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Tanz der Lemminge: AMON DÜÜL und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre
Tanz der Lemminge: AMON DÜÜL und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre
Tanz der Lemminge: AMON DÜÜL und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre
eBook361 Seiten4 Stunden

Tanz der Lemminge: AMON DÜÜL und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre

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Über dieses E-Book

"Tanz der Lemminge" erzählt, wie es rebellisch begann und in Anpassung an Industrie und Marktgesetze endete. "Tanz der Lemminge" erzählt von den ersten Lightshows und Auslandsreisen, den ersten Festivals, Plattenverträgen und Deutschrock-Labels. Amon Düül waren über Jahre immer eine der wichtigsten und stilprägendsten deutschen Gruppen, und mit ihrer Geschichte erzählt Ingeborg Schober zugleich ein wichtiges Stück deutscher Rockmusikgeschichte. In Interviews und Gesprächen werden Versäumnisse und Schwierigkeiten deutlich, Rockmusik in Deutschland zu machen, zu verkaufen und davon zu leben.
"Wenn Amon Düül begriffen hätten, was sie eigentlich konnten, nämlich diese Form von teutonischer Rockmusik mit ungeheurem Pathos, die sie eigentümlicherweise mit der Psychedelic-Musik zusammenbrachten, hätten sie es schaffen können. Aber die Düüls waren halt ein ausgeflippter Haufen. Dabei wären sie geradezu prädestiniert gewesen, das Deutschlandbild im Ausland zu verkörpern: Vergangenheit, Kant, Wagner, germanische Roots, tiefe Denker und 30er Jahre Berlin."
Was Bern Brummbär in einem Gespräch bilanzierte, hatte 1967 mit Hoffnung und Aufbegehren begonnen. Aus der Drogenmusik der Grateful Dead und Jefferson Airplane und der Rebellion der Studenten in Berlin, Prag und Paris machten Amon Düül eine Musik, die neu und einzigartig war. Wie sonst nie wieder in der deutschen Rockmusik verschmolzen hier Lebensgefühl, politische Ziele und elektrisch verstärkte Musik. Was in der Münchner Szene Ende der 60er-Jahre begann, war die eigentliche Geburt einer eigenständigen und selbstbewussten deutschen Rockmusik.
SpracheDeutsch
HerausgeberFuego
Erscheinungsdatum1. Aug. 2014
ISBN9783862870882
Tanz der Lemminge: AMON DÜÜL und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre

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    Buchvorschau

    Tanz der Lemminge - Ingeborg Schober

    Coverbild

    Ingeborg Schober

    TANZ DER LEMMINGE

    AMON DÜÜL

    und die Anfänge deutscher Rockmusik in der Protestbewegung der 60er- und 70er-Jahre

    – FUEGO –

    – Über dieses Buch –

    »Tanz der Lemminge« erzählt, wie es rebellisch begann und in Anpassung an Industrie und Marktgesetze endete. »Tanz der Lemminge« erzählt von den ersten Lightshows und Auslandsreisen, den ersten Festivals, Plattenverträgen und Deutschrock-Labels. Amon Düül waren über Jahre immer eine der wichtigsten und stilprägendsten deutschen Gruppen, und mit ihrer Geschichte erzählt Ingeborg Schober zugleich ein wichtiges Stück deutscher Rockmusikgeschichte. In Interviews und Gesprächen werden Versäumnisse und Schwierigkeiten deutlich, Rockmusik in Deutschland zu machen, zu verkaufen und davon zu leben.

    »Wenn Amon Düül begriffen hätten, was sie eigentlich konnten, nämlich diese Form von teutonischer Rockmusik mit ungeheurem Pathos, die sie eigentümlicherweise mit der Psychedelic-Musik zusammenbrachten, hätten sie es schaffen können. Aber die Düüls waren halt ein ausgeflippter Haufen. Dabei wären sie geradezu prädestiniert gewesen, das Deutschlandbild im Ausland zu verkörpern: Vergangenheit, Kant, Wagner, germanische Roots, tiefe Denker und 30er Jahre Berlin.«

    Was Bern Brummbär in einem Gespräch bilanzierte, hatte 1967 mit Hoffnung und Aufbegehren begonnen. Aus der Drogenmusik der Grateful Dead und Jefferson Airplane und der Rebellion der Studenten in Berlin, Prag und Paris machten Amon Düül eine Musik, die neu und einzigartig war. Wie sonst nie wieder in der deutschen Rockmusik verschmolzen hier Lebensgefühl, politische Ziele und elektrisch verstärkte Musik. Was in der Münchner Szene Ende der 60er-Jahre begann, war die eigentliche Geburt einer eigenständigen und selbstbewussten deutschen Rockmusik.

