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Bach-Kantaten / Dein ist allein die Ehre: Band 3: Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt
Bach-Kantaten / Dein ist allein die Ehre: Band 3: Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt
Bach-Kantaten / Dein ist allein die Ehre: Band 3: Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt
eBook686 Seiten6 Stunden

Bach-Kantaten / Dein ist allein die Ehre: Band 3: Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt

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Über dieses E-Book

Nur noch in begrenzten Arbeitsphasen widmet sich Bach der Kantatenkomposition ab Ostern 1725 und braucht zwei Jahre für seinen dritten Kantatenjahrgang. Die Textquellen wechseln von Phase zu Phase und zeigen Bachs Offenheit für verschiedene Stile. Entsprechend vielfältig sind die musikalischen Formen von großen Bibelwortchören bis zu Solokantaten mit Orgelkonzertsätzen. Ab 1728 sind – neben den im ersten Band behandelten Choralkantaten – nur noch einzelne Werke erhalten.
Konrad Klek bespricht die Kantaten wieder in der mutmaßlichen Reihenfolge ihrer Leipziger Aufführung und verwertet dabei jüngste Erkenntnisse aufgrund des Nürnberger Libretto-Funds (Chr. Birkmann). Er benennt die Eigenheiten der mit abgedruckten Libretti und profiliert Bachs Akzentuierungen bei der Vertonung. Separat überlieferte Frühwerke sind in einem Anhang erfasst, so dass mit diesem dritten Band von Kleks höchst anregendem Auslegungswerk alle geistlichen Kantaten erschlossen sind.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. März 2017
ISBN9783374047727
Bach-Kantaten / Dein ist allein die Ehre: Band 3: Johann Sebastian Bachs geistliche Kantaten erklärt
Autor

Konrad Klek

Dr. Konrad Klek ist Professor für Kirchenmusik an der Universität Erlangen-Nürnberg.

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    Buchvorschau

    Bach-Kantaten / Dein ist allein die Ehre - Konrad Klek

    KONRAD KLEK

    Johann Sebastian Bachs

    geistliche Kantaten erklärt

    Band 3

    Ab Ostern 1725

    KONRAD KLEK,

    Dr. theol., Jahrgang 1960, studierte Evangelische Theologie und Kirchenmusik und ist Professor für Kirchenmusik am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg sowie Universitätsmusikdirektor. Neben Noteneditionen hat er zahlreiche Publikationen zu Kirchenmusik, Liturgik und Hymnologie in Geschichte und Gegenwart vorgelegt.

    Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

    © 2017 by Evangelische Verlagsanstalt GmbH · Leipzig

    Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt.

    Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

    Gesamtgestaltung: Ulrike Vetter, Leipzig

    E-Book

    -Herstellung: Zeilenwert GmbH 2017

    ISBN 978-3-374-04772-7

    www.eva-leipzig.de

    Inhalt

    Cover

    Titel

    Der Autor

    Impressum

    Einführung

    Der dritte Kantaten-Jahrgang.

