Meine Freiheit: Geschichten aus Deutschland
Von Kathrin Höhne und Maren Martell
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Buchvorschau
Meine Freiheit - Kathrin Höhne
Kathrin Höhne und Maren Martell
Meine Freiheit
Geschichten aus Deutschland
epubli Verlag Berlin
Impressum
Copyright: © 2014
Kathrin Höhne / Maren Martell
Verlag: epubli GmbH, Berlin www.epubli.de
ISBN 978-3-7375-7694-9
Freiheit muss man sich nehmen.
Roland Jahn,
Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen
Inhalt
Niemals wieder möchte ich von einem Staat gezwungen werden, mich vollkommener Presse-, Reise- und Meinungskontrolle unter- werfen zu müssen. Damit stempelt er nicht nur die Bürger unmündig, sondern schränkt die Menschen in ihrer persönlichen Entwicklung und Freiheit massiv ein.
Siegbert Schefke, Journalist und Bürgerrechtler
Meine Freiheit endet an der Freiheit des Nächsten.
Georg Prinz zur Lippe, Weingutbesitzer
Freiheit ist für mich innere Freiheit. Selbst im Gefängnis habe ich mich nicht unfrei gefühlt.
Carmen Rohrbach, Biologin und Reisebuchautorin
Die Reise- und Bildungsfreiheit ist toll. Hat aber ihren Preis, nicht alle Menschen können sich das leisten.
Karl-Heinz Dallmann, Umweltpfarrer
Wichtige Voraussetzung für Freiheit ist soziale Gleichheit.
Hans Modrow, Politiker
Freiheit ist für mich, sich in einem System wiederzufinden und dort akzeptiert zu werden, wie man ist.
Afrodite Veneti, Sozialarbeiterin
Mit Freiheit im politischen Sinne hatte ich nach der Wende wirklich ein Problem. Im Osten konnte ich nichts sagen, weil Dir ja ständig der Mund verboten wurde. Und im Westen konntest Du sagen, was Du wolltest, aber es hat Dir einfach niemand zugehört.
Bettina Stäbert, Sängerin
Freiheit ist für mich zu wissen, dass ich alles machen kann, was ich will.
Christa Wartig, Bürokauffrau und DDR-Flüchtling
Wo soziale Grenzen bestehen oder Andere betroffen sind, da endet meine Freiheit.
Werner Maiwald, Unternehmer
Freiheit ist die Chance zu verantwortlichem, selbstbestimmten Leben und Handeln.
Wolfgang Thierse, Politiker
Die Freiheit ist auch eine Frage der Gerechtigkeit im gesellschaftlichen System.
Jürgen Ungewiß, Kaufmann
Freiheit heißt für mich, ein selbstbestimmtes Leben führen zu können.
Sylvia Schreiber-Teschner, Erzieherin
Freiheit ist für mich, mit Sicherheit zu wissen, ein Teil einer großen Gemeinschaft zu sein, in der alle Individuen frei entscheiden können.
Maria-Teresa Toro-Saez, Galeristin
Freiheit muss man sich täglich neu erobern.
Pascal Raviol, Schausteller
Freiheit ist für mich unverzichtbar. Aber das Eigentliche, über das ich mich definiere, ist nicht die Freiheit, sondern die Verantwortung.
Kurt Biedenkopf, Politiker und Wirtschaftswissenschaftler
Freiheit bedeutet für mich, keine Angst mehr zu haben. Ängste blockieren den Fluss des Lebens und der Liebe.
Arved Birnbaum, Schauspieler
Freiheit ist etwas Schönes. Aber damit verbindet sich die Frage, Freiheit für wen?
Edgar Most, Bankmanager
Freiheit muss man sich auch leisten können.
Sebastian Krumbiegel, Prinzen-Sänger
Freiheit bedeutet für mich zu wissen, dass meine Kinder glücklich aufwachsen und dass sie machen können, was sie wollen.
