Rote Fahnen und Davidstern
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Buchvorschau
Rote Fahnen und Davidstern - Helga Slowak-Ruske
Das Buch
Sie habe mit diesem Buch den »jüdischen sowjetischen Kulturoffizieren ein Denkmal setzen und den Antisemitismus unter Stalin dokumentieren« wollen, erklärte die Autorin 1999 in einem Interview, als die 1. Auflage ihrer Erinnerungen erschienen. Es ist mehr: eine berührende Autobiographie, die, mit leichter Hand geschrieben, schwere, bedrückende Kapitel der Geschichte lebendig werden läßt: Nazizeit und Nachkriegszeit, Kalter Krieg und Berlinkrise, Titoismus und Dritter Weg, Deutschland und Israel …
Helga Slowak-Ruske berichtet über Sachen, die sie selbst erlebte. Damit ist sie eine Zeitzeugin erster Qualität, die im Spannungsfeld zwischen roten Fahnen und Davidstern Erfahrungen machte, die den Leser vieles verstehen läßt, was scheinbar nicht zu verstehen ist.
Die Autorin
Helga Slowak-Ruske, Berlinerin, mit Großeltern und Eltern aus Niederschlesien, der Vater Schaufensterdekorateur. Volontärin bei Scherl. Die journalistische Laufbahn droht am 21. Juni 1944 in einem Bombenkeller zu enden. Sie überlebt als einzige. Monate später retten sie Soldaten der Roten Armee aus dem gefluteten Keller unter dem Potsdamer Platz. Danach wird sie, keine 17, am 11. August 1945 die erste deutsche Redakteurin bei der »Täglichen Rundschau«. 1949 geht sie nach Westberlin, dann nach Jugoslawien. 1961 berichtet sie für deutsche Blätter vom Eichmann-Prozeß aus Israel. Als Pazifistin engagiert sie sich in deutsch-jüdischen Vereinigungen und in Menschenrechtsorganisationen. Zweimal werden Anschläge auf sie in Berlin-Zehlendorf verübt. 1985 erhält Helga Slowak-Ruske das Bundesverdienstkreuz.
Impressum
eISBN 978-3-360-50066-3
©2013 Verlag Das Neue Berlin, Berlin
© der Originalausgabe by edition ost, Berlin 1999
Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin
Die Bücher des Verlags Das Neue Berlin erscheinen
in der Eulenspiegel Verlagsgruppe
www.eulenspiegel-verlagsgruppe.de
Helga Slowak-Ruske
Rote Fahnen und Davidstern
Erinnerungen
Das Neue Berlin
Vorwort
Nach der Befreiung Berlins durch die Sowjets im Mai 1945, folgte der kämpfenden Truppe eine Kampfeinheit des Geistes. Sowjetisch-jüdische Kulturoffiziere in den Rängen vom Leutnant bis zum Major und Oberst hatten die Aufgabe, das völlig zerstörte und verwüstete Berlin kulturell wieder lebenswert zu machen, den Bewohnern Kultur zurückzugeben und sie daran zu interessieren, ihren neugewonnenen Lebensmut in die richtigen Bahnen zu lenken. Als erstes gründeten sie eine Zeitung, die Tägliche Rundschau, eröffneten Theater und Kinos und initiierten die ersten Konzerte. Der Künstlerklub »Möwe« wurde zum Treffpunkt Berliner Künstler. Die Bewohner der Stadt, von neuem Tatendrang erfüllt, nahmen all dies dankbar an. Für viele Menschen waren diese ersten Monate nach dem Krieg von bleibendem Eindruck.