    Kantaten von Ostern 1725 bis Pfingsten 1727

    BWV 249 Kommt, eilet und laufet Ostersonntag 1725

    BWV 6 Bleib bei uns Ostermontag 1725

    BWV 42 Am Abend aber

    desselbigen Sabbats Quasimodogeniti 1725

    BWV 85 Ich bin ein guter Hirt Misericordias Domini 1725

    BWV 103 Ihr werdet weinen

    und heulen Jubilate 1725

    BWV 108 Es ist euch gut, dass ich hingehe Kantate 1725

    BWV 87 Bisher habt ihr nichts gebeten Rogate 1725

    BWV 183 Sie werden euch in den Bann tun Exaudi 1725

    BWV 74 Wer mich liebet Pfingstsonntag 1725

    BWV 175 Er rufet seinen Schafen Pfingstdienstag 1725

    BWV 176 Es ist ein trotzig und verzagt Ding Trinitatis 1725

    BWV 168 Tue Rechnung! Donnerwort 9. So nach Trinitatis 1725

    BWV 164 Ihr, die ihr euch von Christo nennet 13. So nach Trinitatis 1725

    BWV 161 Komm, du süße Todesstunde 16. So nach Trinitatis 1725

    BWV 148 Bringet dem Herrn Ehre seines Namens 17. So nach Trinitatis 1725

    BWV 79 Gott der Herr ist Sonn und Schild Reformationsfest 1725

    BWV 110 Unser Mund sei voll Lachens Christfest 1725

    BWV 57 Selig ist der Mann Christfest II 1725

    BWV 151 Süßer Trost, mein Jesus kömmt Christfest III 1725

    BWV 28 Gottlob, nun geht das Jahr zu Ende So nach Weihnachten 1725

    BWV 16 Herr Gott, dich loben wir Neujahr 1726

    BWV 32 Liebster Jesu, mein Verlangen 1. So nach Epiphanias 1726

    BWV 13 Meine Seufzer, meine Tränen 2. So nach Epiphanias 1726

    BWV 72 Alles nur nach Gottes Willen 3. So nach Epiphanias 1726

    BWV 43 Gott fähret auf mit Jauchzen Himmelfahrt 1726

    BWV 39 Brich dem Hungrigen dein Brot 1. So nach Trinitatis 1726

    BWV 88 Siehe, ich will viel Fischer aussenden 5. So nach Trinitatis 1726

    BWV 170 Vergnügte Ruh, beliebte Seelenlust 6. So nach Trinitatis 1726

    BWV 187 Es wartet alles auf dich 7. So nach Trinitatis 1726

    BWV 45 Es ist dir gesagt, Mensch 8. So nach Trinitatis 1726

    BWV 102 Herr, deine Augen sehen nach dem Glauben 10. So nach Trinitatis 1726

    BWV 35 Geist und Seele wird verwirret 12. So nach Trinitatis 1726

    BWV 17 Wer Dank opfert, der preiset mich 14. So nach Trinitatis 1726

    BWV 19 Es erhub sich ein Streit Michaelisfest 1726

    BWV 27 Wer weiß, wie nahe mir mein Ende 16. So nach Trinitatis 1726

    BWV 47 Wer sich selbst erhöhet 17. So nach Trinitatis 1726

    BWV 169 Gott soll allein mein Herze haben 18. So nach Trinitatis 1726

    BWV 56 Ich will den Kreuzstab gerne tragen 19. So nach Trinitatis 1726

    BWV 49 Ich geh und suche mit Verlangen 20. So nach Trinitatis 1726

    BWV 98 Was Gott tut, das ist wohlgetan 21. So nach Trinitatis 1726

    BWV 55 Ich armer Mensch, ich Sünden Knecht 22. So nach Trinitatis 1726

    BWV 52 Falsche Welt, dir trau ich nicht 23. So nach Trinitatis 1726

    BWV 152 Tritt auf die Glaubensbahn So nach Weihnachten 1726

    BWV 82 Ich habe genung Mariae Reinigung 1727

    BWV 157 Ich lasse dich nicht 6. Februar 1727

    BWV 84 Ich bin vergnügt mit meinem Glücke Septuagesimae 1727

    BWV 146 Wir müssen durch viel Trübsal Jubilate 1727

    BWV 34 O ewiges Feuer Pfingstsonntag 1727

    Kantaten zu Picanders Libretto-Jahrgang 1728 / 29

    BWV 171 Gott, wie dein Name, so ist auch dein Ruhm Neujahr 1729

    BWV 156 Ich steh mit einem Fuß im Grabe 3. So nach Epiphanias 1729

    BWV 159 Sehet, wir gehen hinauf gen Jerusalem Estomihi 1729

    BWV 174 Ich liebe den Höchsten Pfingstmontag 1729

    BWV 149 Man singet mit Freuden Michaelisfest 1729

    BWV 188 Ich habe meine Zuversicht 21. So nach Trinitatis 1728 / 30

    Kantaten seit 1730

    BWV 51 Jauchzet Gott in allen Landen 15. So nach Trinitatis

    BWV 29 Wir danken dir, Gott Ratswahl 1731

    BWV 36 Schwingt freudig euch empor 1. Advent 1731

    BWV 11 Lobet Gott in seinen Reichen Himmelfahrt 1735

    BWV 30 Freue dich, erlöste Schar Johannisfest 1738

    BWV 120 Gott, man lobet dich in der Stille Ratswahl 1742

    BWV 69 Lobe den Herrn, meine Seele Ratswahl 1748

    Vor-Leipziger Kantaten in separater Überlieferung

    BWV 150 Nach dir, Herr, verlanget mich Mühlhausen 1707 / 08

    BWV 131 Aus der Tiefen rufe ich, Herr, zu dir Mühlhausen 1707 / 08

    BWV 106 Gottes Zeit ist die allerbeste Zeit Mühlhausen 1707 / 08

    BWV 71 Gott ist mein König Ratswechsel 1708

    BWV 54 Widerstehe doch der Sünde Okuli 1714

    BWV 165 O heilges Geist- und Wasserbad Trinitatis 1715

    BWV 163 Nur jedem das Seine 23. So nach Trinitatis 1715

    BWV 132 Bereitet die Wege 4. Advent 1715

    Verzeichnisse

    A Bachs Kantaten im Kirchenjahr

    B Die besprochenen Kantaten in

    BWV-Nummernfolge

    C Alphabetisches Verzeichnis der besprochenen Kantaten

    Weitere Bücher

    Einführung

    Bachs »dritter Kantaten-Jahrgang« ab Ostern 1725 

    Nach der letzten Choralkantate BWV 1 zu Mariae Verkündigung – siehe Band 1 zum Choralkantatenzyklus – komponierte Bach ab Ostern 1725 bis zum Ende seines zweiten Dienstjahres an Trinitatis weiter für jeden Sonntag und Feiertag eine neue Kantate, jedoch ohne diesen Choralbezug. Zusammen mit den Kantaten, die danach in eher loser Folge in den nächsten beiden Jahren entstanden, ordnete er sie einem dritten Kantaten-Jahrgang ein. Bei der Erbteilung nach Bachs Tod gingen davon die Partituren (mit Stimmdubletten) an den Sohn Carl Philipp Emanuel, die Stimmen an den damals

    15-jährigen

    Johann Christian. Da dieser mitsamt seinem Erbteil zum älteren Bruder nach Potsdam zog, bei seiner späteren Übersiedlung nach Italien diese Stimmen aber nicht mitnahm, sind die Kantaten dieses Jahrgangs in den Originalquellen optimal dokumentiert dank sorgfältiger Bewahrung beider Erbteile durch den Potsdamer, später Hamburger Bach. Die Besprechung folgt wieder der Aufführungs-Chronologie, also nicht der erst nachträglich konstituierten Kirchenjahr-Reihung (mit einigen Lücken). Dabei finden auch Weimarer Kantaten Berücksichtigung, die nach jüngsten Erkenntnissen in diesem Zeitraum in Leipzig erklungen sein müssen (BWV 161, 152). Die nicht in Originalquellen überlieferte Jubilate-Kantate BWV 146 Wir müssen durch viel Trübsal wird zusammen mit der sicher auf 1727 zu datierenden Pfingstkantate BWV 34 ans Ende dieser Schaffensperiode platziert.

    Nach der Geburtstagsmusik-Parodie am Ostersonntag 1725 nutzte Bach zunächst drei Libretti, die ihm wohl schon im Vorjahr geliefert worden waren. Sie haben als Spezifikum einen weiteren Choral in der Mitte. Für Jubilate bis Trinitatis stellte ihm die Leipziger Dichterin Christiane Mariane von Ziegler (1695–1760) Texte zur Verfügung, die Bach zur Komplettierung seines zweiten Dienstjahres beauftragt haben wird. – Die zwei später dem Choralkantaten-Jahrgang zugeschlagenen Werke daraus (BWV 128, 68) sind in Band 1 besprochen. – Mit Beginn von Bachs drittem Dienstjahr am 1. Sonntag nach Trinitatis 1725 wird der Aufführungskalender lückenhaft. Ein erhaltenes Leipziger Textheft für die Zeit vom 3. bis 6. Sonntag nach Trinitatis bringt neben einer Liedtext-Kantate Texte aus bekannten Libretto-Drucken, z. B. drei von Erdmann Neumeister 1711. Ob Bach diese selbst vertont hat oder Kompositionen fremder Hand nutzte, lässt sich nicht eruieren. Wahrscheinlich ist Letzteres. Aus der späteren Trinitatiszeit sind dann zwei neue Kantaten (BWV 168, 164) auf Texte aus dem Weimarer Libretto-Druck Salomo Francks (1715) verifizierbar. Auch die reine Liedtextkantate Lobe den Herren (BWV 137) entstand im August 1725. Zum Reformationsfest (BWV 79) konnte Bach ein Libretto wohl aus der Vorjahreslieferung des Choralfreundes verwenden. Wegen der kompositorischen Nähe des Eingangssatzes zu BWV 79 ist auch BWV 148 Bringet dem Herrn Ehre hier eingeordnet worden, verbunden mit einer Umbewertung der Libretto-Bezüge zur Picander-Edition von 1725.

