Bachs Passionen: Ein musikalischer Werkführer
Von Gottfried Scholz
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Bachs Passionen - Gottfried Scholz
I. Einleitung – Passionsmusiken vor Bach
„Das Leiden unsers Herren Jesu Christi, wie uns das beschreibet der heilige Evangeliste ..." Mit diesen Einleitungsworten läßt Heinrich Schütz, der bedeutendste Vorgänger Bachs im Dienste der evangelischen Kirchenmusik, seine drei Passionen beginnen. Er fügt sich damit ein in eine jahrhundertealte Tradition, nach der die Passio Christi mit der feierlichen Quellenangabe des jeweiligen Evangeliums einsetzt. Das Sterben Jesu und die ihm vorausgehenden dramatischen Geschehnisse stellen in allen vier Evangelien den Höhepunkt der Darstellung seines Lebens und Wirkens dar. Trotzdem unterscheiden sich diese Schilderungen nicht nur im Wortlaut, sondern auch in Einzelheiten der Erzählung, ja auch in den zitierten Aussprüchen Jesu voneinander. Als Autoren der vier Evangelien werden von alters her Matthäus, Markus, Lukas und Johannes genannt. In der römischen Liturgie, die schon früh eine feste Zuordnung einzelner Evangelientexte zu den Festen und gewöhnlichen Tagen im Kirchenjahr vorsah, wurden die Passionsschilderungen der genannten Evangelisten in der Reihenfolge, in der sie im Neuen Testament aufscheinen, am Palmsonntag, Dienstag, Mittwoch und Freitag der Karwoche gelesen. Durch die herausragende liturgische Bedeutung von Palmsonntag und Karfreitag kam den Texten nach Matthäus (Kapitel 26 und 27) und Johannes (Kapitel 18 und 19) gegenüber denen nach Markus und Lukas eine größere Bedeutung zu, die sich auch noch im evangelischen Gottesdienst findet, obwohl dieser keine strenge Zuordnung der Evangelien zu bestimmten Kartagen normierte.
Es ist wohl anzunehmen, daß im römischen Kult ursprünglich die gesamte Passion von einem Kleriker niederen Ranges, dagegen im feierlichen Gottesdienst, den mehrere Geistliche zelebrierten, vom Diakon vorgetragen wurde. Dabei hatte sich der Rezitationston – der Ton des Sprechgesangs –, der auch für andere Evangelien üblich war, durchgesetzt. Die beachtliche Länge der Passionen mag dazu geführt haben, daß um der Plastizität des Vortrags willen im Text drei Deklamationsvarianten eingezeichnet wurden: für die Erzählung des Geschehens durch den Evangelisten, für die Worte Jesu und für die Einwürfe anderer Personen beziehungsweise des Volkes. Unterschiedliche Vortragsbezeichnungen dafür wurden nachweislich bereits gegen Ende des ersten Jahrtausends angewendet, wobei der Evangelist durch den Buchstaben C (celeriter – schnell; das C wurde später als Chronist gedeutet), die bedeutenden Worte Jesu durch T (tenere – aushalten, später durch + ersetzt) und die weiteren Personen (Soliloquenten) durch S (sursum – oben, höhere Stimmlage) gekennzeichnet wurden.
Diese verschiedenen Vortragsbezeichnungen legen die Vermutung nahe, daß sich die Rezitation auf drei Personen verteilte. Der liturgischen Hierarchie entsprechend, wurden die Worte Christi dem zelebrierenden Priester, die Worte des Evangelisten nach alter Gewohnheit dem Diakon und die Worte der übrigen Personen sowie des Volkes dem Subdiakon übertragen. Als Rezitationstöne wurden f für die Worte Jesu, c¹ für die Narratio (die Erzählung durch den Evangelisten), f¹ für die Soliloquenten und Turba (die Menge, also die Jünger und das Volk) festgelegt. Aus dieser Praxis heraus ist es erklärbar, daß die Worte Christi, deren profunde Bedeutung durch die Wahl der Stimmlage unterstrichen wird, von einem Baß, die Evangelientexte vom Tenor gesungen werden, während die Texte der Soliloquenten in verschiedenen Stimmlagen wiedergegeben werden können. Die Einwürfe des Volkes sind später mehrstimmig komponiert.
