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Die wilden Jahre und wir: Pop, Protest und Politik
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Die wilden Jahre und wir: Pop, Protest und Politik
eBook261 Seiten2 Stunden

Die wilden Jahre und wir: Pop, Protest und Politik

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Über dieses E-Book

War das Jahr 1968 eine Zeitenwende?
Frauen hatten kurze Röcke und die Pille, Männer lange Haare, beide hatten Lust auf andere Wohnformen, auf Revolte und Gegenkultur. Zehn ZeitzeugInnen erzählen - oft mit Augenzwinkern und Selbstironie - von ihren biografischen Auf- und Umbrüchen: vom Aufbegehren gegen die Eltern, von politischer Ernsthaftigkeit, Popmusik und freier Liebe - und was davon geblieben ist. Ein facettenreicher Rückblick auf den Alltag in den späten 60er- und frühen 70er-Jahren. Interviews mit zwei Freiburger "68ern" runden das Buch ab: Germanistikprofessor Hans Peter Herrmann und Rechtsanwalt Michael Moos.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Apr. 2020
ISBN9783347033139
Die wilden Jahre und wir: Pop, Protest und Politik

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    Buchvorschau

    Die wilden Jahre und wir - Autorengruppe 68

    Wie dieses Buch entstand

    Es waren immer wieder die Geschichten der 60er- und 70er-Jahre, die besonders großes Interesse fanden. Zu diesem Fazit kam ich nach mehr als zehn Jahren Seminararbeit „Biografisches Schreiben" im Studium Plus an der Pädagogischen Hochschule Freiburg. Das motivierte mich, ein spezielles Seminarkonzept zu kreieren, das diese Epoche in all ihren Facetten widerspiegeln sollte. Eine neue Idee war geboren: das Seminar „Wir 68er schreiben unsere Geschichten. 2018, im Jubiläumsjahr der „68er, setzte ich das Vorhaben mit zehn Schreibbegeisterten um. In drei Semestern reflektierten wir wichtige Ereignisse und Konflikte dieser Jahre und dokumentierten dazu unsere persönlichen Geschichten. Politische Demos, Generationskonflikte, Moralparagrafen, die Beatles, die Hippie-Welle und vieles mehr wurde neu zum Leben erweckt. Um unsere Geschichtensammlung zu erweitern, beschlossen wir, noch zwei in Freiburg bekannte Zeitzeugen mit ins Boot zu nehmen, und interviewten Professor em. Hans Peter Herrmann und Michael Moos, Rechtsanwalt. Mit einem breiten Spektrum an Impressionen der 68er-Jahre in Freiburg runden sie diese Dokumentation ab.

    Zita Schlomske

    Freiheit und Future

    Raus aus der Enge der Elternhäuser,

    weg von brüllenden Vätern und lautem Schweigen!

    Dort sein, wo Reden berauscht.

    Wer braucht schon Wein?

    Und darf der Rock noch etwas kürzer sein?

    Politik ist wichtig, die Welt soll sich ändern.

    Frei sein beim Sex, beim Denken, beim Reden,

    weg mit Talaren und Muff von 1000 Jahren!

    Und was bleibt – jetzt nach 50 Jahren?

    Politik bleibt wichtig, doch wer ändert die Welt?

    Sie zu erhalten, das reicht schon.

    Und der Rock darf lang sein,

    denn jetzt sind Falten am Bein.

    Sabine Kehrer

    Zeitsprünge

    Und immer wieder

    sind es die alten Lieder …

    Haben die sogenannten 68er Deutschland verändert? Was ist geblieben aus dieser Zeit vor 50 Jahren? Wie hat es uns persönlich verändert?

    "Those were the days, my friend,

    We thought they'd never end,

    We'd sing and dance forever and a day.

    We'd live the life we choose, we'd fight and never lose

    For we were young and sure to have our way."

    Mary Hopkin

    Sehnsucht, Trauer, Hoffnung, Kampf, Visionen – das alles schwingt mit in Mary Hopkins Liedzeilen von 1968. Der Sommer 68 ist vorbei, schon lange vorbei. In diesem Jahr, da ich diese Zeilen schreibe, sind es genau 50 Jahre, ein halbes Jahrhundert. Was bleibt von damals? Auf jeden Fall die Musik.