    Erst mit dem Christfest 1725 startete Bach wieder eine neue Kantatenfolge. Jetzt nutzte er Libretti aus der Darmstädter Publikation »Gottgefälliges Kirchen-Opffer« (1711) von Georg Christian Lehms (1684–1717), wahlweise wieder von S. Franck. In seinem Leipziger Umfeld stand ihm also niemand zur Verfügung, auch nicht Picander. Bei den zuvor in der Osterzeit vertonten Ziegler-Texten zeigen zahlreiche Abweichungen zum späteren Druck, dass Bach einiges geändert haben muss. Diese Erfahrungen ließen ihn wohl davon Abstand nehmen, weiter mit Frau von Ziegler zusammenzuarbeiten.

    Mit Mariae Reinigung, 2. Februar 1726, begann eine neue Periode, in der Bach Kantaten seines Meininger Vetters Johann Ludwig Bach (1677–1731) aufführte. Die Partiturabschriften und Stimmen sind im Erbe J. S. Bachs erhalten geblieben. Selber vertonte Bach erstmals an Himmelfahrt (BWV 43), dann zum Jahrestag des Leipziger Dienstbeginns (BWV 39) und von Juli bis September noch fünfmal (BWV 88, 187, 45, 102, 17) das jeweilige Meininger Libretto. Erstmals 1704 publiziert, war Autor dieses Jahrgangs wohl der Meininger Herzog Ernst Ludwig I. (1672–1724) persönlich. Bach ließ sich namentlich von den umfänglichen Dikta herausfordern zu großen Bibelwort-Chören bzw. Vox Christi/Dei-Sätzen für Bass.

    Noch in der Meiningen-Periode startete Bach am 28. Juli 1726 mit der ersten Alt-Kantate (BWV 170) das neue Projekt Solokantaten. Dazu nutzte er zunächst wieder Lehms-»Andachten« als Textgrundlage (BWV 170, 35). Die Polarität von »Cantata« nach italienischer Terminologie mit einem Sänger und »Concerto« mit vier (wohl ebenfalls solistisch besetzten) Stimmen war für Bachs Hörer nicht so stark ausgeprägt wie in heutiger Praxis, wo groß besetzte Kantoreien die Bibelwort-»Chöre« singen, welche man in Solokantaten dann vermisst. Musikalisch auffallend war eher die Verbindung dieser Kantaten mit Orgelkonzertsätzen oder sonstiger Instrumentalmusik (BWV 52). Da die Orgelpartien nicht wie heute mit einer kleinen Truhenorgel, sondern mit der großen Orgel gespielt wurden, erfuhr deren liturgische Funktion hier eine spektakuläre Erweiterung, und der Thomas-»Kantor« präsentierte sich als Orgelvirtuose. – Die Hypothese vom Exerzierfeld für Bachs aufstrebende Söhne fußt auf dem romantischen Bild einer Künstler-Familie. – Gerade im Gegenüber zu den komplexen Bibelwort»Chören« ging es um die Profilierung des Artifiziellen als Sinnträger, ob mit oder ohne Text. Schon am Sonntag nach Ostern 1725 (BWV 42) hatte Bach die »Gnaden=Gegenwart« des Auferstandenen mit einem Köthener Instrumentalkonzertsatz zur Geltung gebracht. Die Einzelbesprechung versucht, jeweils den »Sinn« dieser Konzertsätze zu erhellen.

    Die im Bach-Jahrbuch 2015 von Christine Blanken vorgestellte Identifizierung des Librettisten Christoph Birkmann (1703–1771) für acht Kantaten zwischen 20. Oktober 1726 und 2. Februar 1727 ist ein enormer Gewinn. Durch die Zusammenarbeit mit dem aus Nürnberg stammenden Leipziger Studenten, der sich auch musikalisch in Bachs Ensemble einbrachte, wurde Bach offensichtlich motiviert, wieder Sonntag für Sonntag eine Kantate zu schreiben, und konnte so das »Solo«-Konzept in beträchtlichem Umfang realisieren. Passende Texte dafür hatten ihm bisher nur die sprachlich modernen »Nachmittags-Andachten« von Lehms geboten. Birkmann, pietistischen Strömungen nahestehend, lieferte neue selbstreflexive »Ich-Texte« wie Dialogformationen (Jesus/Seele) gemäß der barocken Mystikrezeption. – Dazu gehört auch die Dialogkantate BWV 58 mit Choralbezügen, besprochen in Band 1 noch ohne Kenntnis des Librettisten. – Inhaltlich sah Bach das wohl als komplementäre Horizonterweiterung, nicht als Widerspruch zu den direkt davor vertonten »objektiven« Meininger Libretti mit jeweils zwei Bibelworten (Altes/Neues Testament) und ohne alle mystischen Züge.

    Am bisher berühmtesten Birkmann-Libretto, dem zur »Kreuzstabkantate« BWV 56, haben schon viele Exegeten die Qualität gerühmt. Die Besprechung würdigt auch die anderen Texte Birkmanns in ihrem theologischen Gehalt und sprachlichen Niveau. In der Spur von Blankens Ausführungen (s.o.) wird Birkmanns Autorschaft für weitere Libretti in Anschlag gebracht (BWV 19, 27, 34, 84, 146, 148), auch wenn er diese nicht in der neu entdeckten Quelle abgedruckt hat, dem 1728 publizierten Libretto-Jahrgang »Gott-geheiligte Sabbaths-Zehnden« für Hersbruck in Mittelfranken. Teilweise wird das Abhängigkeitsverhältnis Picander-Textdruck (1728 f.)/Bach-Kantate umgekehrt als bisher üblich bestimmt. Hier ist der Forschung durch die Birkmann-Entdeckung ein neues Feld eröffnet worden. Das Ende von Bachs Kantatenkomposition in diesem »dritten Jahrgang« mit Pfingsten 1727 (BWV 34) korreliert wohl nicht zufällig mit dem Weggang Birkmanns aus Leipzig.

    Dessen Libretto-Druck spiegelt offensichtlich in beträchtlichem Maße die Leipziger »Music«-Praxis zur Zeit seines Studienaufenthalts ab Ende 1724. Von Birkmann aufgenommene Lehms- und Franck-Libretti lassen nicht erhaltene Vertonungen Bachs dazu vermuten, zudem weitere Solokantaten auf Birkmann-Texte in der Epiphaniaszeit 1727.