    VORWORT

    Als dieses Buch 1979 erschien, richteten musikalische Drei-Akkord-Wunder ihre Sex Pistols und No-Future-Parolen gegen die eingeschlafene, satt und bequem gewordene, bieder-langweilige Musikszene. Generationsablöse und unversöhnliche Konfrontation zwischen zerschlissenem Love and Peace und aggressivem Hate and War. Trotz eines gleichzeitig leisen (und leicht verkaterten) 60er-Revival inklusive nostalgischer Rückblicke und Zehn-Jahres-Jubiläen nicht gerade der günstigste Zeitpunkt, ein Buch über die chaotisch-bonbonbunte Flower-Power-Zeit, Underground, Protest und Happening, Anti-Establishment, politische (bereits gescheiterte) Utopien und die Anfänge einer eigenständigen deutschen Rockmusik zu veröffentlichen. Schließlich sangen hierzulande die Fehlfarben 1980: »Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran«, aber auch »die Schatten der Vergangenheit: wo ich hingeh, sind sie nicht weit ... die Gegenwart ist auch nicht berauschend ... ich weiß immer noch nicht, wer ich bin.« Vielleicht haben sich deshalb erstaunlich viele in diesem Buch wiedererkannt. Und das hörte auch nicht auf, als sich das Karussell der neuen Moden und Trends immer schneller drehte und sich die musikalische Raubritter-Jugend hemmungslos der »verpönten« 60er- und 70er-Kultur bemächtigte. Entsprechend häuften sich Anfragen nach dem »sagenhaften Kultbuch«, und die Interessenten wurden immer jünger. Auf manchem Flohmarkt sollen vergilbte Exemplare des kleinen Taschenbuches für bis zu 75 Euro gehandelt worden sein.

    Grund genug, Tanz der Lemminge neu aufzulegen. Aber nicht der Einzige. Ein anderer ist das generell gestörte Verhältnis zur Vergangenheit und Geschichte hierzulande — vielleicht deshalb, weil Vergangenheit bei uns (schon wieder) automatisch mit Vergangenheitsbewältigung gleichgesetzt wird. Offensichtlich haben wir dadurch auch die Fähigkeit zur kulturellen Kontinuität verloren. Wir kappen alle naselang unsere Vergangenheit und damit auch die Wurzeln unserer (Sub-)Kultur. Nur so kann ich mir erklären, dass man meiner — also der sogenannten »68er« — Generation weder ihre Irrtümer (= Jugendsünden) verzeiht, noch, dass auch sie älter wurde — und dabei nicht unbedingt klüger. Aber es war nun mal eine so intensive und innovative Zeit, dass ich persönlich manchmal das Gefühl habe, dass ich (und vielleicht viele andere auch) mein restliches Leben brauche, um mich davon zu erholen — auch von den Enttäuschungen, dem eigenen Versagen.

    Derzeit schlägt also der Zeitgeist-Pegel plötzlich wieder retour und die Spät-60er und Früh-70er boomen mit Schlaghosen, Plateausohlen, Fransenjacken, Häkelhemdchen, Batikdruck, Lightshows, Trance-Dances, Sitzlandschaften, Exotika, Post-Psychedelic-Videos und anderem Firlefanz, San-Francisco-Underground-Raritäten werden auf CDs neu veröffentlicht, 60er-Dinos wie die Doors, Jimi Hendrix, die Mothers Of Invention, Cream oder Grateful Dead sind wieder »in«. Und Amon Düül II treten wieder live auf — auf Festivals. Ach ja, Festivals. Diesen Sommer wurden sie pressemäßig ausschließlich mit Woodstock verglichen. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Zumal dieses Revival wohl eher nur aus oberflächlicher, retrospektiver Verpackung besteht. Dabei verblassen die wichtigen Ereignisse und Namen, vor allem aber werden die Zusammenhänge verfälscht. Schließlich kann man sich heute jedes beliebige Image kaufen — vom Freizeit-Hippie mit Peace-Zeichen und Psychedelic-Brevier bis zum Wochenend-Hell's-Angel samt Harley Davidson und Cowboy-Klub-Mitgliedschaft. Doch der Bewusstseinszustand, die öffentliche Meinung und die sozial-politische Lage ist fast schon wieder beim miefig-muffigen Kleinbürgergeist der 50er-Jahre gelandet — siehe Paragraf 218, siehe Sicherheitsdenken, siehe ausschließlich ökonomisch orientiertes Denken. Selbst dem bunten Zeitgeist fehlt es am Spielerischen, Bunten, Experimentellen. Wie singt der alterslose und distinguierte Rock-Lyriker Leonard Cohen mit überzeugender Vehemenz so richtig: »Things are going to slide in all directions, won’t be nothing, nothing, you can measure anymore ...« Zeit, sich dieser Dekade endlich frei von Medien-Mythen, Zeitzeugen-Legenden und nostalgisch-romantischem Veteranengeschwätz zu nähern.