    Es bleibt auch die Erinnerung an die Ermordung von Martin Luther King in diesem bedeutenden Jahr, an das Attentat auf Rudi Dutschke, an wilde Straßenszenen bei Demonstrationen in Berlin, Köln, Paris, Chicago.

    Auch dabei spielt die Musik eine wichtige Rolle. „You are old enough to kill but not for votin’", singt Barry McGuire in seinem Song Eve of Destruction gegen den Vietnamkrieg und andere Kriege. We shall overcome some day … singt Joan Baez, eine der wichtigsten Ikonen der Protestbewegung. Und Bob Dylans Song Blowin‘ in the Wind kann noch heute jeder mitsingen, auch 50 Jahre nach 68 ist seine Frage aktuell: „How many ears must one person have, before he can hear people cry?"

    Damals kennt jeder junge Mensch diese Lieder. Auch ich, 16 Jahre alt, habe sie im Kopf. Und mit der Musik ein Gefühl von Aufwachen, von Freiheit, von einem Leben, das nicht eingezwängt ist in Schule, Elternhaus, Kirche, Regeln.

    „Hey Mister Tambourine Man, play a song for me, in the jingle jangle morning I’ll come following you …" So gerne möchte ich ihm folgen, dem Tambourine Man, und endlich alles das selbst erleben, was bisher nur in Büchern zu finden ist.

    Ich fühle mich nicht als „richtige 68erin. Die sind älter, studieren schon, blockieren Straßen durch „Sitins, wie ich es neulich selbst in Köln erlebt habe. Vom Straßenrand aus natürlich. Ich wusste erst nicht, worum es ging, und das wurde auch nicht viel besser, als mir ein junger Mann ein Flugblatt in die Hand drückte. Was war der Zusammenhang von Antiimperialismus und Notstandsgesetzen, von Straßenbahnpreiserhöhungen und Vietnamkrieg?

    Dann sehe ich mich bei einer anderen Fahrt nach Köln im August 68. Ich lerne einen jungen Studenten aus Prag kennen. Wir steigen zufällig zusammen auf den Turm des Kölner Doms. 533 Stufen, das weiß ich noch, und dass er Thomas hieß. Er erzählt dort oben mit dem Blick auf die Stadt vom „Prager Frühling", dass er selbst dabei war bei einer Demo in vorderster Reihe und dadurch in Deutschland beim Nachrichtenmagazin Stern auf dem Titelbild gelandet ist. Stolz ist er darauf und auf sein Land, das mehr Freiheiten will. Er will in Deutschland und in Amsterdam den Sommer verbringen und dann zurück nach Prag gehen.

    Was wohl aus ihm geworden ist? Ich wüsste es zu gerne, weil jetzt andere Bilder im Fernsehen zu sehen sind. Russische Panzer in Prag, die aus dem „Prager Frühling" einen traurigen Spätsommer machen. Wir haben damals hoch oben auf der Turmspitze keinen Adressen getauscht, auch keine Küsse, nur einen wunderschönen Nachmittag verbracht, mit Träumen von Reisen und Freiheit. Das Leben hatte noch nicht richtig angefangen damals im September 1968, es bestand noch aus Wünschen und Träumen.

    Zehn Jahre später

    Was 68 begann, ist wie ein Samenkorn aufgegangen. Manches üppig und wuchernd, manches verwelkte schnell und manches blüht weiter unverdrossen. Mein Leben hat sich auch entfaltet, schon lange wohne ich nicht mehr zu Hause, studiere weit weg von der Heimatstadt. Für Träume gibt es jetzt, im Herbst 1978, keine Zeit mehr. Es passiert viel zu viel um mich herum. Und wenn gerade mal nichts wirklich passiert, wird zumindest endlos diskutiert. Die Thesen der 68er-Generation haben auch mich und meine Wohngemeinschaft erreicht. Wird es eine Revolution geben? Sind Zweierbeziehungen, so nennen wir das damals, noch zeitgemäß? Ehe und Familie, da ist man sich einig, sind es zumindest nicht. Traditionelles Wohnen natürlich auch nicht, alle Freunde wohnen in Wohngemeinschaften – in „WGs". Auch Abkürzungen sind zeitgemäß.