    Kantaten zu Picanders Libretto-Jahrgang 1728 / 29 

    Von außen verhinderte die Fortführung des Kantaten-Schaffens der Tod der sächsischen Kurfürstengattin Christiane Eberhardine am 5. September 1727. Die daraufhin verordnete viermonatige Landestrauer gestattete erst an Epiphanias 1728 wieder »Music«. Für das ganze Jahr 1728 gibt es aber keine gesicherten Kenntnisse zu Bachs Aufführungen. Allerdings erscheint ab Johannis 1728 sukzessive in vier Heften ein Libretto-Jahrgang des Dichters mit Künstlername Picander (Christian Friedrich Henrici, 1700–1764): »Cantaten Auf die Sonn und Fest-Tage durch das gantze Jahr«. Im Vorwort stellt der Autor die Veredelung seiner Texte in Aussicht »durch die Lieblichkeit des unvergleichlichen Herrn Capell-Meisters, Bach«. In der Forschung konnte keine Einigkeit erzielt werden, ob dieser Kantaten-Jahrgang in Absprache mit Bach konzipiert und von ihm auch umgesetzt wurde. Als Vertonungen erhalten sind jedenfalls nur sieben Kantaten Bachs, hier besprochen außer der mutmaßlich ersten zum Christfest 1728 (BWV 197a), die nur als Fragment zugänglich ist, da Bach den Eingangschor wohl für das »Gloria in excelsis Deo« der Missa von 1733 wegnahm. Zwei weitere, BWV 145 und Ich bin ein Pilgrim (Fragment), sind von Peter Wollny im Bach-Jahrbuch 2010 dem jungen Carl Philipp Emanuel Bach zugeschrieben worden.

    Da im Nekrolog auf J. S. Bach von fünf Kantaten-Jahrgängen die Rede ist, drängt sich die Hypothese eines vierten »Picander-Jahrgangs« auf. Dafür fehlt aber die Notenmaterial-Quellenbasis. Gerade die beiden Vertonungen durch Bachs Sohn legen nahe, dass im Hause Bach zu diesen Libretti gegriffen wurde, wenn mal wieder eine Kantate gefragt war, der Jahrgang aber vom Thomaskantor nicht systematisch umgesetzt wurde.

    Wahrscheinlich war und blieb Picander für Bach primär der »Gelegenheitsdichter«, als der er auch sonst viel gefragt war. Diese Tätigkeit war für ihn Broterwerb. So waren Picander-Libretti auch ein Kostenfaktor. Bei Huldigungsmusiken gab es in der Regel einen Sponsor. Die erste Kooperation Bach/Picander ist nachweisbar beim Weißenfelser Fürsten-Geburtstag im Februar 1725 (vgl. zu BWV 249). Auch bei den Glückwunsch-Varianten von BWV 36 1725 / 26 war Picander beteiligt. Eine weitere »Gelegenheit« war die Trauermusik für Herrn von Ponickau im Februar 1727 (BWV 157). Auch die Matthäus-Passion, ob 1727 oder erst 1729 erstaufgeführt, ist als Karfreitag-Vespermusik eine »Kasualie«. Picander hat hier das Libretto in großer Form geliefert, allerdings ohne das Entscheidende für die kirchliche Identität neben dem Bibelwort, die Choräle. Im Juni 1730 gab es mit drei Festtagen zum

    200-Jahr

    -Jubiläum der Confessio Augustana eine sehr repräsentative Kasualie, wo Picander die Libretti zu den Festmusiken stellte. Die Parodiebeziehungen da zu Ratswahlkantaten bringen ihn auch bei dieser alljährlichen Kasualie ins Spiel. Durch Textdruck als Librettist nachgewiesen ist er nur für Wünschet Jerusalem Glück (vor 1729), wovon die Musik fehlt. Bei der Karfreitag-Kasualie Markus-Passion 1731 ist Picander wieder Librettist, diesmal wohl inklusive Choralauswahl. Bei den Oratorien 1734 / 35 (Weihnachten/Himmelfahrt) ist seine Autorschaft wahrscheinlich, ebenso bei der »Gelegenheitsmusik« BWV 30a im September 1737 und ihrer geistlichen Transformation zum Johannisfest BWV 30.

    Gerade im Gegenüber zu den Libretti Christoph Birkmanns wird deutlich, dass Picanders Texte bibeltheologisch wenig präzise sind, inhaltlich und sprachlich bisweilen platt. Seine formale Gewandtheit prädestinierte ihn für Parodierungen. Da Bach je länger, je mehr mit Parodien früherer Werke arbeitete, konnte er Picander dazu gut »gebrauchen«.

    Kantaten seit 1730 

    Neben den späteren Choralkantaten – siehe Band 1 – sind nur wenige Kantaten überliefert aus immerhin zwei Jahrzehnten Wirken Bachs in Leipzig ab 1730. Auch sie werden in der chronologischen Folge der Erstaufführung besprochen. Aus Platzgründen bleiben Fragmente (BWV 50, 158, 200) unberücksichtigt, alle Kasualmusiken zu Trauungen und auch die Kantaten des Weihnachtsoratoriums. Zu diesem liegen gründliche Einführungen vor, zuletzt von Meinrad Walter (dtv/Bärenreiter, 2006). Die Kasualie Ratswahl mit heute beliebten Kantaten ist allerdings aufgenommen. Hierzu gehört auch der letzte greifbare Kantatenbeitrag Bachs, die Umarbeitung von BWV 69a (vgl. Band 2) zu BWV 69 im Jahr 1748. Bei diesem alljährlichen, repräsentativen Akt musste Bach öfter etwas Neues liefern, während er die Kirchenmusik-Praxis im Regelablauf des Kirchenjahres wohl überwiegend mit dem Fundus der Werke aus den ersten Leipziger Jahren bestritt. Vielleicht enthielten seine »Jahrgänge« vier und fünf, so es sie denn wirklich gab, vor allem Werke anderer Komponisten, leichter zu realisieren als die eigenen. Die von Michael Maul jüngst entdeckte Notiz eines ehemaligen Thomaner-Präfekten in einem Bewerbungsschreiben, er habe zwei Jahre lang »die Music« in den Leipziger Hauptkirchen anstelle Bachs geleitet (Bach-Jahrbuch 2015), zeigt, dass der Thomaskantor zumindest in den 1740er Jahren kaum mehr Kräfte in dieses Tätigkeitsfeld steckte. Ende der 1730er Jahre interessierten ihn seine bestehenden Kantaten kompositorisch als Basismaterial zur Umgestaltung in Messesätze beim Projekt der vier Kyrie/Gloria-Messen BWV 233–236, wie schon bei der um 1733 in Dresden eingereichten großen Missa, die er dann Ende der 1740er Jahre zur Missa tota (

    h-Moll

    -Messe) erweiterte.