Mit Johann Sebastian Bach (1685-1750) beginnt nicht nur eine musikalische Entwicklung, mit der wir uns bis heute auseinandersetzen, mit ihm schließt auch die heterogene Stilepoche des 17. Jahrhunderts, deren unterschiedliche Charakteristika er zu hoher ästhetischer Einheitlichkeit verband. Die Passionen Bachs spiegeln diese unterschiedlichen Stilebenen und Kompositionspraktiken wider, doch wird uns dies erst voll bewußt, wenn wir sie auf derlei Traditionsmerkmale hin untersuchen. Somit scheint es angebracht, einem kurzen Rückblick auf die Geschichte der Passionsmusiken Raum zu geben.
Von der Funktion der Passionsrezitation in der römischen Liturgie ausgehend, war es vornehmlich die Aufgabe des Komponisten, den Gläubigen – und zwar selbst jenen, die des Latein unkundig waren – den langen Text auf verständliche Weise zu vermitteln. Das Wort hatte also Priorität, der syllabische Gleichklang der Rezitation auf den drei genannten Tonebenen wurde durch stereotype Interpunktionsfloskeln gegliedert, die, grammatikalisch gesehen, Punkt, Komma, Doppelpunkt und Fragezeichen verdeutlichen. In geringerem Maße kannte die ältere Rezitationspraxis auch eine melodische Hervorhebung besonders wichtiger Textaussagen, wie zum Beispiel die Worte Jesu „Eli, Eli lama asabthani?" (Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?). Solche deklamatorischen Praktiken waren durch die umfassenden Regeln der Rhetorik abgesichert und finden sich in verständlichen Varianten in den Passionsmusiken aller späteren Jahrhunderte wieder – so etwa auch in Krzysztof Pendereckis Lukas-Passion von 1965.
Obwohl Martin Luther sich gegen das „vier passionn singen" (‚Deutsche Messe‘, 1526) aussprach und die reine Lesung vorzog, war der emotionale Druck innerhalb der jungen evangelischen Gemeinden stark genug, um sie zu veranlassen, die frühere katholische Praxis nunmehr in der Landessprache weiterzuführen. Johann Walter (1496-1570), der in enger Abstimmung mit Luther die musikalische Gestaltung des reformierten Gottesdiensts entwarf, hat in seinen Passionen nach Matthäus und nach Johannes die Grundlagen für die weitere Entwicklung im protestantischen Deutschland geschaffen. Walter hielt sich einerseits an die geschilderten Rezitations-‚Töne‘ der lateinischen Vorläufer, änderte diese jedoch dort, wo es der Verständlichkeit der deutschen Sprache diente. Diese Übertragung auf die Landessprache kann mit der nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil üblich gewordenen Praxis verglichen werden, lateinische Gebete, so etwa das Pater noster (Vater unser), unter weitgehender Beibehaltung der ursprünglichen gregorianischen Melodie in deutscher Sprache zu singen.
Walter übernahm jedoch noch eine andere Praxis der älteren Passionsliturgie, nämlich die Worte der Turbae Judaeorum (Volk der Juden) – also einer Gruppe von Sprechenden – auch von mehreren Sängern im einfachen mehrstimmigen Satz vortragen zu lassen.
In dieser Tradition steht in Bachs Matthäus-Passion der akkordische „Barrabam"-Ruf, mit dem die Menge die Freilassung des Mörders Barrabas anstelle von Jesus fordert. Der eindrucksvolle Wechsel von Rede und Gegenrede, von Solopart und Choreinwurf mag dafür ausschlaggebend gewesen sein, daß dieser Passions-Typus die Bezeichnung ‚responsoriale Passion‘ (responsorium – Antwort) erhielt; damit ist die stilistische Neuerung stärker betont als im älteren Begriff ‚Choralpassion‘, der den Traditionszusammenhang zur Gregorianik unterstrich.
Neben der dargestellten Entwicklung, nach der die Passionen auf einstimmiger Rezitation aufbauen, hatte sich seit dem Ende des 15. Jahrhunderts der mehrstimmige Satz durchsetzen können. Dies begann zunächst mit einfachen, parallelgeführten Akkordfolgen zu den Worten des Volkes, wie der Soliloquenten, oder zum gesamten Text. Ein Beispiel dafür (siehe oben) bietet eine kurz nach 1500 entstandene und Antoine de Longueval zugeschriebene Passion aus Oberitalien. Bei diesem bedeutenden historischen Werk ist der lateinische Text allen vier Evangelien entnommen und harmonisch sinngebend zusammengefügt (‚Evangelien-Harmonie‘) worden. Noch immer scheint dort der alte Rezitationston durch das Gewebe des mehrstimmigen Satzes hindurch, der bald die Kunst eines melodisch ausgearbeiteten Kontrapunkts aufweisen sollte.