Uwe Schramm, Almwirt
Freiheit kann nur eine begrenzte Freiheit von und für etwas sein. Ansonsten wäre mir jeden Tag schmerzlich bewusst, dass ich dann nur ein „Rad im Getriebe", nur ein austauschbarer Teil einer mir deshalb fremden Gesellschaft sein würde.
Gabriele Muschter, Kunsthistorikerin und Kulturvermittlerin
Freiheit ist keine Frage der Definition, sondern eine Frage, die sich jeder persönlich stellen muss. Jeder muss selbst entscheiden, wie er leben möchte. Mit aller Verantwortung und allen Konsequenzen.
Leo Gehl, Musikredakteur
Freiheit bedeutet für mich, meinen Wohnort frei wählen zu können.
Jürgen Brand, politischer Häftling
Freiheit bedeutet für mich, dass ich für alles selbst verantwortlich bin. Das hat aber Grenzen. Man muss lernen, zu verstehen, welche Dinge man selbst verändern kann und welche nicht veränderbar sind. Ich muss dafür selbst die Entscheidungen treffen und die Verantwortung übernehmen.
Manfred Paul, Fotokünstler
Freiheit? Mein Wunsch war es immer, wie durch Zauberhand von allen Papieren zu verschwinden.
Olga Kaminer, Autorin
Freiheit ist flüchtig. Wie Glück.
Katrin Askan, Autorin
Freiheit?
Zum Glück brauchst Du Freiheit, zur Freiheit brauchst Du Mut. So formulierte es vor zweieinhalbtausend Jahren schon der griechische Staatsmann Perikles. Die Geschichte der Freiheit ist auch die Geschichte der Menschheit. Um Freiheit wurde immer wieder gerungen. Der Freiheit wegen wurden Kriege geführt. Freiheit war die Antriebsfeder vieler Revolutionen. Freiheit ist die Grundlage unserer demokratischen Verfassung heute.
Der Wunsch nach Freiheit trieb auch im Herbst 1989 die Menschen in der DDR auf die Straße. Am Anfang standen die Mutigen, die mit Kerzen und Gebeten sich gegen einen Unterdrückungsstaat auflehnten. Sie leiteten damit die radikalste Veränderung der deutschen Gesellschaft seit dem Zweiten Weltkrieg ein. Jedes Jahr im November wird dieser friedlichen Revolution gedacht, kehren die starken Bilder von diesem tief- greifenden Wandel in unser Bewusstsein zurück. Die Geschehnisse damals, als die Mauer fiel, sich die Grenzen öffneten und der Kalte Krieg beendet wurde, bewegen die Menschen weiterhin.
Wohin hat die gesellschaftliche Entwicklung in Deutschland geführt? Wo sehen sich die Menschen heute, wo stehen sie? Welchen Weg sind sie gegangen? Wie beurteilen sie die damaligen Ereignisse heute? Was bedeutet ihnen Freiheit? Das wollten wir, zwei Journalistinnen aus Ost und West, ergründen. Dazu reisten wir quer durch die Republik, gingen auf die Alm in den bayerischen Alpen, ins Allgäu, in den Taunus, in den Süden Brandenburgs, fuhren nach Leipzig, Dresden, Berlin, Köln, Brühl und ins sächsische Elbtal.
Wir suchten Menschen auf, deren Prägung im Osten wie im Westen liegen, die ihren ganz eigenen Weg gegangen sind, nicht aufgehört haben, das Eigene zu tun und zu denken in vielerlei Hinsicht. Sie erzählen von ihren Erlebnissen, von ihren Gefühlen, von ihrem Lebensweg. Es sind Menschen, die aus der DDR geflohen sind, Menschen, die im Gefängnis landeten, Menschen, die geblieben sind, Menschen, die sich auflehnten und auch Menschen, die nach der Wende in Ostdeutschland einen Neuanfang wagten. Wir erzählen auch die Geschichte einer Russin, die die Gunst der Stunde nutzt, um nach Berlin zu kommen, einer Griechin, deren Eltern während des griechischen Bürgerkriegs in den „sozialistischen Bruderstaat" kamen, sowie einer Chilenin, die vor dem Pinochet-System flieht und in der DDR strandet.