    Vor-Leipziger Kantaten in separater Überlieferung 

    Diese Werkbesprechung hat bei Bachs Leipziger Kantatenpraxis in den Hauptkirchen ab 1723 angesetzt. Früher entstandene Kantaten kamen in den Blick mit ihrer Leipziger Wiederaufführung anhand des davon erhaltenen Materials, das oft Umarbeitungen aufweist (siehe Band 2). Wenige in Leipzig wohl nicht aufgeführte Kantaten aus der Weimarer Zeit und die noch früheren aus Bachs Jahr in Mühlhausen 1707 / 08 mit vom späteren Standard (Rezitativ/Arie) abweichenden Aufbau sind glücklicherweise auf anderem Wege überliefert. Sie rücken nun ans Ende der Besprechung. Auch hier tragen jüngere Erkenntnisse (BWV 150) zur Profilierung bei. BWV 143 ist als »unsicherer Kantonist« nicht berücksichtigt.

    Zur Methode der Kantatenbesprechung 

    Dem in Band 1 (S. 22–26) und in Band 2 (S. 21 f.) zur Methodik Ausgeführten ist nichts hinzuzufügen. Erneut sei allerdings betont, dass die hier vorgestellten Deutungen ein Angebot sind. »Objektivität« kann es nicht geben, nur Plausibilität und Stimmigkeit, die der einen mehr, dem anderen weniger einleuchtet. Dieser Band enthält etwas detailliertere Beschreibungen von Satzverläufen bei einigen Arien und den großen Eingangssätzen. Dies ist der Einsicht geschuldet, dass Bachs musikalische Formgebung als solche Sinnträger ist. Nicht im Interesse der Einzelwerkbesprechung liegt aber, musikologische Entwicklungen über die Jahre zu erörtern.

    Trotz vielfachen »Naserümpfens« in Fachkreisen bin ich dem Zahleneifer treu geblieben. Die Befunde, noch penibler überprüft als zuvor, sind oft einfach zu faszinierend, um nicht mitgeteilt zu werden. Detailliertere Ausführungen habe ich unterlassen, um Leserinnen und Lesern, die zur Zahlensymbolik keinen Zugang finden, nicht zu viel »Ballast« aufzubürden. Man kann jede Besprechung lesen und Zugang zu jeder Kantate finden, als ob es die Zahlen nicht gäbe. In Verbindung mit den im »dritten Jahrgang« vertonten Libretti von G. Chr. Lehms hat sich allerdings gezeigt, dass eine Dimension des Schlüsselworts »Andacht« dort bei Bach eben die Strukturierung der Musik mit Zahlen ist, gerade in den auf seinen Namen bezogenen Zahlen 14 (BACH), 19 (Buchstabensumme), 41 (JSBACH), 158 (JOHANN SEBASTIAN BACH). Damit komponiert Bach »andächtig«.

    Nach-Lese

    Im umfänglichen Vorwort zu seinem Libretto-Jahrgang (1728) stimmt Chr. Birkmann ein großes Lamento an über die mangelnde Wertschätzung der Kirchenmusik:

    »Dass die Kirchen-Musik, zu unserer Zeit, noch ein Stück des wahren Gottesdienstes wäre: Zum wenigsten gibt der meiste Teil der Christen nicht zu erkennen, dass sie dies dafür halten. Denn die Nachlässigkeit, sowohl derer, so die Musik treiben, als auch der Zuhörer, ist in teils Orten so groß, dass sie fast nicht größer sein könnte. […]«

    Das schreibt einer, der zuvor zweieinhalb Jahre lang an Bachs Kirchenmusik in Leipzig partizipiert hat. Nach Pfingsten 1727 unternahm er allerdings noch eine Reise über Wittenberg nach Berlin und Dresden, wo sich dieser Negativeindruck verschärft haben mag. Jedenfalls benennt Birkmann keine rühmliche Ausnahme, auch nicht die Hauptkirchen zu Leipzig. Solch ein Klagelied ist durchaus gattungstypisch für eine Vorrede. Aber Birkmanns Entrüstung über Gottesdienstbesucher, die während der »Music« lieber in Betbüchern lesen als zuhören oder gezielt erst danach kommen, wird realen Anhalt in Leipziger Verhältnissen gehabt haben.

    In der Vorrede von G. Chr. Lehms zu seinem Libretto-Druck (1711) zeigt sich eine andere Frontstellung. Er wendet sich gegen Theologen, die Musik für Teufelszeug halten, und überschlägt sich im Rühmen der segensreichen Wirkung von Musik zu geistlichen Texten. Aus der Schlusspassage sei zitiert:

    »Denn eine andächtige Kirchen-Musik allein deswegen anzuhören, dass man nur die Ohren kitzle und ergötze, nicht aber die Andacht des Geistes stärke, ist ebenso viel als eine kräftige Arznei […] nur ansehen und nicht genießen wollen. Die Seele, die Seele muss dabei am meisten wirken und durch die Musik allein die geistlichen Gedanken zu stärken suchen.

    Solches hat mich auch bewogen, gegenwärtigen Jahrgang unter die Presse zu geben, damit ein jedes den Text, welcher musizieret wird, vor Augen habe und sich denselben recht in seine Seele fassen könne; da sonst allein die Harmonie der Instrumenten gehöret, das Herz aber nicht durch die Kraft der gesungenen Worte erquicket wird oder sich solche zu seinem Nutzen anwenden kann.«

    Der zweite Absatz, leicht parodiert »Solches hat mich bewogen, vorliegende Kantatenbesprechung samt der Libretti in den Druck zu geben […]«, ist bestens geeignet als Schluss auch dieser »Vorrede«. Zu befördern, dass das »Herz durch die Kraft der gesungenen Worte erquicket wird«, ist eben das Anliegen dieses Buchprojekts. Zu ergänzen ist allerdings noch ein ausdrücklicher und großer Dank, dass sich Dr. Annette Weidhas vom Verlag das Autoren-Anliegen zu eigen, diese aufwendige, ansprechende Buchgestaltung möglich gemacht und mit all ihren Mitarbeitenden auch so zielstrebig umgesetzt hat, dass sie zum Reformation-Jubiläumsjahr 2017 vorgelegt werden kann. Für das gerne plakativ gesetzte »Luther & Bach« liefert diese Kantatenbesprechungen tatsächlich viel Stoff …

    Zu Gast in Wittenberg, den 31. Oktober 2016 Konrad Klek

    Der dritte Kantaten-Jahrgang

    Kantaten von Ostern 1725

    bis Pfingsten 1727

    BWV 249

    Kommt, eilet und laufet

    Ostersonntag, 1. April 1725, Nikolaikirche / Thomaskirche

    1. Sinfonia Trompete I/II (III), Oboe I/II, Streicher

    2. Adagio Oboe (Traversflöte), Streicher

    3. (Chor) (Sopran/Alt) Tenor/Bass Tutti

    Kommt, eilet und laufet, ihr flüchtigen Füße,

    Erreichet die Höhle, die Jesum bedeckt!