Da, kompositionstechnisch gesehen, hierbei die Nähe zur damaligen Motette gegeben ist, spricht man von einer ‚motettischen Passion‘, bei der die klare Gliederung des responsorialen Dialogs einer mehrstimmigen Vertonung der gesamten Passion weicht. Im protestantischen Bereich gilt die Johannes-Passion (1593) von Leonhard Lechner (1553–1606), einem Schüler von Orlando di Lasso, als herausragendes Beispiel dieses prächtigen polyphonen (mehrstimmigen) Typus. Lechners Textausdeutung zeigt auch die kunstvolle Anwendung rhetorischer Prinzipien durch musikalische Figuren, die den jeweiligen Wortsinn expressiv unterstreichen. Hierin erkennen wir eine später von Heinrich Schütz und von Bach angewendete Technik.
Der große stilistische Wandel in der Musikgeschichte, der um das Jahr 1600 von Italien aus seinen Ausgang nahm, erfaßte bald die Kompositionspraxis auch diesseits der Alpen. Der Melodie einer Solostimme wurde nun Vorrang eingeräumt, sie wurde von einem Baßfundament gestützt, das aus einem Akkordinstrument (Laute, Cembalo, Orgel), oft verstärkt durch ein tiefes Melodieinstrument (Violoncello, Fagott), bestand. Diese Kompositionstechnik, Monodie genannt, verdrängte das polyphone Stimmengeflecht und erzielte durch die einstimmige Satzweise mit Begleitung große Textverständlichkeit. Zunächst wurde dieses Verfahren als Secco-Rezitativ zur Grundlage der frühen Oper (Claudio Monteverdi), aber auch der italienischen Kantate und des Oratoriums. Die Gestaltung der Arie des späten 17. Jahrhunderts beruht gleichermaßen auf dem Prinzip der Monodie, nur hat hier die Musik gegenüber dem Text größere Bedeutung; melodiereiche Partien über wenige Worte oder gar über nur eine einzige Textsilbe erfordern von den Sängern großes Können und lösen daher bei den Zuhörern auch entsprechende Begeisterung aus. Zwischen den beiden monodischen Extremen des syllabischen Secco-Rezitativs und der melismatischen Arie – wir kennen solche Gegensätze aus den späten italienischen Opern Mozarts, beispielsweise aus ‚Le nozze di Figaro‘ – entstanden bald Zwischenstufen, bei denen mehrere hohe Melodieinstrumente (Violinen, Flöten, Oboen ...) mit dem Gesangspart dialogisieren. Dies führte zu Accompagnato-Rezitativen und Ariosi. Für die evangelische Kirchenmusik war dieser neue Stil zunächst untragbar, da er nach ihrem Geschmack der italienischen Oper zu nahe kam. Doch setzte er sich um das Jahr 1700 allmählich in Kantaten und dann auch in Passionen durch. Deren musikalische Nähe zum Oratorium führte zum Stilbegriff ‚oratorische Passion‘.
Die Passionen gehören als musikalische Gattung zu den Oratorien; beide erzählen eine Geschichte, ohne diese, wie in der Oper, auch dramatisch auf einer Bühne darzustellen. Während der Inhalt der Oratorien geistlichen oder weltlichen Ursprungs sein kann, konzentriert sich die Passion ausschließlich auf das Leiden und Sterben Christi. Dessen Betrachtung steht für die protestantische Kirche Deutschlands im Mittelpunkt des Jahreskreises; der Karfreitag ist für sie der größte Feiertag. Daher konnte sich die lutherische Konfession dem feierlichen und zeitgemäßen Stil, also dem Eindringen der Monodie in die Passionskompositionen, auf Dauer nicht verschließen. Sie stand damit im Gegensatz zur calvinischen Gemeinde, die sich der Musik gegenüber reservierter verhielt, ebenso wie zur katholischen Kirchenmusik, die von alters her den Gebrauch von Instrumenten in der Karwochenliturgie verbot und daher