    Folglich braucht dieses Buch keine Verjüngungskur, es ist mit der Zeit gewachsen und wichtiger geworden. Damit waren alle Überlegungen und Diskussionen vom Tisch, ob ich es auf den neuesten Stand der Dinge bringen sollte, also bis zum heutigen Tag zu aktualisieren, vor allem, was die Band-Geschichte der Amon Düül anbelangt. Das Amon Düül-Buch war vor fünfzehn Jahren ein naiver Versuch, die Zeit festzuhalten. Und er ist merkwürdigerweise gelungen. Diese Naivität lässt sich nachträglich nicht mehr herstellen. Schon deshalb ist dieses Buch für mich persönlich sehr wichtig. Alles, was ich heute über die Düüls und die Zeit und mich schreiben würde, würde viel zu abstrakt ausfallen.

    Wir haben uns also für einen Reprint entschlossen, um das Zeitdokument — mit einigen Veränderungen — so zu belassen, dass es für sich selbst spricht. Und zwar mit allen widersprüchlichen Daten, Fakten und Aussagen, weil jede neue Interpretation von einer anderen Seite nur meine damalige Erkenntnis, dass einige Legenden immer weiter bestehen werden bestätigt: »Selbst mir ist es trotz jahrelangem Kontakt zu den Musikern nicht gelungen, all die Unstimmigkeiten zu entwirren.« Doch Tanz der Lemminge hat einen neuen Untertitel, weil ich schon damals mit »Amon Düül — eine Musikkommune in der Protestbewegung der 60er-Jahre« nicht einverstanden war. Schlichtweg deshalb, weil er nicht stimmte. Das Buch beginnt 1967 und endet 1978. Vieles, was angeblich die 60er-Jahre prägte, begann oder geschah eigentlich erst in den 70ern. Noch so ein historisch inzwischen festgemachter Irrtum. Außerdem mussten wir etliche Songtexte aus rechtlichen Gründen kippen oder verkürzen. Aktualisiert habe ich im »Epilog« die heutigen Berufe der wichtigsten Hauptdarsteller und selbstverständlich die Diskografie. Gekürzt habe ich die Aussagen diverser öffentlicher Personen aus der deutschen Musikszene in »Die Zukunft ist heute.« Im »Epilog« erfährt der Leser, wie dieses Buch damals zustande gekommen ist und kann sich danach vorstellen, welche Probleme eine Aktualisierung aufgeworfen hätte.

    Was nach den 70er-Jahren passierte, und damit meine ich nicht nur Amon Düül, sondern die neuere (musikalische) Geschichte Deutschlands, lege ich den jungen Schreibern ans Herz, falls sie für so was noch Muße, Zeit und Interesse haben. Weil Stillstand Rückschritt ist, wie Farin Urlaub von den Ärzten meint. Weil der Tanz der Lemminge in der Jugendszene nie aufhört — und eine/r ihn immer begleiten sollte. Weil es immer wieder Musiker gibt, die das Lebensgefühl ihrer Generation auf einen Nenner bringen, wie Element Of Crime 1993 mit »Immer unter Strom«:

    »Wer sich bewegt, ist nicht zu fassen, ...

    Wo wir war'n, war immer alles fade

    wo wir hinfahr'n wird es wunderbar ...

    Immer unter Strom

    Immer unterwegs und niemals zu spät.«

    Was hoffentlich auch auf dieses Buch zutrifft.

    Ingeborg Schober

    München, im November 1993

    For what it’s worth?