So war das auch bei mir. Was wußte ich schon, ob Hauptmann Bergelson Jude war, ich hatte ja noch niemals zuvor bewußt einen getroffen. Er lehrte mich Tucholsky lesen und Heinrich Heine und sprach mit mir über Hölderlin. Alexander Dymschitz, der für Theater und Film zuständig war, ließ das Deutsche Theater und die Kammerspiele eröffnen. Die Schauspieler folgten bereitwillig und dankbar seinem Ruf. Diese sowjetischen Juden, die ein fast akzentfreies Deutsch sprachen, hochgebildet waren und mehr über deutsche Literatur wußten, als der durchschnittliche Deutsche, haben das Nachkriegsberlin beispiellos geprägt. Auch nach der Teilung der Stadt in vier Sektoren war das Wirken jüdischer Intellektueller im Ostteil noch nachhaltig zu spüren. Ob sie bei all ihrem Tun an einen möglichen demokratisch geprägten Neuaufbau dachten, erscheint mir zweifelhaft. Sie waren aber zumindest kritische Anhänger des sowjetischen Systems. In ihrer Heimat waren sie Lehrer, Dozenten, Theaterkritiker oder Journalisten, und die Uniform trugen sie meist erst seit kurzer Zeit. In wenigen Jahren schufen sie auf intellektuellem Gebiet Dinge, die bis heute nachwirken. Wie so viele andere junge Menschen, die hungrig auf Leben waren, wurde ich in dieser Zeit geprägt. Alles, was uns in der Nazizeit vorenthalten war, wurde uns nun von sowjetischen Juden nahegebracht. Sie führten uns heran an Dichter, deren Bücher verbrannt, an Gemälde, die verfemt und Theaterstücke, die verboten gewesen waren. Dankbar sogen wir dieses Kulturgut in uns auf, daß uns dabei auch »historischer und dialektischer Materialismus«, das »Kapital« von Karl Marx und Lenins Werke sowie die »Geschichte der KPdSU« vermittelt wurden, nahmen wir gern in Kauf.
Heute weiß ich, daß diese Begegnungen in sehr jungen Jahren und das Eingebundensein in diesen Kreis Auswirkungen auf mein späteres Leben hatten. Mein Interesse am Judentum und am Staat Israel beruhen auf diesen ersten Erfahrungen. Damals wurde der Keim für meine spätere Tätigkeit gelegt.
Daß diese Epoche jüdisch-intellektuellen Schaffens in Berlin bereits 1948 ein Ende fand, liegt an der ersten großen Antisemitismuswelle unter Stalin, der sogenannten Shdanowtschina. Das Moskauer Politbüromitglied Shdanow hatte seine Ideologie mit dem »Internationalismus der Arbeiterschaft« im Gegensatz zum (verabscheuungswürdigen) »jüdischen Kosmopolitismus« begründet. Der Ärzte-Prozeß in Moskau fand statt. Die sowjetisch-jüdischen Offiziere, die sich sowieso auf einem gefährlichen Vorposten des Kapitalismus befanden, mußten verschwinden. Was heißt verschwinden?
Im günstigsten Falle wurden sie abberufen, in den meisten Fällen aber vom NKWD abgeholt, deportiert und für Jahre verbannt. Einige nahmen sich das Leben, Major Bloch in Berlin-Karlshorst im Militärgefängnis und Hauptmann Czechanowsky im nach Sibirien fahrenden Zug.
Der Eichmann-Prozeß, dem ich zeitweise als Beobachterin beiwohnte, das »Zu-Hause-Fühlen« in Jerusalem und das Umgehen mit der israelischen Mentalität, all dies hat sicher seinen Ursprung in den Lehrjahren bei jüdischen Kulturoffizieren in Berlin. Hätte ich in Tübingen, Köln oder München gelebt, wäre mein Leben vielleicht anders verlaufen, aber bevor mir das bewußt wurde, sind einige Jahrzehnte ins Land gegangen.
Alle zeitgeschichtlichen Bücher über den Krieg, über Juden, über Elend und Leid, über Grausamkeit und Tod, sind immens wichtig für die nachfolgende Generation. Ich versuche in diesem Buch nur das ganz normale Leben zu schildern, so wie es uns damals als normal erschien. Ich war ein Kind, ein Mädchen, dessen Eltern keine Widerstandskämpfer waren, das bei den Jungmädeln mitmarschierte, bis es anfing zu denken, das von den Russen befreit wurde und mit Begeisterung einen neuen Anfang suchte und fand. Im Mai 1945 ist bei mir eine Saat gelegt worden, die Jahre später aufgegangen ist. Wieviel Glück habe ich doch gehabt!