    Diskutiert wird nicht, ob man in WGs wohnt, sondern wie. Hängt man die Klotüren aus? Sind Spülpläne spießig? Muss man seine Habe, sogar sein Bett, verkaufen, um die neue Parteizentrale des KBW mitzufinanzieren? (KBW = Kommunistischer Bund Westdeutschland, damals noch eine Partei mit etwa zweieinhalbtausend Mitgliedern, unter anderen Winfried Kretschmann)

    Der sogenannte „Deutsche Herbst" ist erst ein Jahr vorbei. Noch jetzt glauben viele um mich herum, dass der deutsche Staat am Tod von Gudrun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe am 18.10.77 beteiligt war. Hatte nicht Franz Josef Strauß nach der Schleyer-Entführung öffentlich die Idee geäußert, für jede getötete RAF-Geisel einen RAF-Häftling zu erschießen? (RAF = Rote Armee Fraktion)

    Und es wird in der WG abends viel diskutiert über die „klammheimliche Freude, die der anonyme Autor „Mescalero bei der Erschießung Hanns Martin Schleyers empfunden hat. Ein Grund für ihn ist das Schweigen aller Medien über die NS-Vergangenheit des Arbeitgeberpräsidenten Schleyer, der als SS-Mitglied hohe Positionen innehatte. Wie lange geht jetzt schon der Kampf gegen die alten Nazi-Seilschaften in Politik und Wirtschaft? Das Jahr 68 ist lange vorbei, aber die Wut ist manchmal noch da. Ich sehe die Tränen meiner Mitbewohnerin Anna, als wir zusammen die Trauerfeier für Schleyer im Fernsehen anschauen. Tränen der Hilflosigkeit. Immerhin wissen wir alle seit der Ohrfeige von Beate Klarsfeld 1968, dass der ehemalige Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger in der Nazi-Zeit ein hochrangiges NSDAP-Mitglied war. Und ein anderes NSDAP-Mitglied, Hans Filbinger, Ministerpräsident von Baden-Württemberg, muss erst jetzt – 1978 – endlich zurücktreten.

    Die Emotionen sind hoch in diesen Jahren. Und vieles ist im Wandel. Mir gefällt der Aufruf zum großen TUNIX-Kongress in Berlin:

    „Uns langt’s jetzt hier! Der Winter ist uns zu trist, der Frühling zu verseucht, und im Sommer ersticken wir hier. Uns stinkt schon lange der Mief aus den Amtsstuben, den Reaktoren und Fabriken, von den Stadtautobahnen. Die Maulkörbe schmecken uns nicht mehr und auch nicht mehr die plastikverschnürte Wurst. Das Bier ist uns zu schal und auch die spießige Moral. Wir wollen nicht mehr immer dieselbe Arbeit tun, immer die gleichen Gesichter zieh’n. Sie haben uns genug kommandiert, die Gedanken kontrolliert, die Ideen, die Wohnung, die Pässe, die Fresse poliert. Wir lassen uns nicht mehr einmachen und kleinmachen und gleichmachen. Wir hauen alle ab! Zum Strand von TUNIX!" (Stefan König)

    Eine Freundin fährt hin und kommt Ende Januar 1978 begeistert und übernächtigt zurück. „Wir waren mindestens 5000 dort, und alle denken so wie wir!, berichtet sie mir atemlos. „Es ging um alles, was uns wichtig ist. Um Gleichberechtigung für uns Frauen, um das Recht, schwul zu sein, um alternative Energiegewinnung und Läden mit Bionahrungsmitteln, um Anwalts- und Ärztekollektive, um neue Rad- und Buchläden. Schade, dass du nicht dabei warst! Eine linke Tageszeitung soll gegründet werden und sogar eine Partei, die die Vernichtung der Umwelt verhindern soll. Sie klingt euphorisch.

    Die linke Tageszeitung TAZ erscheint tatsächlich, zum ersten Mal am 17. April 1979. Das Kollektiv der Herausgeber ist typisch für diese Zeit. Fast niemand hat Erfahrung mit journalistischer Arbeit. Man will spontan sein – „Sponti" ist ein Zauberwort dieser Jahre. Es gibt einen Einheitslohn von 650 DM (circa 325 Euro), der aber nur an einige wenige Redakteure ausgezahlt werden kann, und auch das nicht regelmäßig. Aber es hat funktioniert. Meine WG hat die TAZ natürlich gleich abonniert. Und sie gibt es 40 Jahre später immer noch. Die TAZ – die WG leider nicht.

