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Stasi-Terror: Sechs Schicksale im Schatten der Stasi
Stasi-Terror: Sechs Schicksale im Schatten der Stasi
Stasi-Terror: Sechs Schicksale im Schatten der Stasi
eBook284 Seiten3 Stunden

Stasi-Terror: Sechs Schicksale im Schatten der Stasi

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Über dieses E-Book

Sechs Menschen, sechs Schicksale. Jeder von ihnen geriet ins Visier der Stasi – und damit ins Spinnennetz des ebenso perfekten wie perfiden Geheimdienstes der DDR.
U.a.: Ein Mädchen wurde im Westen geboren und vom Jugendamt der DDR in den Osten geholt, um es zu seiner Mutter zu bringen. Doch wurde es wie seine Geschwister von einem ostdeutschen Kinderheim ins nächste gesteckt – abgestempelt, eingesperrt, geschlagen und erniedrigt.
Ein junger Mann aus dem Westen zog aus, um seine Jugendliebe bei der Flucht aus dem Osten zu helfen. Doch die Staatssicherheit der DDR kannte längst jeden seiner Schritte und verhaftete ihn, verhörte ihn und sperrte ihn ein Jahr lang ein. Seine Zivilcourage musste er mit Folter und lebenslangen Schmerzen bezahlen.

Eine junge Mutter trennte sich von ihrem gewalttätigen Mann, der offensichtlich inoffiziell für die Stasi arbeitete. Daraufhin wurde ihr vom ostdeutschen Jugendamt ein Kind nach dem anderen weggenommen; das dritte und jüngste Kind wurde gar mit Hilfe des Kinderarztes aus dessen Praxis entführt und sie wurde später gezwungen, es zur Adoption freizugeben.
Und eine Familie wurde in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus ihrem Zuhause gerissen, weil sie zufällig zu nahe an der Grenze lebte, enteignet und in eine Bruchbude mit Ratten zwangsumgesiedelt.
Sechs Menschen, sechs erschütternde Schicksale, die keine Einzelfälle sind, sondern die für unzählige Schicksale von Menschen der ehemaligen DDR stehen.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum2. März 2015
ISBN9783899604269
Stasi-Terror: Sechs Schicksale im Schatten der Stasi

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    Buchvorschau

    Stasi-Terror - Johanna Ellsworth

    Johanna Ellsworth

    in Zusammenarbeit mit sechs Co-Autoren

    Stasi-Terror

    Sechs Schicksale im Schatten der Stasi

    Laumann-Verlag

    Abdruck des Textes »Entwurzelt« von E. O. Schönemann mit freundlicher Genehmigung des OEZ Berlin-Verlags. Das Manuskript wurde von E. O. Schönemann vor Veröffentlichung seines Buchs »Der Wurzeln beraubt«, OEZ Berlin-Verlag (2011) für das Buchprojekt »Und findest du kein Futter mehr« zur Verfügung gestellt und von Johanna Ellsworth lektoriert. Teile des Textes »Entwurzelt« entsprechen Buchabschnitten in »Der Wurzeln beraubt«.

    Das vorliegende E-Book ist als Print-Produkt unter dem Titel: »Und findest du kein Futter mehr« mit folgender

    ISBN 978-3-89960-380-4 im Buchhandel erschienen.

    © 2015 by Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, 48249 Dülmen

    Gesamtherstellung:

    Laumann Druck & Verlag GmbH & Co. KG, Postfach 1461

    48235 Dülmen

    ISBN 978-3-89960-426-9

    info@laumann-verlag.de

    www.laumann-verlag.de

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort von Rainer Wagner,

    Bundesvorsitzender der UOKG

    Vorwort der Autorin

    Eingeschläfert

    Entführt

    Eingekreist

    Erzogen

    Eingesperrt

    Entwurzelt

    Glossar

    Fußnoten

    Quellenverzeichnis

    Frecher Spatz,

    grauer Matz,

    schimpfst du noch so sehr,

    findest du kein Futter mehr.

    alter Kinderreim

    (Verfasser unbekannt)

    Vorwort

    In Deutschland, einschließlich der ehemaligen DDR, ist in den letzten 20 Jahren eine Generation herangewachsen, für die Demokratie und Freiheit so selbstverständlich sind wie die Luft zum

    Atmen.

    Rede-, Reise- und Meinungsfreiheit werden von niemandem bestritten. Das Wahlrecht, über das jeder Einzelne Einfluss auf die Entwicklung der Politik nehmen kann, wird in unseren Tagen durch Elemente der direkten Demokratie wie Volks- und Bürgerentscheide ergänzt. Datenschutz, die Unversehrtheit der Wohnung, Telefon- und Postgeheimnis sind ebenso staatlich verbürgt wie das Versammlungs- und Demonstrationsrecht. Seit Jahren werden auch die von Helmut Kohl einst angekündigten blühenden Landschaften immer mehr erkennbar. Manche restaurierte Innenstadt im Osten unseres Vaterlandes wirkt fast schöner als bestimmte Regionen der alten Bundesrepublik. Dies alles ist Grund zur Dankbarkeit.