Helga Slowak-Ruske
1. Kapitel
Plötzlich senkt sich die Decke und stürzt auf uns herab. Holzbalken brechen. Steine und Mörtel, immer mehr und mehr, bis wir völlig begraben sind. Dabei war vorher alles so still. Die Bombe hatten wir nicht gehört. Irgendwo um mich herum – aber wo? – Schreien und Stöhnen. Ich kann mich nicht mehr bewegen, bin unter den stürzenden Mauern begraben. Vor mir scheint ein kleines Luftloch zu sein, denn ich kann atmen, auch die rechte Hand noch bewegen. Ich kann doch nicht schon sterben. Das kann mir doch nicht geschehen! Bei allen Bombenangriffen habe ich doch nie geglaubt, daß es mich treffen könnte.
Hilfe, ich will nicht sterben! Das kann nicht das Ende sein. Ich habe doch noch gar nicht gelebt. Ich bin sechzehn Jahre alt und es ist Krieg. Ich kann mich nicht bewegen, ich sehe nichts. So muß die Hölle sein. Hölle? Ich glaube nicht daran, aber was ist es dann? Nun wird es wieder dunkel in mir. Ich schwebe in einem Zustand zwischen Erleben und Bewußtlosigkeit. Keine Schmerzen, aber immer noch das fassungslose Entsetzen, daß gerade mir das passiert. Bin ich denn nicht unsterblich? Die rechte Hand liegt auf der Brust, ich greife mir an die Kehle, versuche zu drücken, damit alles schnell ein Ende hat.
Was ist das für ein Zustand, wo nur meine Gedanken noch da sind? Die Geräusche haben aufgehört; völlige Dunkelheit und Bewegungslosigkeit. Ich nehme einen Geruch wahr, einen furchtbaren, beißenden widerlichen Geruch. Die Bombenmasse mit Mörtel durchmischt. Wieviel Zeit vergangen ist, weiß ich nicht.
Die gnädige Bewußtlosigkeit wird immer wieder durchbrochen von halbwacher Todesangst. Irgendwann wird es heller über mir. Ein trichterförmiges Loch erscheint, Rufe, Gestalten, Fackeln, Schaufeln, die den Schutt bewegen, und Hände, die an mir zerren.
»Mensch, da ist ja noch ’ne alte Frau – los, ziehen!« Ich bin die alte Frau. Mein Haar ist schneeweiß vom Mörtel, es faßt sich an wie Stroh. Meine Kleidung ist zerfetzt – aber ich lebe.
Es ist der 21. Juni 1944, der Hauptangriff amerikanischer Bomber auf das Zeitungsviertel in Berlin. Es ist vormittags gegen 11 Uhr. Seit einiger Zeit bin ich Volontärin im Scherlverlag mit dem Ziel, Journalistin zu werden. Die Lehre als Verlagskaufmann, damals sagte man noch nicht Kauffrau, hatte ich nur begonnen, um eines Tages in die Redaktion überwechseln zu können. Nun war ich im Textarchiv gelandet. Es soll das größte in Europa gewesen sein, dieses Scherl-Textarchiv, berühmt in ganz Deutschland, vor dem Krieg weltbekannt. Alles ist dort zu finden. Jeder Name, der jemals in einer Scherl-Zeitung erschienen ist, festgehalten in großen und kleinen Karteikästen. Ein riesiges Archiv. Täglich kommen Hunderte von Anfragen aus dem eigenen Hause, wo Zeitungen wie der Berliner Lokalanzeiger, Die Nachtausgabe, Zeitschriften wie Die Dame und viele Bücher erscheinen.
Mein alter, weißhaariger Kollege Oskar Mertens, der so wunderbare Geschichten aus dem Berlin der 20er Jahre erzählen kann, streichelte manchmal mit seinen schmalen Händen über eine der Karteikarten. Früher war er Redakteur, längst im Ruhestand hat man ihn wiedergeholt zum Kriegsdienst ins Textarchiv. Er ist bekannt für seine geistvollen, witzigen Bonmots.