    Lachen und Scherzen

    Begleitet die Herzen,

    Denn unser Heil ist auferweckt.

    4. Rezitativ Alt/Sopran/Tenor/Bass

    Maria Magdalena O kalter Männer Sinn!

    Wo ist die Liebe hin,

    Die ihr dem Heiland schuldig seid?

    Maria Jacobi Ein schwaches Weib muss euch beschämen!

    Petrus Ach! ein betrübtes Grämen

    Johannes Und banges Herzeleid

    Petrus/Johannes

    Hat mit gesalznen Tränen

    Und wehmutsvollem Sehnen

    Ihm eine Salbung zugedacht,

    Maria Jacobi/Maria Magdalena

    Die ihr, wie wir, umsonst gemacht.

    5. Arie Sopran Traversflöte (oder Solovioline)

    Maria Jacobi Seele, deine Spezereien

    Sollen nicht mehr Myrrhen sein.

    Denn allein

    Mit dem Lorbeerkranze prangen,

    Stillt dein ängstliches Verlangen.

    6. Rezitativ Tenor/Bass/Alt 

    Petrus Hier ist die Gruft

    Johannes Und hier der Stein,

    Der solche zugedeckt;

    Wo aber wird mein Heiland sein?

    Maria Magdalena

    Er ist vom Tode auferweckt!

    Wir trafen einen Engel an,

    Der hat uns solches kundgetan.

    Petrus Hier seh ich mit Vergnügen

    Das Schweißtuch abgewickelt liegen.

    7. Arie Tenor Blockflöte I/II, Streicher 

    Petrus Sanfte soll mein Todeskummer

    Nur ein Schlummer,

    Jesu, durch dein Schweißtuch sein.

    Ja, das wird mich dort erfrischen

    Und die Zähren meiner Pein

    Von den Wangen tröstlich wischen.

    8. Rezitativ Sopran/Alt

    Maria Jacobi/Maria Magdalena

    Indessen seufzen wir

    Mit brennender Begier:

    Ach, könnt es doch nur bald geschehen,

    Den Heiland selbst zu sehen!

    9. Arie Alt Oboe d’amore, Streicher

    M. Magdalena Saget, saget mir geschwinde,

    Saget, wo ich Jesum finde,

    Welchen meine Seele liebt!

    Komm doch, komm, umfasse mich;

    Denn mein Herz ist ohne dich

    Ganz verwaiset und betrübt.

    10. Rezitativ Bass

    Johannes Wir sind erfreut,

    Dass unser Jesus wieder lebt,

    Und unser Herz,

    So erst in Traurigkeit

    zerflossen und geschwebt,

    Vergisst den Schmerz

    Und sinnt auf Freudenlieder;

    Denn unser Heiland lebet wieder.

    11. Chor Tutti

    Preis und Dank

    Bleibe, Herr, Dein Lobgesang.

    Höll’ und Teufel sind bezwungen,

    Ihre Pforten sind zerstört.

    Jauchzet, ihr erlösten Zungen,

    Dass man es im Himmel hört.

    Eröffnet, ihr Himmel,

    die prächtigen Bogen,

    Der Löwe von Juda

    kommt siegend gezogen!

    Sehr festlich und umfänglich ist die »Music« zu Bachs zweitem Leipziger Osterfest 1725. Wieder einmal »recycelt« er eine höfische Geburtstagsmusik. Anders als bei den Oster- und Pfingstkantaten im Vorjahr (BWV 66, 134, 173, 184) nimmt er nicht eine Köthener Vorlage, sondern die nur wenige Wochen zuvor, am 23. Februar aufgeführte Festmusik zum 44. Geburtstag des Weißenfelser Herzogs Christian, wozu erstmals Picander als bekannter Gelegenheitsdichter ein Libretto für Bach geliefert hat. Die kantatenfreie Fastenzeit und (modifizierte) Wiederaufführung der Johannes-Passion am Karfreitag ließ Bach Freiraum, um die alte Beziehung nach Weißenfels aufzuwärmen und sich mit einer prächtigen Geburtstagsmusik ins Gespräch zu bringen, nachdem der dortige Kapellmeister Johann Philipp Krieger (1649–1725) am 6. Februar verstorben war. Bei einem ähnlichen Gastspiel vier Jahre später wird Bach dann den Titel Hofkapellmeister erhalten.

    Da Picander das Libretto publiziert hat, lässt sich die Musik als »Dramma per musica« identifizieren, zeittypisch als »Schäfergespräch« konzipiert. Es agieren zwei (in der griechischen Mythologie benannte) Schäfer und zwei Schäferinnen, die sich voller Vorfreude auf den Weg zum Fürstengeburtstag machen. Die Frauen suchen (im Februar!) Blumen für den fälligen Kranz. So bittet eine von ihnen die zuständige Göttin Flora um Westwind zu deren Gedeihen. Einer der Männer meint aber: »Was wird sich unser großer Fürst besonders an die Blumen kehren?« Aufrichtige Glückwünsche würden mehr zählen und das Blumenproblem erübrigen. Diese bringt am Ende ein Vivat-Chor der vier Protagonisten »mit untermischtem Pauken-Klang«, also Trompetteria, nachdem das Werk mit einem Duett nur der Männer begonnen hat.