Kathrin Höhne und Maren Martell
Siegbert Schefke
Niemals wieder möchte ich von einem Staat gezwungen werden, mich vollkommener Presse-, Reise- und Meinungskontrolle unterwerfen zu müssen. Damit stempelt er nicht nur die Bürger unmündig, sondern schränkt sie in ihrer persönlichen Entwicklung und Freiheit massiv ein.
Seine Bilder lassen die Mauer fallen
Diesen Tag in seinem Leben wird Siegbert Schefke nie vergessen: Es ist der 9. Oktober 1989.
10.00 Uhr Berlin / Prenzlauer Berg
Bereits seit Tagen stehen Stasi-Leute vor einem Mietshaus in der Gotlandstraße im Ostberliner Bezirk Prenzlauer Berg. Ihr Auftrag lautet: Überwachung von Siegbert Schefke, der hier in einer Wohnung lebt. Von seinen Fenstern aus kann er seine Bewacher sehen. Damit sie sich nicht an seine Fersen heften, steigt er auf den Dachboden und klettert aus der Luke raus. Über ein paar Häuser weiter gelangt er wieder ins Freie. An der Schönhauser Straße wartet bereits sein Freund Aram Radomski. Er ist Fotograf, Schefke Kameramann. Beide wollen die Demonstration von DDR-Bürgern in Leipzig filmen und die Bilder der ARD zuspielen. „Denn wenn dort Schüsse fallen, soll es die Welt erfahren." Sie wissen, West-Korrespondenten dürfen schon seit Wochen nicht nach Leipzig reisen, geschweige denn dort drehen.
10.30 Uhr Berlin – Leipzig / auf der Autobahn nach Sachsen
Mit einem Trabant machen sie sich auf den Weg nach Sachsen. Kamera und Fotoausrüstung liegen im Kofferraum. Auf der Autobahn wird ihnen erstmals sehr mulmig zumute. Sie kommen an einem langen Konvoi mit Einsatzwagen von Militär und der Volkspolizei vorbei. „Das war ein sehr beängstigender, bedrohlicher Anblick." Beide schweigen minutenlang. In der Leipziger Innenstadt hoffen sie, nicht kontrolliert zu werden. Überall sind hier längst Polizei und Stasi präsent.
13.00 Uhr Leipzig / Ringstrasse
Schefke und Radomski laufen über den Ring. Die Kamera haben sie in einer Plastiktüte versteckt. Sie sind auf der Hut. Überall sind Polizisten und Sicherheitskräfte. Sie machen sich auf den Weg zur evangelisch-re- formierten Kirche am Tröndlinring, denn vom Kirchturm aus kann man gut bis zum Hauptbahnhof sehen. Sie klingeln bei Pfarrer Hans-Jürgen Sievers, berichten ihm kurz, dass sie die Kameramänner seien, von denen das Material für die DDR-Dokumentationen der westlichen Sendungen „Kontraste und „Kennzeichen D
stamme. Sie erzählen weiter, dass sie heute noch das Friedensgebet filmen wollen. Der Pfarrer nickt und gibt sein Einverständnis, sie auf den Turm zu lassen.
16.00 Uhr Leipzig / Tröndlinring 7
Die beiden Männer steigen auf den Turm. Der Hausmeister schließt hin- ter ihnen die Tür ab.
19.00 Uhr Leipzig / Tröndlinring 7
Schefke und Radomski haben sich auf der Kirchturmspitze im Tau- bendreck in Stellung gebracht. Sie blicken um sich und entdecken Stasi-Männer auf den Dächern gegenüber. „Werden sie auch gesehen? Sie halten das Rotlicht an der Kamera zu. Was sie dann filmen und fo- tografieren, hätten sie selbst nicht erwartet. Trotz eines Großaufgebots von Bereitschaftspolizei und Staatssicherheit gehen tausende Menschen auf die Straße. Es ist die bis dahin größte Montagsdemonstration in der Stadt. Arm in Arm ziehen die Demonstranten friedlich an der Kirche vor- bei und rufen „Wir sind das Volk!