    »There’s something happening here

    what it is ain't exactly clear

    there’s a man with a gun over there

    tellin me I’ve got to be aware

    I think it’s time we stop ...

    There’s battlelines being drawn

    nobody’s right if everybody’s wrong

    young people speakin their minds

    getting so much resistance from behind

    I think it’s time we stop …

    What a field day for the heat

    a thousand people in the street

    singing songs and a-carring signs

    mostly say hooray for our side

    it’s time we stop …

    Paranoia strikes deep

    into your life it will creep

    it starts when you are always afraid

    step out of line

    the men will come and take you away

    you better stop …«

    Stephen Stills, 1967

    In diesem Lied beschrieb Stephen Stills mit seiner Band Buffalo Springfield eine Straßenschlacht zwischen Hippies, der Polizei und den Bürgern in Hollywood 1967. Das Lied wurde zur Demonstrations-Hymne der Hippies, die noch an eine Veränderung der Welt durch Liebe glaubten. »Make love not war«. Für sie war Revolution noch ein Spiel, an dem jeder teilhaben konnte. Spiel und Spaß war es anfangs auch für die Studenten, nicht nur in Kalifornien. Als Jerry Rubin 1970 in seinem Buch Do It! die Leute aufforderte: »Jeder schreibe seinen eigenen Slogan, jeder protestiere gegen das, was ihn persönlich stört«, war das nur noch ein Fazit dessen, was längst passiert war — persönliche Anarchie bis zur Selbstzerstörung.

    KAPITEL 1

    1967

    Flower Power & Apo

    Aufforderung zum Tanz

    Dieses Buch beginnt in München, wo es auch endet. Es berichtet von Musikern, Lebenskünstlern, Genossen, Freunden (und auch mir), die viel gewinnen wollten und dadurch manches verloren haben. Der Einsatz war entsprechend hoch, das Leben meist gefährlicher, als wir wahrhaben wollten.

    Wir schreiben das Jahr 1967, die Beatles und fünf Jahre Popmusik, Protestmärsche der Atomwaffengegner und Antivietnamdemonstranten und die Gründung der APO liegen schon hinter uns, als Europas Jugend Kenntnis vom »Sommer der Liebe«, 1966, an der Westküste Amerikas erhält. »If you go to San Francisco, wear some flowers in your hair.« Die Botschaft wurde schnell zum Werbeslogan, um Ketten, Glöckchen, Ringe, Räucherstäbchen und indischen Firlefanz zu verkaufen. Wir empfanden uns als Teil der internationalen Studenten-, Jugend- und Musikbewegung, suchten aber gleichzeitig nach einem eigenen Sprachrohr. Überall saßen die Leute in den Startlöchern, warteten auf das entscheidende Signal. Es herrschte nur die trügerische Ruhe vor dem Sturm.

    Nach Vorbild des Films nannte sich in München die Viva-Maria-Gruppe um Kunzelmann, Langhans, Teufel und Dutschke. Sie war Keimzelle der Kommune I, am 1. Januar 1967 in Berlin gegründet.

    In San Francisco fanden sich 20.000 Gleichgesinnte zum ersten Free Concert »Gathering of the Trips« im Golden Gate Park zusammen. Schwere Studentenunruhen erlebte nicht nur Barcelona. Schwere Zusammenstöße zwischen Polizei und Hippies führten bei einem Peace-In in Los Angeles zu zahlreichen Verletzten, und Flugblätter mit der Frage »Wann brennen die Berliner Kaufhäuser?«, die nach dem Kaufhausbrand im Brüsseler A L'Innovation in Berlin auftauchten, lösten nationale Empörung aus. Günter Grass trug bei einem Protestmarsch gegen die polizeiliche Stürmung des Berliner SDS-Büros ein Plakat »Tausche Grundgesetz gegen die Bibel!« Und in München demonstrierten Studenten gegen die geplanten Tariferhöhungen der öffentlichen Verkehrsmittel. Beim Berliner Ostermarsch kam es erstmals zu Ausschreitungen gegen das Springer-Haus, kurz darauf wurden elf Kommunarden nach einem »Puddingattentat« auf US-Vizepräsident Hubert Humphrey verhaftet. So standen die Dinge, als am 2. Juni ein Ereignis die Idee von der friedlichen Veränderung der Welt, einer Politisierung mit Spaß und Happening, infrage stellte. Der Student Benno Ohnesorg war während einer Demonstration gegen den Schah von Persien das Opfer einer Polizeikugel geworden. Für viele war das die Initialzündung, manch einer hat seinen Glauben an die demokratische Bundesrepublik verloren, für viele wurde er zumindest angeknackst, andere, bis dahin eher gleichgültig, abwartend und distanziert, wurden durch diesen Schock emotional politisiert.