Als wir beim Alarm zusammen mit anderen Mitarbeitern unserer Abteilung in den Keller des Hochhauses gingen, suchte er seinen Platz neben mir. »Bleib hier, Kind, ich passe schon auf dich auf.« Dann wurde durchgezählt. Ich war die Nummer 28, er sagte stramm militärisch, höhnisch: »Leiche Nummer 29.« Ich kicherte. Er wurde die Leiche Nummer 29. Von allen dreißig Insassen dieses Kellers hat man mich als einzige lebendig ausgegraben. Alle anderen sind tot. Die Bombe hatte schräg in den Hof und dann in die Kellerwand eingeschlagen. Nach sechs Stunden hatte man mich gefunden.
Man bringt mich auf einer Trage weg, mir wird furchtbar übel. Es ist fast dunkel. Feuer, Rauch und irgendwo eine blutrote Sonne durch die schwarzen Rauchwolken. Der Gestank ist so schrecklich, immer noch der Gestank aus Bombenmasse und Mörtel, der an mir klebt. Irgendwann stellen sie mich in einer der großen Rotationshallen ab. Um mich herum Hunderte von Verwundeten und Leichen. Nacheinander versuche ich, beide Arme und Beine zu bewegen. Es tut weh, aber es geht. Jemand kommt und ich stelle die Frage, die mir anscheinend so wichtig ist:
»Habe ich was im Gesicht kaputt?«
»Nein, Mädchen, dein Gesicht ist in Ordnung.«
Dann bin ich wieder weg. Als ich aufwache, hält plötzlich jemand meine Hand. Mein Vater kniet neben mir, zusammen mit Gerrit van Daalen, seinem jungen Kollegen bei Wertheim, der Maler ist und gerade mein Porträt beendet hatte. Mein Vater sieht grau aus unter dem Stahlhelm. Er hat eine Art Grubenlampe auf der Brust. Später wird er mir erzählen, wie er mit Gerrit zum Verlag gelaufen ist, nachdem im Radio über die Bombardierung des Zeitungsviertels berichtet wurde. Von Halle zu Halle waren die beiden gelaufen. Überall lagen Verwundete und Tote, Hunderte, Tausende. Von jedem Toten hat mein Vater das Tuch vom Gesicht gezogen und nachgeschaut, ob ich es bin. Jetzt hat er mich gefunden – lebend!
Ein Sanitätsauto kommt. Ich werde hineingeschoben. Vater und Gerrit steigen zu. Während der langen Fahrt wird mir wieder schlecht, ich muß mich übergeben.
»Schock«, sagt der Sanitäter. Im Lazarett am Tempelhofer Ufer, dem früheren Luther-Lyzeum, das nur getrennt durch den Landwehrkanal unserer Wohnung am Halleschen Ufer 60 gegenüberliegt, stellen die Militärärzte fest, daß mir nichts fehlt außer mehreren Rippenbrüchen und Hautabschürfungen. Ich möchte gern etwas sagen, aber ich soll nicht reden. Da die wenigen Lazarettplätze für andere, schwerer Verwundete wichtiger sind, nehmen Vater und Gerrit mich auf einer Trage mit nach Hause. Meine Mutter steckt mich sofort ins Bett. Vorher hat sie die zerfetzte Kleidung vorsichtig entfernt, mich gewaschen, um den gräßlichen Geruch, der von mir ausgeht und der mir selbst immer wieder Übelkeit verursacht, zu beseitigen. Um den Kopf habe ich ein Handtuch gebunden, niemand konnte wohl den Anblick der weißen Haare mehr ertragen. Morgen werden wir das Haar waschen. Noch zittere ich zwar unkontrolliert, aber ich bin glücklich.