, „Schließt Euch an! und „Gorbi, Gorbi!
und „Wir sind keine Rowdies. Die Männer auf dem Turm denken unwill- kürlich an das Massaker auf dem chinesischen Platz des Himmlischen Friedens in Peking im Juni desselben Jahres. Doch in Leipzig wird nicht geschossen. „Zum Glück!
21.00 Uhr Leipzig / Tröndlinring 7
Sie schalten die Kamera aus. Sie trauen sich noch nicht auf die Straße. Lange sitzen sie noch bei Pfarrer Sievers in der Küche. Ihnen werden Stullen geschmiert, sie haben Hunger. Erst als es ihnen draußen ruhig erscheint, gehen die beiden ins Hotel „Merkur. Dort wartet der DDR-Korrespondent des westlichen Nachrichtenmagazins „Der Spiegel
, Ulrich Schwarz. Er hat seinen Wagen mit Diplomatenkennzeichen am Flughafen Berlin-Schönefeld stehen lassen und ist mit der Reichsbahn nach Leipzig gekommen. Ihm geben sie das Material. Gemeinsam geht es zu dritt mit dem Trabi zurück. Der Motor macht schon etwas schlapp. Mit nur knapp Tempo 60 auf der Autobahn erreichen sie Berlin.
Mitternacht / Berlin
Schwarz schmuggelt das Videoband und die unentwickelten Filme in seiner Unterwäsche in den Westen. Schefke steigt über die Dächer zurück in seine Wohnung. Vor dem Haus lungern nach wie vor Stasi-Leute. Am nächsten Morgen folgen sie ihm wieder zum Bäcker.
10. Oktober 1989 – Tagesthemen ARD
„Wir sind das Volk!" erklingen die Rufe von 70.000 Demonstranten in Leipzig in den ARD-Tagesthemen. Bürger in beiden Teilen Deutschlands können sehen, dass aus dem Widerstand gegen das SED-Regime eine Massenbewegung geworden ist. Um die Urheber der Bilder zu schüt- zen, sagt Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs, die Bilder stammten von einem italienischen Kamerateam.
2014, Leipzig, ein Vierteljahrhundert später
Wir treffen Siegbert Schefke an seinem Arbeitsplatz beim MDR in der Leipziger Südvorstadt. Inzwischen kann er überall in Deutschland seine Kamera aufstellen, ohne verfolgt zu werden. Er zeigt uns das Funkhaus auf dem alten Schlachthofgelände, führt uns durch Studios, Schnittplätze und Redaktionsräume. Im 17. Stock nehmen wir in einer Sitzecke in großen schwarzen Ledersesseln Platz. Von hier oben kann man gut über die Stadt blicken, die seit der Wende einen enormen Strukturwandel erlebt hat. Schefke ist hier gern zu Hause. Auch der Revolutionsheld von einst hat sich gewandelt. Inzwischen sind seine schulterlangen Wuschelhaare kürzer und grauer geworden. Der Bart ist ab. Falten haben sich in das markante Gesicht des groß gewachsenen Mannes gegraben. Er trägt ein helles Hemd, Jeans und schwarze Halbschuhe. Bequem. Er wirkt entspannt und gelassen.
Der Mauerfall hat sein Leben gewissermaßen in ein Davor und ein Da- nach geteilt. Darauf zurückzublicken, damit ist er inzwischen bestens vertraut. Denn als Chronist der Leipziger Montagsdemonstrationen und Verfolgter der Staatssicherheit ist er als Zeitzeuge rund um den Globus gefragt und bekommt dazu viele Fragen gestellt. Journalisten gibt er ein- mal folgenden Satz auf einen gelben Klebezettel gekritzelt mit auf den Weg: „Je besser wir Diktatur begreifen, um so besser können wir Demokratie gestalten. Damit will er für die Arbeit der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin werben. „Schon aus dem einfachen Grund, dass die Stasi über mich acht Aktenordner angelegt hatte und bisher nur drei aufgetaucht sind. Ich will wissen, was da noch drin stand.