    Für die späteren Mitglieder der Amon Düül und viele, die in diesem Buch vorkommen, begann der Tanz der Lemminge erst jetzt.

    Die Medien erwachen

    Als Buchhändlerlehrling im Szczesny-Verlag, München, lernte ich die Autoren Bertrand Russell, A. S. Neill, die Autoren der Club Voltaire-Reihe und ihre Bücher kennen, war als Mitglied der Humanistischen Union dementsprechend human-liberal orientiert. Mit 180 DM Lehrlingsgehalt wohnte ich in einem Jugendheim der Arbeiterwohlfahrt Rädda Barnen, kurz Schwedenheim genannt, in einem 1 ½ mal 2 Meter großen Zimmer bei 189 DM Miete. Die meisten der ca. 200 Heimbewohner waren, wie ich, Wohlfahrtsfälle in einem Wirtschaftswunderland. Wir fühlten uns von der Wohlstandsgesellschaft betrogen, und das verband uns – Lehrlinge, Schüler und Studenten. Und dann war da noch die Popmusik!

    Auch wenn wir die Texte der Rolling Stones, Beatles, der Animals und Kinks nicht richtig verstanden, wir wussten, um was es ging. Es ging um uns, um unsere Probleme. Es war unsere Sprache, unsere Musik. Da begannen meine intellektuellen Freunde gerade diese Musik für sich zu entdecken. Dabei geholfen hat ihnen sicher der rührige und wohlinformierte Uwe Nettelbeck — freier Journalist, Autor und Produzent der Gruppe Faust — mit seinen Textinterpretationen und Musikanalysen, mit denen er nicht nur die Musik der Beatles auf das Niveau der »Neuen Modernen« hob. So war in Aspekte im November folgendes in einem Artikel über »Pot Music« zu lesen: »Dann kam Revolver. In ›Tomorrow Never Knows‹, dem letzten Titel des Albums, zitierten John Lennon und Paul McCartney eine Zeile aus The Psychedelic Experience, einer Art Michelin für LSD-Trips, den die Havard-Drop-outs Timothy Leary, Ralph Metzner und Richard Alpert im August 1964 in New York veröffentlicht hatten: ›Turn off your mind, relax and float downstream ...‹ Das war das Signal.«

    Die bis dato als trivial und proletarisch verpönte Popmusik wurde in einem elitären Kreis schick und gesellschaftsfähig. Auch die konservativen Medien stellten sich allmählich auf die neuen Bedürfnisse ein. Am 5. Juni 1967 startete der Bayerische Rundfunk nach etlichen Vorlaufsendungen die erste Jugendmusiksendung, den täglichen Club 16. Georg Kostya, Discjockey der ersten Stunde, erinnert sich:

    »Mit ›Espresso um Vier‹ hat es im April ’65 begonnen. Da gab’s noch gar nichts, weder eine Musiksendung, noch Plattenbesprechungen. Gespielt wurden in jeder Sendung natürlich die Beatles, dann Musik von Elvis Presley, Tom Jones, Sandie Shaw, Petula Clark, Bill Haley, den Rolling Stones, Searchers und dazwischen Dean Martin. Man kann sehen, dass es so beatig nicht gewesen ist, da war’s noch sehr, sehr schütter. Wir haben uns am AFN orientiert, alles sehr schnell, mit viel Dampf und Gags. Da alles noch vom Band gespielt wurde, mussten wir manchmal wochenlang warten, bis eine Platte auf Band umgeschnitten war und gespielt werden konnte. Dann kam im Jahr 1966 der Industrieboykott, wo sich der BR weigerte, mehr an die Plattenfirmen zu bezahlen. In der Zeit fuhren wir platten-los, holten deutsche und englische Bands ins Studio, veranstalteten einen Beatwettbewerb für bayerische Bands, den die Improved Sound Limited, heute Condor, gewannen.

