reserviert. »Im Falle eines Fluchtversuchs werden wir ohne Vorwarnung schießen«, verkündete ein Anzugträger. Wir landeten am frühen Abend; in der engen Zelle einer »Minna«, einem Sammeltransporter, fuhr man mich in ein Gebäude, von dem ich später erfahren sollte, dass es sich um das geheime Stasi-Gefängnis Hohenschönhausen handelte. Ein Raum mit gelben Tapeten an den Wänden, roter Sisal-Teppich, ich sah lange Gänge und überall Wachposten. Man händigte mir einen blauen Trainingsanzug aus, dazu ein blau-weißes Hemd, wie für einen Ostseefischer. Und braune Pantoffeln, tatsächlich: karierte Puschen. Es erschien alles so absurd.
Zelle 108. Ein kleiner Raum ohne Fenster, nur mit einigen Glasbausteinen, durch die tagsüber diffuses Licht drang, darin eine Holzpritsche, eine dünne Matratze, ein Hocker, ein Waschbecken, ein Klo. Licht aus Neonröhren. Sie ließen mich warten bis zum ersten Verhör. Stunde um Stunde verging. Es fühlte sich unendlich lang an. Am zweiten Tag breitete sich Unwohlsein in mir aus. Man wird zurückgeworfen auf sich selbst, man entdeckt sein tiefstes Inneres. Am Nachmittag des zweiten Tages holten mich zwei Wärter aus der Zelle.
Ich konnte nun feststellen, wie groß der Gebäudekomplex war. Man brachte mich in einen anderen Trakt. Ich ging durch lange Flure, stoppte immer wieder vor Stahltüren und Sicherheitsschleusen. »Stehenbleiben!« »Weitergehen!« Bis zum Verhörzimmer hörte ich diese Befehle Dutzende Male. Ein rothaariger Mann mit einem rosigen Gesicht, das mich an ein Schweinchen erinnerte, erwartete mich hinter einem Schreibtisch. Er trug einen grauen Anzug und ein hellgelbes Hemd. Hinter ihm standen zwei Uniformierte, die mich mit verschränkten Armen grimmig ansahen. Der Vernehmer trug vor, dass mir zweifacher illegaler Grenzübertritt vorgeworfen wurde und Republikflucht. Zunächst blieb ich bei meiner Version, dass wir uns beim Wandern in den Wäldern verlaufen hatten. Der Stasi-Mann erhöhte den Druck. Meine Eltern, meine Freunde, die ganze Clique hatte man bereits auf der Suche nach Mitwissern befragt. Tatsächlich wusste einer unserer Kumpel, Bodo, von unserem Plan. »Jetzt hör aber mal auf! Wir ziehen uns die Hosen hier nicht mit der Kneifzange an«, brüllte einer der Uniformierten und näherte sich bedrohlich. Knapp zwei Stunden hielt ich durch, dann brach meine Ausrede zusammen wie ein Kartenhaus im Wind.
Ich kam in Einzelhaft. Meine Zelle: 2.20 Meter breit, 3.50 Meter lang. Keine Abwechslung, kein Kontakt mit anderen Häftlingen, kein Gespräch. Nur Verhöre, immer wieder die gleichen Fragen. Morgens um 10 Uhr brachte man mich in den »Tigerkäfig«, einen kleinen Platz vor einer meterhohen Mauer, mit Maschendraht eingespannt, den man im Gefängnisjargon so nannte, weil man für eine halbe Stunde hin und her tigern konnte. Diese halbe Stunde war der Höhepunkt meines Tages. Zweimal in der Woche durfte ich unter Aufsicht duschen. Nachts galt die Vorschrift, Hände und Gesicht über der Decke zu halten. Alle zwanzig Minuten wurde das Neonlicht zur Kontrolle eingeschaltet. Wenn ich davon nicht wach wurde, schlugen manche Wärter mit dem Knüppel gegen die Stahltür. Niemand sprach ein Wort mit mir, wochenlang, kein einziges Wort.
Es war der Versuch, mich durch Isolation zu brechen.
Für das Maß an Einsamkeit und Verzweiflung, das ich durchlitt, gibt es kaum eine Beschreibung. Selbsttod war keine Option, weil es nicht möglich war, an die Heizungsrohre heranzukommen oder sich mit dem Plastikgeschirr die Pulsadern zu öffnen. Besonders nachts war der Gedanke, dieses Dasein zu beenden, stark. Es war eine furchtbare Zeit, unterbrochen nur von Besuchen meiner Mutter, einmal im Monat, für die ich in die Stasi-Zentrale an der Magdalenenstraße verlegt wurde. Über die Haftbedingungen durfte ich ebenso wenig sprechen wie über den Fluchtversuch. Es blieben kurze, traurige Begegnungen.
Nach zwei Monaten Einzelhaft wechselte ich in eine andere Zelle und bekam Gesellschaft. Einen Medizinstudenten, der sehr viel weinte, weil nicht nur seine Flucht im Kofferraum eines Schleuserautos missglückt war, sondern obendrein seine Freundin mit ihm gebrochen hatte. Zwei Pritschen gab es in der