Denn eins weiß er bereits in jungen Jahren genau: „Ich wollte das DDR-System stürzen und nicht irgendwie reformieren, sondern ganz klar beseitigen." Natürlich geht ihm diese Aussage heute viel leichter über die Lippen als damals.
Siegbert Schefke wird im Februar 1959 in Eberswalde in Brandenburg geboren. Seine Mutter ist Hausfrau, sein Vater Maurer. Ohne Geschwister wächst er als „Kind der DDR in der Generation auf, in der es durchaus noch Hoffnungen und einen Glauben an einen Sozialismus als die bessere Gesellschaftsordnung der beiden deutschen Staaten gibt. Im Laufe seines Lebens aber muss er zusehen, dass viele daran scheitern, resignieren, sich in private Nischen zurückziehen und versuchen, minimale Kompromisse im System DDR zu finden. Einige gehen für ihre Überzeugungen ins Gefängnis. Andere ertragen das Eingesperrtsein nicht mehr, wollen fliehen, stellen Ausreiseanträge, flüchten unter Todesgefahr. Wieder andere protestieren, wollen bleiben, so auch Schefke. „Denn es ist auch meine Heimat, und in der will ich frei leben.
Dabei erlebt er auch die, die um ihres Vorteils willen Menschen ausspionieren und verraten und so das System über viele Jahre stützen. Schon als Kind erfährt er „den fernen Westen ganz nah. Denn die Familie lebt in beiden Teilen Deutschlands. Alle drei Geschwister seines Vaters sind noch vor dem Bau der Berliner Mauer 1961 in den Westen, ins Ruhrgebiet gegangen. Kommen sie zu Besuch, holt er sie gemeinsam mit seinem Vater am Grenzbahnhof Friedrichstraße in Berlin ab. „Da bekam ich von den Verwandten oft Mars-Riegel und Adidas-Turnschuhe geschenkt
, erinnert er sich. Seine Schulzeit verläuft DDR-typisch: Er ist bei den Pionieren und in der FDJ. Auch die Teilnahme an der sozialistischen Jugendweihe mit 14 Jahren gehört dazu. Parallel dazu besucht er einmal in der Woche den Gottesdienst in der Kirche. Er wird konfirmiert. „Ansonsten habe ich mich wie viele andere Jugendliche auch für Briefmarken, Mopeds und Judo interessiert."
Während andere drei Jahre zur Armee gehen, um die Chance auf ein Studium zu erhöhen, geht er zum Bau. Macht dort eine Lehre mit Abitur. Der anderthalbjährige Grundwehrdienst bei der Nationalen Volksarmee bleibt ihm dennoch nicht erspart. Er kommt nach Storkow bei Berlin. „Für mich war das nur ein gezielter Versuch des DDR-Systems, junge Männer von 18 Jahren mit militärischem Drill und Parteipropaganda zu prägen. Der große Leitsatz dazu heißt: „Die DDR ist ein Friedensstaat!
Doch Abrüstungsgegner, kirchliche Friedensaktivisten und Wehrdienstverweigerer werden verfolgt und bestraft. Damit macht er 1982 seine Erfahrung. Inzwischen studiert er an der Hochschule für Bauwesen in Cottbus. Seine kritische Haltung lässt ihn nicht zögern, einen Appell gegen die Stationierung von Atomwaffen in Ost und West zu unterschreiben. Die Folge: Als Einziger aus seinem Jahrgang wird er zu einer Nachprüfung nicht zugelassen. Den wahren Grund erfährt er Jahrzehnte später aus seinen Stasi-Akten. Er muss sich in der Produktion bewähren und darf erst ein halbes Jahr später sein Studium fortsetzen. Auch nur, weil er sich eine Beurteilung selbst schreibt und den damaligen Brigadier mit einer Kiste Bier und einer Flasche Schnaps zur Unterschrift überredet. Darüber kann er inzwischen entspannt lachen, auch wenn er an seine Diplomarbeit mit dem Thema „Vergleich von Klebern auf Schräg- und Spitzdächern denkt. „Nur gab es in der DDR keinen Kleber, der kleben blieb. Es lief einfach nur alles runter, der Teer klebte nicht wirklich. So musste ich noch nachweisen, dass wir nicht in der Lage sind, einen Teer herzustellen, der ab 35 Grad Neigungswinkel und Sonne kleben blieb.