    Als dann auch noch der österreichische Rocksender Ö3 angekündigt wurde, war’s klar. So konnte es nicht weitergehen. Entweder man verliert die Hörer oder man macht selbst etwas. Der damalige Leiter des Jugendfunks, Reinhard W. Schmidt, fuhr mit seinem Redakteur Rüdiger Stolze zu Radio Luxemburg, um darüber eine kritische Sendung zu machen. Aber sie waren von der Lebendigkeit und Spontaneität, die dort herrschte, so beeindruckt, dass es eine positive Sendung wurde. Daraufhin wurde für den BR die erste Discjockey-Anlage konzipiert. Die erste Sendung lief am Montag, wo Werner Götze nur Sergeant Pepper spielte.«

    Auch ich hörte Club 16 — der 1978 in die Nachfolgesendung Zündfunk-Club integriert wurde —, ohne zu ahnen, dass ich sieben Jahre später selbst dort als Discjockey hinterm Mikrofon sitzen würde, mehr aber noch Radio Luxemburg, denn an die neuesten Informationen und Platten war schwer ranzukommen. Zwar hatte ein gewisser Rainer Blome Anfang des Jahres eine neue Musikzeitschrift gestartet, Sounds, aber davon wußte ich nichts. Die deutsche Musikjournaille beschränkte sich nach wie vor auf Bravo. Am ehesten fand man noch in Konkret seine eigene Stimmung widergespiegelt. »Swinging London«, was steckte wirklich dahinter? Ich wollte es genau wissen, an Ort und Stelle erleben. Dazu fehlte erst mal das Geld. Durch meinen Bruder, freier Mitarbeiter der Zeitschrift Filmkritik, erfuhr ich von einem Drehbuchwettbewerb des Literarischen Kolloquiums, Berlin. Ich reichte ein Exposé für einen Kurzfilm ein und wurde Anfang Juli überraschend zu einem Arbeitsgespräch nach Berlin eingeladen.

    In der vornehmen Villa am Wannsee lernte ich Uwe Brandner, Roland Klick und George Moorse kennen, fühlte mich aber unter den literarisch-cineastisch Älteren als Außenseiter. Dafür erlebte ich in Berlin die fieberhafte Aktivität der Jungen, die ganz anders als in München zwischen Pop und Politik eine eigene Lebensweise ausprobierten.

    Etwa zur gleichen Zeit feierten die Popmusik-Fans ihr erstes großes Festival, das Monterey International Pop Festival, bei dem u. a. Janis Joplin & The Big Brother, Jefferson Airplane, Steve Miller Band, Country Joe & The Fish, Quicksilver Messenger Service, Jimi Hendrix, The Who, Mamas & Papas, Otis Redding, The Butterfield Blues Band und The Electric Flag auftraten.

    In New York hatten sich 4.000 Provos im Tomkins Square Park zu einem Smoke-In getroffen und vor den Augen der Polizei drei Kilo Marihuana verraucht, die Beatles hatten in einer weltweiten Live-Fernsehübertragung »All You Need Is Love« gesungen, von den Doors erschien die erste Single »Light My Fire«.

    Begeistert kam ich zurück, mit einem Stipendium in der Tasche, um das Drehbuch zu schreiben.

    Dies Geld sollte das Grundkapital für alles werden, was ich ab da machte. Die erste Schreibmaschine wurde davon finanziert und versetzte mich in einen Schreibrausch, durch den ich mich immer mehr von der lethargischen Heimgemeinschaft absonderte. Und mit dem Rest kaufte ich ein Flugticket nach London, das mir ein befreundeter Jurastudent über Studenten-Reisen billig besorgte. Er war es auch, der mir das minimal nötige Reisegeld lieh. Und auf seinen Namen flog ich am 14. August in einer Chartermaschine nach London. Es war der Start in ein neues, turbulentes, unbekanntes Leben.

    London - es muss noch viel bunter werden!