    Bachs Osterversion folgt der Vorlage genau in der Arien-Abfolge mit Stimm- und Rollenzuweisungen. Aus den Osterevangelien – in der Zusammenschau der von J. Bugenhagen erstellten »Harmonie« aller Evangelien, vertont auch von H. Schütz in der Auferstehungshistorie und Grundlage populärer Osterspiele – lassen sich analog zu den vier Schäfer/innen zwei Männer- und zwei Frauenrollen gewinnen. Die Stimmen von 1725 sind mit Johannes (Bass), Petrus (Tenor), Maria Magdalena (Alt) und Maria Jacobi (Sopran) bezeichnet. Anders als am Weißenfelser Hof wurden die Frauenrollen in der Kirche von männlichen Sängern übernommen. Die Rezitative hat Bach neu komponiert. Wie in der Vorlage sind sie aber Gespräche bzw. Reden der Akteure in der Konstellation fast identisch: Vierergespräch beim ersten, Dialog beim zweiten, Bass-Einzelrede beim letzten. So wird auch die Ostermusik zum »Dramma« und spiegelt die Praxis von Osterspielen, die den Besuch der Frauen und Jünger am leeren Grab in Szene setzten. Wohl 1738 erst hat Bach das Werk als Partitur ausgeschrieben. Er nennt es »Oratorio«, verzichtet jetzt auf die Rollenbenennung. Anders als bei den »Oratorien« zu Christfest und Himmelfahrt fehlt aber der Bibelwort rezitierende Evangelist. Die letzte Umarbeitung erfolgte zu einer Aufführung wohl 1745. Jetzt erst erweitert Bach den ersten Vokalsatz zum »Chor« mit vier Vokalpartien und schreibt die Singstimmen mit weiteren Änderungen neu aus. Von einer Aufführung 1749 stammt die Stimme für die dritte Trompete, wie sie seit 1738 in der Partitur steht, bei der Weißenfelser wie Leipziger Erstfassung aber wohl nicht erklang. Trotz der Verwandlung zur Ostermusik hat auch die Glückwunschkantate ein Weiterleben. Schon am 25. August 1726 erklang sie mit wieder adaptierten Texten (nach der Weißenfelser Vorlage bei Arien wie Rezitativen) zum Geburtstag des Grafen Flemming, einer hochrangigen Leipziger Persönlichkeit in der staatlichen Verwaltung. Da ist wieder Picander nachweislich der Umdichter, bei der Osterkantate kaum.

    Wie im Vorjahr (BWV 31) beginnt die Ostermusik mit einer festlichen Instrumentalmusik, deren Motivik von den Naturtönen der Trompeten dominiert wird. Der

    D-Dur

    -Satz im 3 / 

    8-Takt

    zeigt im Wechsel von Tutti-Ritornell und Passagen mit konzertierend hervortretenden Stimmen (Violine I, Trio mit Oboen und Violoncello) formal Ähnlichkeiten mit den Brandenburgischen Konzerten. So wurde eine frühere Entstehung parallel dazu vermutet, zumal noch ein langsamer Satz in

    h-Moll

    anschließt. Mit expressivem Oboenpart (später der Traversflöte zugewiesen), von rhythmisch gleichförmigen Streicherakkorden begleitet, könnte das aber auch der Mittelsatz eines Oboenkonzerts sein. Als schneller dritter Satz, wieder im 3 / 8-

    D-Dur

    mit Trompeten, fungiert dann der erste Vokalsatz, eine Dacapo-Arie. Hier sind nicht mehr die Trompeten (mit Naturton-Motivik) im Vordergrund, sondern die Sechzehntel von Oboen, Violine I und den Singstimmen Tenor und Bass, welche Entfliehet, verschwindet, entweichet ihr Sorgen des ursprünglichen Textes abbilden, im Mittelteil aber Lachen und Scherzen beider Textfassungen, von beiden Sängern konkordant im Wortsinn – Zusammenklang der Herzen – terzparallel vorgetragen. Die Kopfzeile der Osterfassung wurde mehrmals modifiziert (Kommt, fliehet/ gehet und eilet), zuletzt mit den Stimmen von 1745, wo laufet Johannes 20,4 aufgreift: »Es liefen aber die zwei miteinander (zum Grab).« Der sogenannte Jüngerwettlauf zum Grab ist Aufhänger der Osterszenerie. Das Oboen-Lamento zuvor lässt sich deuten als Erinnerung an »et sepultus est«, die Grablegung Christi, in der zwei Tage zuvor erklungenen Johannes-Passion am Ende detailliert erzählt. Die von den Trompeten dominierte Eingangs-Sinfonia repräsentiert eine ostertypische »Victory«-Intrade (vgl. BWV 31). Es spricht einiges dafür, dass Bach diese dreisätzige Eröffnung für die Geburtstagsmusik des Herzogs neu konzipiert hat mit der Ostertransformation schon im Blick. Dort steht der langsame Satz für die unwirtliche Februar-Atmosphäre in der Natur.

    Die »dramatische Handlung« setzt mit einem Streitgespräch ein. Anders als in der Vorlage haben die Frauen das erste Wort. Biblischer Überlieferung gemäß sind sie den Männern voraus in der Treue zu Jesus auch im Tod. Sie haben die Grablegung beobachtet, wollen ihn am Tag nach dem Sabbat salben und werden so erste Zeugen des leeren Grabes – Maria Magdalena Joh 20,1; gemeinsam mit Maria Jacobi im Evangelium Markus 16,1. Das befugt sie, den Männern den Vorwurf mangelnder Liebe zu machen (vgl. Matthäus 24,12). Diese aber halten ihnen vor, sie hätten nur aus Larmoyanz über den toten Jesus handeln wollen. Mit dem Tränen-Motiv spielt da die Salbung Jesu durch eine Sünderin hinein (Lukas 7,37 f.). Die Frauen erwidern im Wissen um das leere Grab barsch: Das Salben hat sich eh erübrigt.

    Als »Anima«, Stimme der Seele, artikuliert die Sopran-Maria in der Arie ihre österliche Erkenntnis. Nicht mehr Totensalbung mit Myrrhe (vgl. Joh 19,39) beruhigt das Gemüt einer Trauernden, vielmehr lebt sie nun in der Perspektive, Dank Jesu Auferstehung selber den himmlischen Kranz (1. Kor 9,25) zu erlangen. Denn allein sich mit Lorbeerkränzen schmücken, schicket sich für dein Erquicken hieß es 1725 in Anlehnung an das Lied Schmücke dich, o liebe Seele (BWV 180). Die Endfassung von 1745 nimmt auch noch das Verb prangen aus der ersten Liedstrophe und pointiert den Gegensatz. Nicht mehr Salbung des Toten durch Menschen ist gefragt, sondern Gott selbst schmückt die Seele mit dem österlichen Siegeskranz. Bachs Musik ist eine aparte, umfängliche Traversflöten-Arie in

    h-Moll

    (alternativ mit Violine zu besetzen), ursprünglich den hunderttausend Schmeicheleien der Schäferin Doris für ihren Herzog geschuldet. Jetzt entfaltet sie die Herzenshingabe der Seele als Braut an den himmlischen Bräutigam Jesus. Wohl wegen der fis- und

    e-Moll

    -Kadenzen im Mittelteil hat Bach 1745 die Sehnsucht-Metapher ängstliches Verlangen dem Erquicken vorgezogen.