    Auch andere Lektüre wird wichtig gegen Ende der 70er-Jahre. Ich lese immer mehr Bücher von Frauen und über Frauen. Lange waren es eher die Männer, die in den WGs und bei politischen Diskussionen das große Wort führten. Ich hasste es, traute mich aber auch lange nicht, anders zu sein als viele Mitstudentinnen. Sie strickten vor sich hin, auch bei Vorlesungen und in politischen Versammlungen, schwiegen und hörten zu. Jetzt lesen wir das Frauenbuch Häutungen von Verena Stefan und häuten uns ein bisschen. „Nie mehr nur Sexualobjekt sein ist ein vertrauter Slogan. Anja Meulenbelts „Kultbuch der neuen Frauenbewegung lese ich mit Begeisterung. Schon der Titel Die Scham ist vorbei gefällt mir, genauso wie der Satz auf der ersten Seite: „Eine Frau ohne Mann ist wie ein Fisch ohne Fahrrad. Wir gehen jetzt zu Versammlungen, wo sich nur Frauen treffen. „Wenn Gleichberechtigung heißt, dass wir die Männer nachahmen, habe ich keine Lust darauf, sagt meine Nachbarin mit ruhiger Stimme. „Die meisten Männer sind doch emotional ärmer als wir, was soll ich da nachahmen? Sie wollen, dass wir sexuell frei verfügbar sind, das ist noch lange keine Freiheit und Gleichberechtigung."

    Ich denke an meine Mutter, die als Chemikerin nicht arbeiten gehen durfte, weil mein Vater das nicht wollte. Das Gesetz gab ihm das Recht dazu. Eine Scheidung kam erst gar nicht in Frage. Bis 1977 gab es kein Geld für den Unterhalt einer Frau, die ohne Schuld die Scheidung einreichte – „Schuld", das war meist die Untreue des Mannes.

    „Wir müssen zusammenhalten, wenn wir etwas ändern wollen", ruft eine Frau in die Runde. Stimmt! Frauensolidarität wird großgeschrieben. Etwas ernüchternd ist für mich kurz darauf die Feststellung, dass eine der Wortführerinnen der Gruppe mit dem Freund meiner besten Freundin ins Bett geht. So viel zum Thema Solidarität.

    Für einige von uns ist bald die Phase vorbei, in der man endlos diskutiert, ob eine monogame Zweierbeziehung überhaupt möglich ist. Kinder sind gekommen und man merkt, dass es leichter ist, sie zu zweit großzuziehen als alleine oder in einer WG. Heiraten wollen die wenigsten, höchstens einige Lehrerinnen aus meinem Freundeskreis – die tun es aus Angst, aufs Land versetzt zu werden.

    Politik ist weiter wichtig, unverdrossen gehen wir mit der WG auf Demonstrationen, mal zusammen mit 100 000 Teilnehmern in Bonn gegen Atomkraft oder für den Weltfrieden, mal mit nur 1000 Teilnehmern in Freiburg gegen die Räumung von besetzten Häusern und gegen die unsoziale Wohnungspolitik der Stadt. So gehen die 70er-Jahre turbulent zu Ende.

    Heute, mehr als 50 Jahre nach 1968, …

    … sind einige Themen immer noch so aktuell wie damals. Noch immer werden Atomkraftwerke neu gebaut und alte bedrohen unsere Welt mit ihren Rissen und Ermüdungserscheinungen. Noch immer ist der Weltfrieden bedroht, noch immer ist der Profit einiger Autokonzerne und Chemiefirmen bedeutender als der Erhalt von sauberer Luft und von Regenwäldern. Aus der Warnung vor der Erderwärmung ist eine Tatsache geworden. Der Mangel an bezahlbaren Wohnungen ist ein Dauerthema, die Bezahlung von Frauen ist noch immer schlechter als diejenige von Männern mit gleicher Arbeit. Aber in Deutschland ist eine Frau Kanzlerin. Immerhin.

    Die Zeit von 68 und danach hat viel verändert. Der Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung fegte mehr weg, als man sich zu Beginn vorstellen konnte. Zusammenleben, Gesellschaft, Kunst, Musik – in vielen Bereichen spüre ich den Geist der 68er-Zeit:

    War an den Universitäten von 1968 nur rund ein Viertel der Studierenden weiblich,

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