    London war wie eine 3-D-Vision all meiner Träume. Es war eine permanente Sinnesreizung ohne Drogen; der Film, die Lightshow, die Musik, die Aktion, alles auf den Straßen zu finden. Gleich bei meiner Ankunft geriet ich auf dem Weg in die Innenstadt in eine pittoreske Demonstration. Tausende von Jugendlichen gingen singend gegen die Einstellung des Piratensenders Radio Caroline auf die Straße. Musik, Hippies, Blumen. Deutschland war grau und weit weg. Es musste viel bunter werden! Was ich an Platten nicht kaufen konnte, lernte ich in den Läden auswendig. Ich hing in Folk-Clubs herum, stöberte Headshops mit exotischem Krimskrams durch, sah Privilege mit Popsänger Paul Jones in der Hauptrolle. In meinem Tagebuch notierte ich: »Man wird sogar als Hippie höflich bedient«. Als solcher fühlte ich mich nach vierzehn stimulierenden Tagen. Ich war von der oberflächlichen, entspannten Toleranz der Stadt hingerissen. In den Zeitungen las ich Berichte über den Besuch des Maharishi und dass die Beatles zu einer Schulung nach Bangor, Nord-Wales, gefahren waren. Dass sie nun LSD und andere Drogen aufgegeben hätten und George Harrison Sitar lernte. Das klang so abenteuerlich, wie es war. Bald sollte ich merken, wie schnell sich unser Leben verändern würde, wie bald uns das Abenteuerliche normal erscheinen sollte. Am 27. August flog ich zurück nach München, nicht nur äußerlich ausstaffiert als Flower-Power-Kind, sondern auch innerlich vorbereitet, mit indischem Flatterhemd und kurioser LSD-Brille, mit Räucherstäbchen, Musik- und Untergrund-Magazinen wie OZ und IT, mit den neuesten Platten unterm Arm: die erste Pink Floyd-LP The Pipers at the Gates of Dawn», Freak Out von den Mothers of Invention, Flowers in the Rain von The Move. An diesem Tag starb der Beatles-Manager Brian Epstein. In der Zeit erschien ein Nettelbeck-Nachruf und die vierteilige Serie »Die Kinder von Sergeant Pepper und Mary Jane – Bericht einer Reise nach London«.

    Um dieselbe Zeit muss es gewesen sein, dass die Gebrüder Peter – »Leo« – und Uli Leopold ein kleines Appartement in der Münchner Klopstockstraße bezogen, das schnell zum Treffpunkt und Wohnort von ehemaligen Schul- und Internatsfreunden wurde. Peter, am 15. August 1945, und Uli, am 18. September 1948 in Bückeburg als Söhne einer wohlsituierten Akademikerfamilie geboren, besuchten das Internat Lauingen, später dann Marktoberdorf, wo auch Falk Rogner und Chris Karrer die Schulbank drückten. Als Peter Leopold mit einer Fünf in Musik aus Marktoberdorf rausfliegt, kommt er auf eine Privatschule nach Nürnberg.

    Dort trifft er einen weiteren Amon-Düül-Anwärter, Christian »Shrat« Thiele, am 29. März 1946 in Unterpolling als Sohn eines Fabrikbesitzers geboren. »In dieser Privatschule in Nürnberg, da saß ich ganz vorn, der Peter ganz hinten. Aus irgendeinem Grund guckte der mich immer so an und ich guckte zurück. Wir hatten damals einen von diesen transportablen Plattenspielern. Mit dem lagen wir immer auf dem Aufmarschgelände von Nürnberg und hörten den ganzen Tag Avantgarde-Jazz. Oder gingen mit ganz großen Taschen durch die Plattenläden von Nürnberg. Da war noch ein Typ dabei, der ist heute Assistent des Bundespressechefs in Bonn. Das letzte Jahr vor dem Abi kam ich dann in eine staatliche Schule nach Taufkirchen, der Peter musste nach Straubing. Und am Wochenende trafen wir uns immer alle in der Klopstockstraße«. Chris und Falk besuchten zu jener Zeit bereits die Klasse für Malerei von Waki Zöllner an der Münchner Kunstakademie.

    Chris Karrer, am 20. Januar 1947 in Kempten als Sohn eines Karosseriebaumeisters geboren, hatte soeben die Bundeswehrmusterung hinter sich gebracht: »Da hab ich erst mal einen Trip eingeschmissen, mich dort total ausgezogen und Liegestützen gemacht. Da meinte der Typ, ›ziehen Sie sich doch erst mal wieder an, Sie sind eh farbenblind‹. Und dabei wollte ich doch Zeichenlehrer werden!