    Das nächste Rezitativ ist ein Dialog am leeren Grab. Die Männer stehen sozusagen dumm davor, Maria Magdalena aber weiß Bescheid Dank ihrer Begegnung mit dem Engel (Mk 16,5 f.) und spricht die Osterbotschaft aus. Da entdeckt Petrus (nach Joh 20,6 f.) das vom Leichnam abgewickelte Schweißtuch als Auferstehungsbeweis, zentrales Sujet in Osterspielen. Auch bei der Auferweckung des Lazarus markiert das Ablösen von Binden und Schweißtuch die Rückkehr ins Leben (Joh 11,44). Diese Verbindung zu Lazarus ist wichtig, da er Prototyp aller Menschen ist, die an der Auferstehung Christi Anteil bekommen. Sein Tod ist wie der aller Christen nur ein Schlaf (Joh 11,11), und Christi Schweißtuch mutiert in österlicher Perspektive zum Erfrischungstuch für die Gläubigen (Satz 7)!

    Ein klangmalerisch reizvolles Schlaflied für die Schafe (Wieget euch, ihr satten Schafe, in dem Schlafe unterdessen selber ein), das der Hirte singt, um die Herde verlassen zu können zum Geburtstag am Hofe, kann Bach so transformieren in eine tröstliche Arie über den Tod als Schlummer. Der Ariensänger Petrus ist für solchen Trost besonders empfänglich, denn er hat Jesus verleugnet und darüber »bitterlich geweinet« (Mt 26,75), wie es Bachs Johannes-Passion mit der Textinterpolation aus Matthäus eindrücklich darstellt. In der zwei Tage zuvor aufgeführten Werkversion ist das Motiv der bittern Tränen in der neu aufgenommenen Arie Zerschmettert mich, ihr Felsen und ihr Hügel besonders gewichtet worden. Umso sprechender ist der Trost dieses Schlummerliedes in pastoraler Idylle – mit Dämpfer spielende Streicher, oktaviert von Blockflöten (vgl. BWV 81,1), Wonneseufzer-Diktion in Achteln und Sechzehnteln, großflächige Harmonik über langen Orgelpunkten, denen beim Sänger Liegetöne zu Schlummer (Vorlage: Schlafe) korrespondieren. Zu Beginn des Mittelteils wies in der Vorlage der Hirte mit dort die Schafe an eine Stelle mit jungem Rasen. Bach separierte dies als Fingerzeig mit Echo-Fortpflanzung in den Instrumenten. Demgemäß erklingt jetzt ein separiertes Ja, Indiz dafür, dass der Verfasser des Ostertextes die Vorlage-Musik genau kannte.

    Während jene nun einen Dialog zwischen Schäfer und Schäferin brachte, singen hier beide Frauen in paralleler oder imitatorischer Stimmführung. Sie sind gleichgesinnt, brennen danach (vgl. die Emmaus-Jünger Lukas 24,32), dem Auferstandenen direkt zu begegnen. Die Osterszenerie ist jetzt nur noch Hintergrundfolie. Im Anschluss an die Arie geht es um die Erwartung der Face-to-Face-Begegnung mit Jesus nach dem Todes-Schlummer jedes Christen. Die Formulierung ist an Hiob 19,25 f. (in Luthers heute getilgter Übersetzung) angelehnt, ein Locus classicus der Sterbekunst. Die Einlull-Bewegung der Arie kehrt Bach hier um in drängende, aufwärtsgerichtete Zweier-Sechzehntel des Continuo (

    14-mal

    ), die das Sehnsuchtswort im Arioso prägen.

    Die mitreißende

    A-Dur

    -Arie, ursprünglich Beschwörung lieblicher Frühlingswinde, fasst die unbändige Sehnsucht nach personaler Gemeinschaft mit Jesus in Mystikersprache aus dem Hohelied (3,1–4; 8,3). Die Osterszenerie vom Dialog der Maria Magdalena mit einem Mann, den sie für den Gärtner hält und nach Jesus fragt (»sage mir« Joh 20,15), bildet wieder nur den Hintergrund. Anders als in Weißenfels, wo eine gewöhnliche Oboe spielte, kann Bach in Leipzig die Oboe d’amore für den virtuosen Solopart einsetzen. Sie erreicht den ganzen Tonraum bis zum Grundton a und symbolisiert die Liebesbeziehung des Gläubigen (Altstimme) zu Jesus: welchen meine Seele liebt. Das den Satzcharakter prägende Leitwort geschwinde (Komm doch, Flora, komm geschwinde) steht auch in der Kopfzeile des Ostertextes, Komm als Intensivierung im Mittelteil. Dass religiöse Gefühle als solche stärker sind, zeigt die Intensivierung des Sehnsucht-Affekts mit verwaiset und betrübt, wozu Bach eine Schmerz-Fermate und vier plastische zusätzliche Adagio-Takte am Ende des Mittelteils ergänzt in den vom Kopisten geschriebenen Stimmen. Ebenso hat er das markante Saget auf die beiden Viertel des Hauptmotivs noch profilierter auch in den

    B-Teil

    eingetragen.

    Im letzten Rezitativ fasst der Johannes-Bass im Prediger-Habitus die affektmäßige Folge der Osterbotschaft zusammen: Wir sind erfreut, gesungen in Anlehnung an die Trompetenmotivik der Sinfonia. Wahre Freude integriert die Erinnerung an die Zeit der Traurigkeit (vgl. Joh 16,22), die nun passé ist. Jetzt sind Freudenlieder angesagt (vgl. V.15 im Osterpsalm 118 und den Anfang von BWV 66 am Ostermontag im Vorjahr), was zum Schlusschor im Tutti überleitet.

    Der erste Takt gehört den Triumph-Trompeten allein, dann fallen die anderen ein. Die Diktion mit triolisch belebten Vierteln ist dem zu Weihnachten 1724 komponierten

    D-Dur

    -Sanctus verwandt, später in die

    h-Moll

    -Messe übernommen. Bei der Wiederholung des Vorspiels mit Vokaleinbau singt der Bass zusammen mit den Trompeten die Devise Preis und Dank vor (Vorlage: Glück und Heil), die sinnfälligen Ligaturen auf bleibe sind konform mit der Vorlage (bleibe dein beständig Teil). Eine Art Mittelteil ohne Trompeten in

    h-Moll

    mit Kadenz nach

    fis-Moll

    (ebenso im Sanctus der

    h-Moll

    -Messe) ist jetzt sinnträchtig textiert mit Höll’ und Teufel sind bezwungen. Picander hatte für die Glückwunschkantate zwei daktylische Verse ans Ende gesetzt als Ringschluss zum Beginn. Demgemäß greift Bach den 3 / 

    8-Takt

    wieder auf und schließt mit einem kurzen Fugato, wo die hohe Trompete den krönenden fünften Einsatz bringt. Der Ostertext ist nun eindeutig eschatologisch, reißt den Himmel auf für die endzeitliche

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