1983 radelt er sechs Wochen lang durch Osteuropa, bis ans Schwarze Meer und zurück. „Sonst ist einem ja nichts mehr eingefallen. An der sächsischen Grenze in Bad Schandau wird er gefilzt. Die Grenzer finden bei ihm westliche Bücher, unter anderem ein Exemplar von Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns
. Das nehmen sie ihm weg. „Dieses Eingreifen und Reglementieren in meinem Leben fand ich schon sehr unangenehm."
Nach den Studienjahren in Cottbus setzt er alles daran, auf die „Insel der Glückseeligen zu kommen, nach Berlin in den Prenzlauer Berg. Denn längst hat es sich herumgesprochen, dass in diesem Bezirk viele Regimekritiker und Intellektuelle Zuflucht suchen. 1985 bezieht er dort eine Wohnung. Er wird Bauleiter beim Wohnungsbaukombinat Berlin, errichtet Plattenbauten mit. Seine wesentliche Aufgabe ist es, Giebelwände zu verfugen. „Das Gute war, für Außentermine auf der Baustelle hatte ich einen Trabant und in meinem Büro in Ostkreuz sogar ein Telefon.
Dass alle Gespräche überwacht werden, ist ihm egal. Ausgerechnet über dieses Diensttelefon kommt ein Kontakt zu Roland Jahn zustande, dem späteren Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen. Von West-Berlin aus versucht der ehemalige Oppositionelle Jahn aus Jena, Regimegegner in der DDR zu unterstützen. Immer wieder berichtet er in Beiträgen für Westmedien über die menschenrechtsverletzende Situation im anderen Teil Deutschlands, unter anderem für die ARD-Sendung „Kontraste".
Ab 1986 führt Schefke ein Leben der Gegensätze. Verwegen sieht er aus. Mit langen Haaren und Bart passt er nicht in das Bild eines braven DDR-Bürgers. Während er tagsüber am „planmäßigen Aufbau des Sozialismus mitwirkt, engagiert er sich nach Feierabend in kirchlichen Gruppen für die Umwelt. „Einigen von uns reichten aber bald die Baumzählaktionen nicht mehr. Wir wollten ein Informationszentrum gründen, in einem offenen Haus eine offene Arbeit machen.
Sie fragen bei der Kirche nach, die stellt ihnen zwei Kellerräume zur Verfügung. So entsteht 1986 im Gemeindehaus der Ostberliner Zionskirche die Umwelt-Bibliothek. Die DDR-Führung gesteht der Kirche zu dieser Zeit einen gewissen Freiraum zu. Dafür darf sie sich außerhalb ihrer Mauern politisch nicht engagieren. Aber es dauert nicht lange und verbotene Bücher und Zeitschriften zu Umwelt- und Menschenrechtsthemen finden hier Eingang: Es gibt Lesungen, Veranstaltungen und Rock-Konzerte mit bis zu 1.000 Besuchern. Im November 1987 durchsuchen Stasi-Leute die Räume und verhaften Mitarbeiter. Zum ersten Mal in der DDR-Geschichte dringen sie in Kirchenräume ein. Über die Razzia berichten Westmedien ausführlich. Damit wird die Aktion öffentlich. Es kommt zu Solidaritätsbekundungen im ganzen Land und die Aktivisten werden wieder freigelassen. Schnell wird die Bibliothek so auch zu einem Treffpunkt für Bürgerrechtler, zu einer Schaltzentrale der DDR-Opposition. Zunächst gibt sie die als kirchenintern deklarierten „Umweltblätter heraus. Illegal gedruckt wird die Untergrundzeitschrift „grenzfall
der Initiative für „Frieden und Menschenrechte". Zu den Gründungsmitgliedern gehören Bärbel Bohley, Martin Böttger, Werner Fischer, Ralf Hirsch, Ulrike und Gerd Poppe sowie Wolfgang Templin.