    In München wurde grade das Jazzlokal Domicile eröffnet. Ich war zuvor schon immer im Tabarin bei Sessions eingestiegen und dachte, im Domicile ginge das auch. Da hab ich mein Saxophon eingepackt und bin hin, stellte mich zu Don Menza und Joe Haider, doch plötzlich hieß es: ›Hau ab!‹ Später bekam ich dann Lokalverbot.« Im Domicile lernte Chris den Jazzmusiker Olaf Kübler, später Produzent und Manager von Amon Düül II, kennen. »Den hab ich unheimlich bewundert. Ich dachte mir, das ist ein Gipfel, auf den ich nie hochkomme. Und ich hab damals wirklich geübt. Bin in der Eiskälte in meiner Ente an der Isar gehockt und hab mit klammen Fingern John Coltrane geübt.«

    Einer, der nach jahrelanger Aktivität in der deutschen Szene nie ein Gefühl der Sesshaftigkeit und Zugehörigkeit entwickelte, ist Falk U. Rogner, am 14. September 1943 in Liegnitz geboren. Bis zur Flucht in den Westen war sein Vater Gutsverwalter, später arbeitete er als hoher Beamter im Umweltschutzamt. Falk reiste mit seinen Eltern von Asien bis Afrika, bis er schulpflichtig wurde. Auch bei Amon Düül blieb er immer der stille Außenseiter. Während die anderen Free-Jazz-Fans waren, hörte er zu Hause klassische Musik und nennt als erstes Musikerlebnis Elvis Presley und »Tutti Frutti«.

    Neben den Internatsfreunden trudelten in der Klopstockstraße außerdem Rainer Bauer, seine Frau Ella und das Töchterchen Romana aus Wien ein, sowie der Fotografinnen-Sohn Helge Villander mit Frau Angelika und Sohn Joris aus Augsburg. Zusammen entdeckte man die Musik der Doors, von Jefferson Airplane, Pink Floyd, Cream und Hapshash and The Coloured Coat, deren knallrote LP Featuring The Human Host and The Heavy Metal Kids auch von anderen als wesentlicher Einfluss genannt wird. Zwangsläufig führten die zahlreichen kreativen Talente und Ideen zu einer Art Multi-Media-Gruppenkonzept »Lightshow, Film, Fotografie, Musik«. Und sie alle fuhren, etwa zur gleichen Zeit wie ich, zum ersten Mal nach London. Da sich keiner mehr genau an die Reise erinnern kann, hier aus einem Gedächtnisprotokoll:

    Shrat: »Am Wochenende sammelte sich langsam alles zusammen und dann fuhr eine Abteilung nach London. Wer war da eigentlich dabei?«

    Peter: »Du warst dabei!«

    Chris: »Und Falk und Angelika auch. Wir wollten meinen Bruder zurückholen, oder?«

    Shrat: »Bei so einer ominösen Adresse, Nottinghill Gate-was-weiß-ich. Ein Wochenende, um mal schnell so eine Flasche Trips abzuholen.«

    Peter: »Wo ich im Schlafanzug vor dem Haus saß?«

    Chris: »Und das Steuerrad vom Auto wie Gummi wurde?«

    Shrat: »... ja, und dann wieder zurück, und jeder erst mal an die Flasche wollte ...«

    Peter: »Und Uli alle zwei Minuten ausstieg und sagte, die Bullen sind hinter uns her, voll auf Trip!«

    Chris: »Da war doch dieses Wahnsinnsfest im Roundhouse, wo die Animals und dieser Sänger von Family ...»

    Peter: »Jedenfalls waren da dreitausend Leute voll auf dem Trip!«

    Chris: »Allen Ginsberg und Yoko Ono, die Nacht der Nächte ...«

    Shrat: »Freitag nach England, Sonntag zurück. In der Klopstockstraße eingelaufen. Damals haben die Zöllner noch immer nach Zuckerstückchen die Koffer durchsucht ...«

    Chris: »... und Räucherstäbchen wurden auch gleich beschlagnahmt.«

    Shrat: »Dann habe ich angefangen, Bongos zu spielen. Die Klopstockstraße war dann allmählich überfüllt und wir flogen da raus. Und dann entschloss man sich, nachdem Chris auch aus seiner Wohnung rausflog, dass man gemeinsam wohnt. Da zogen wir in die Prinzregentenstraße.«

    Das war aber bereits Ende des Jahres. Während die zukünftigen Mitglieder der ersten Acid-Band Deutschlands bereits den Aufstand probten, während allerorts die Leute von einer Aufbruchs- und Umbruchsstimmung ergriffen wurden, versuchte ich meine ersten Artikel an eine

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