Plötzlich gehen wieder die Sirenen, der übliche Nachtangriff der Engländer. Jetzt fange ich an, völlig unkontrolliert zu schlottern. Ich habe solche Angst! Nein, nicht noch einmal das Inferno von vorhin. Wie viele Stunden ist es eigentlich her? Ich weiß es nicht. Meine Eltern schleppen mich in den Luftschutzkeller vom Amtsgericht nebenan. Nachbarn stehen herum. Ich habe wieder Angst. Ich will nicht mehr! Wann ist dieser tödliche, grausige Krieg endlich zu Ende? Warum bringt denn keiner diese braunen Hunde um, warum lebt dieses Schwein Hitler noch und läßt mich einfach töten? Ja, ich lebe, aber wie lange noch? Es kommt doch wieder ein Alarm und wieder einer. Werde ich es schaffen, durchzuhalten oder erwischt mich die nächste Bombe endgültig?
Die nächsten Tage vergehen im Dunkeln, unterbrochen vom Fliegeralarm. Schmerzen habe ich kaum, bis auf einiges Stechen und Ziehen. Die Handtücher, die mir um die Brust gebunden sind wegen der Rippenbrüche, sind lästig. Eigentlich erhole ich mich gut, bis auf das Zittern, das mich jedesmal überfällt, wenn die Sirene ertönt. Ich komme nicht dagegen an.
Meine Eltern haben beschlossen, mich für einige Wochen aus Berlin fortzuschicken. Bei Scherl bekomme ich anstandslos Urlaub. Alzenau in Schlesien ist der Geburtsort meines Großvaters. Ich war schon öfter in diesem Dorf, bin dort auch kurze Zeit zur Schule gegangen. Jetzt empfinde ich es als besonders schön. Es gibt Streußelkuchen trotz Rationierung. Kein Fliegeralarm. Wenn nur diese schreckliche Angst nicht wäre! Ich habe dauernd Angst, traue mich kaum über die Dorfstraße zu gehen – es könnte mich ja ein Ochsengespann überfahren. Ich habe auch Angst zu stürzen und vor lautem Geschrei, aber auch vor nächtlicher Stille. Diese undefinierbare Angst überschattet die Erleichterung über die von keinem Fliegeralarm gestörten Nächte. Ständige Albträume quälen mich. Irgendwann wird ja der verfluchte Krieg zu Ende sein.
2. Kapitel
Wie lange ist es eigentlich schon her, seit ich mit den Jungmädels durch die Straßen marschierte und plärrte: »Wir werden weiter marschieren, wenn alles in Scherben fällt, denn heute, da hört uns Deutschland und morgen die ganzeWelt.« Wir sangen übrigens immer »hört« und nicht »gehört«, wie es später manchmal hieß. Dabei ist »hört« ja wohl schlimm genug.
Mit zehn Jahren war ich unter Temperamentsausbrüchen und Tränen gegen den Willen meiner Eltern in den Jungmädelbund gegangen. »Kluft« kauften sie mir keine, das war ihr stiller Protest als eingeschworene Sozialdemokraten. Soweit gingen sie jedoch nicht, ihr Kind von der »Pflicht« dem Führer gegenüber ganz fernzuhalten. Da spielte auch die Angst mit, ich könnte in der Schule dummes Zeug reden. Schlimm für mich war, daß meine Eltern dann auf »minderbemittelt« machten, obwohl das weiß Gott nicht nötig war. Meine Mutter ging mit mir zum Bann am Moritzplatz in Kreuzberg. Sie ließ es völlig ungerührt über sich ergehen, daß ich meine »Kluft« nun doch kriegte. Weiße Bluse mit Knöpfen in der Taille, schwarzer Rock und Halstuch mit Knoten. Nur paßten die Klamotten überhaupt nicht. Ich war dünn und spillerig und die Sachen waren auf Zuwachs. Alles schlotterte um mich herum, Blusen und Rock waren viel zu weit und zu lang.
Die kackfarbige Kletterweste kaufte mir mein Opa im »Braunen Laden«. Natürlich auch auf Zuwachs. Sie hatte Schnallen an der Hüfte, die konnte man eng anziehen, dann war oben viel Luft und Weite, und ich sah aus, als wäre ich bucklig. In dieser Aufmachung und den U-Boot-ähnlichen Bundschuhen ging ich zu meinem ersten Heimabend. Da lernten wir das schöne Gedicht:
Wenn ich abends schlafen geh’,
Und ich morgens lachend steh’,
Wenn ich schreite durch den Wald,
Wenn vom Berg mein Echo hallt,
Du mein Führer, für mich wachst.