Regelmäßige Stasi-Verhöre, oft zwölf Stunden lang, gehören nun zum Alltag von Schefke. Bereits seit 1985 hat er ein totales Reiseverbot, darf die DDR nicht mehr verlassen. Als ihn sein Chef wegen seiner abendlichen „Aktivitäten zur Rede stellen will, kündigt er 1987 seinen Job. „Ich wurde vom Teilzeitrevolutionär zum Vollzeitrevolutionär.
In einem Verhör wird ihm „asoziales Verhalten vorgeworfen. Das konnte in der DDR mit Gefängnis bestraft werden. Er, darauf vorbereitet, rechnet den Stasi-Beamten haarklein vor, dass er auf seinem DDR-Sparkassenkonto so viel gespart habe, um einige Jahre davon leben zu können. „Ich brauche etwa 50 Ost-Mark im Monat. Jeden Morgen esse ich eine Brötchen- hälfte mit Marmelade, mittags eine Linsensuppe und abends die andere Hälfte vom Brötchen mit etwas Leberwurst. Das kostet um die 24 Mark, die Miete beträgt 26 Mark.
Sein Stasi-Gegenüber kontert: „Wissen Sie, Herr Schefke, Ihre Antworten sind immer so schön rund, ich glaube Ihnen kein Wort. Schließlich lassen ihn seine Peiniger gehen. Warum, erfährt er auch erst Jahre später aus seinen Akten: „Die Stasi wollte nicht nur mich. Sie wollte auch, dass ihnen die Hintermänner, die Unterstützer aus dem Westen, ins Netz gehen.
Mit Roland Jahn will er öffentlich machen, wie es in der DDR wirklich aussieht. „Wir wollten in die Wohnzimmer der Menschen strahlen, mitten hinein, dahin, wo es den Führenden des SED-Regimes am meisten wehtat. Wir wollten zeigen, in welchem Dreck die Menschen in der DDR lebten. Den Anfang machen dabei heimlich im Osten produzierte Hörkassetten, die als „Radio Glasnost
von einem Westberliner Privatsender ausgestrahlt werden. Später besorgt Jahn eine Video-Kamera und lässt sie in den Osten bringen. Der Oppositionelle Rüdiger Rosenthal zieht als Erster mit ihr versteckt in einem Beutel los. Er dokumentiert Umweltschäden in den Chemieindustriegebieten der DDR und stellt oppositionelle Gruppen wie „Kirche von unten" vor. Über Diplomaten gelangen die Bilder in den Westen.
Während die SED weiter Jubel-Nachrichten verbreitet, übernimmt nach Rosenthals Ausreise im Frühjahr 1987 Schefke die Kamera. Es kommt ein zweiter Mann dazu, der Fotograf Aram Radomski. Die illegalen Dreh- und Fotoarbeiten führen beide dorthin, wo die Umweltzerstörung besonders gravierend ist. Sie drehen in Espenhain bei Leipzig, wo die riesigen Braunkohlekraftwerke und Kohlebrikettfabriken stehen; in Bitterfeld, wo die Chemieindustrie eine ganze Region verseucht. Sie filmen auch in Halberstadt, wo die verwahrloste Altstadt durch Plattenbau ersetzt wer- den soll; in Potsdam, Greifswald und Görlitz. Zudem macht Schefke im Frühjahr 1989 Aufnahmen von Neonazis in Berlin, deren Existenz die DDR nicht eingesteht. In Dresden und Ostberlin entdeckt er Hakenkreuze auf jüdischen Friedhöfen. Ein dritter Mann, Falk Zimmermann, stößt dazu. Was die anderen nicht ahnen,