Wenn ich turne, singe, lach’,
Wenn ich kühle mich im Bach,
Wenn ich spiel auf deutschem Sand,
Wenn ich lerne für mein Land,
Du mein Führer für mich wachst.
Wenn auf heil’ger deutscher Flur,
Jugend einigt sich im Schwur;
Ganz zu stürmen himmelan,
Daß das Land in Ruh’ sein kann,
Du mein Führer für mich wachst.
Mit elf Jahren wurde ich »F. A.«, d. h. Führerinanwärterin, mit zwölf war ich Schaftsführerin mit »Bestätigung« und rot-weißer Kordel, an der eine Trillerpfeife hing. Beim Appell auf dem Belle-Alliance-Platz (heute Mehringplatz), durfte ich antreten lassen, kontrollierte die Fingernägel und beim Losmarschieren trillerte ich auf meiner Pfeife, dem Statussymbol, den Takt.
Wir sangen:
Vorwärts! Vorwärts! Schmettern die hellen Fanfaren!
Vorwärts! Vorwärts! Jugend kennt keine Gefahren!
Deutschland, du sollst leuchtend steh’n,
mögen wir auch untergeh’n,
Führer, wir gehören Dir, wir Kameraden, dir.
Unsere Fahne flattert uns voran,
In die Zukunft zieh’n wir Mann für Mann.
Wir marschieren für Hitler durch Nacht und durch Not,
Mit der Fahne der Jugend für Freiheit und Brot.
Unsere Fahne ist die neue Zeit,
und die Fahne führt uns in die Ewigkeit,
ja die Fahne ist mehr als der Tod.
Auf den Heimabenden faselte ich vor meinen zehnjährigen untergebenen Jungmädeln sinnloses Zeug über Churchill und den englischen Plutokratismus, angelesen aus kleinen, bunten Broschüren. Aber die Fahrtenspiele waren herrlich! Durch die Wälder schleichen, auf Bäume klettern, rennen, spähen, sich prügeln und einander die »Seelen«, um den Oberarm gebundene Taschentücher, abreißen, das machte Spaß! Einmal hatten wir jedoch Pech. Ich war zwölfjährig gerade dabei, einigen Mädels meiner Schaft bei aufgepflanztem Wimpel, in feierlicher Zeremonie im Tegeler Forst das Fahrtentuch, Symbol der Zugehörigkeit, zu überreichen, als eine Horde von gleichaltrigen Jungen uns, hinter den Bäumen versteckt, mit Knüppeln und Steinen bewarf. Es blieb uns gar nichts anderes übrig, als zerschunden, blutig und geschockt vor den »Kommunisten« zu flüchten, also abzuhauen, so schnell es nur ging. In der S-Bahn hatte ich dann eine heulende, verschmierte Jungmädelschaft um mich, die mit absolut nichts an den heldenhaften Gotenkönig Teja erinnerte. So hießen wir. Schaft Teja, Gruppe Goten, Bann 155.
Das Ereignis wurde so ziemlich totgeschwiegen, aber das Ergebnis war, daß die Eltern keines ihrer Kinder mehr mit mir »auf Fahrt« gehen lassen wollten. Wie oft und wo sich solche und ähnliche Fälle ereigneten, davon hatte ich keine Ahnung. Ich hielt es für einmalig und haderte mit dem Schicksal. Schließlich waren wir doch die »Garanten der Zukunft« – und dann das!
Wenn ich in der darauf folgenden Zeit wieder einmal einen Ausflug, eine »Fahrt«, mit den Jungmädeln machen wollte, mußte ich zu allen Eltern persönlich gehen, um sie dazu zu bringen, ihre Tochter mitzulassen. Einmal sagte eine Mutter zu mir: »Kind, du redest ja wie zehn