    Allerdings wird immer deutlicher, dass unsere Gesellschaft den Fokus auf das Erreichte richtet, dabei aber das Leid der Opfer der kommunistischen Gewaltherrschaft vergisst. Die mehr als 40 Jahre geistiger Knebelung und äußerer Unterdrückung in der Sowjetischen Besatzungszone und der DDR werden als Episode der Geschichte oft nur noch an den wenig öffentlichkeitswirksamen Gedenktagen erwähnt. Das Verdrängen und die Unwissenheit über die Verhältnisse im Unrechtsstaat DDR führen zu dem Phänomen, dass ehemalige Mitglieder der für die DDR-Verbrechen verantwortlichen Staatspartei SED unter dem Namen DIE LINKE heute in den Kommunen, in Landesregierungen und über den Bundestag in ganz Deutschland wieder zu politischem Einfluss gekommen sind. Die Träger des DDR-Repressionsapparates erfreuen sich satter Altersversorgungen oder sind wieder in Amt und Würden. Stasi-Zuträger finden sich im Bildungswesen, in Landesregierungen, bei der Polizei und Justiz, ja sogar in den für die DDR-Aufarbeitung zuständigen Institutionen. Die Morde und anderen Menschenrechtsverletzungen, die im Namen der kommunistischen Ideologie zwischen Elbe und Oder begangen wurden, hat man juristisch nie befriedigend aufgearbeitet. Frech brüsten sich viele Täter von einst ihrer Schandtaten.

    Gleichzeitig sind Opfer des SED-Staates und dessen perversen Stasi-Instruments bis heute von ihren Leiden gezeichnet. Viele mühen sich vergeblich um Anerkennung der offensichtlichen Haft- und Zersetzungsfolgen. Weder das vom SED-Regime gestohlene Eigentum noch die zerstörten beruflichen Perspektiven oder verlorenen Jahre konnten vom vereinten Deutschland adäquat ersetzt werden.

    Weder die Tausenden Toten an Mauer, Minenfeld und Stacheldraht noch die Hunderttausenden politischen Häftlinge und Opfer von Stasi-Willkür und politischer Knebelung dürfen vergessen werden. So wie vielen Deutschen erst 20 bis 30 Jahre nach dem Untergang der NS-Diktatur das Ausmaß der Nazi-Verbrechen klar wurde, muss heute, 20 Jahre nach dem schmählichen Untergang des kommunistischen Experiments in Deutschland, der Gesellschaft der verbrecherische Charakter des SED-Staates klar werden. In diesem Erkenntnisprozess haben Zeitzeugenberichte der Opfer eine ebenso wichtige Funktion wie eine objektive historische Forschung. Die Zeitzeugen sind dabei in der Lage, neben Geschichtswissen auch die dringend notwendige Empathie und Betroffenheit besonders bei der Jugend zu erwecken. Nur so kann einer linken Geschichtsverfälschung und einer gezielt eingesetzten DDR-Nostalgie entgegen getreten werden.

    Unterjochung und Bespitzelung, millionenfaches Leid, Zuchthäuser und Straflager waren die Kennzeichen der DDR. Dieses authentisch in der Erinnerung zu behalten und ein verklärtes DDR-Bild als das zu entlarven, was es ist, eine große Lüge, dient auch dieser Berichtsband.

    Dankbarkeit für unseren Rechtsstaat und unsere Demokratie mit all ihren Unvollkommenheiten, an denen wir arbeiten müssen, zu wecken, kann dieser Zeugnisband ebenso befördern.

    Ich wünsche ihm eine breite öffentliche Beachtung, besonders auch unter der jungen Generation.

    Rainer Wagner

    Bundesvorsitzender

    der UOKG

    Vorwort

    Dies sind die Schicksale ganz gewöhnlicher Menschen.

    Sie haben in der DDR gelebt. Sie waren nicht »politisch«, sie waren nicht »aufrührerisch« und sie waren auch nicht »gegen das sozialistische Gedankengut«.

    Sie waren nur Menschen, die ihr eigenes Leben leben wollten, die sich selbst verwirklichen wollten, die sich ihre innere Freiheit nicht nehmen lassen wollten.

    Als sie irgendwann irgendetwas Harmloses sagten oder taten, das für ihren Staat schon zu frei oder individuell war, wurde dies von irgendjemandem an die Staatssicherheit weiter gemeldet. Und so wurden sie allmählich über die Jahre immer mehr zu Staatsfeinden gemacht – gegen ihren Willen und anfangs auch, ohne es zu ahnen.

    Sie ahnten nicht, dass sie in einer Diktatur lebten, bis sie an die engen Grenzen ihrer persönlichen Freiheit stießen. Erst dann dämmerte ihnen, dass die Mauer rund um ihr Land nicht nur dazu diente, »die DDR vor feindlichen Elementen zu schützen«, wie es offiziell immer hieß, sondern dass sie vor allem die Menschen davon abhalten sollte, ihr Land zu verlassen.

    Ich habe die Geschichten dieser Menschen so aufgeschrieben, wie sie mir erzählt wurden. Es ist ihre Sprache. Es sind ihre Berichte. Ich habe sie nur etwas geordnet, zusammengefasst, versucht, das Wesentliche zu erfassen, das feine, unsichtbare Muster zu erkennen, das all diese Schicksale teilen. Dieses Muster gleicht einer Spinnwebe, die

    diese Menschen mit zarten, doch festen Fäden immer mehr einwickelte, ihnen die Kehle abschnürte, ihnen die Luft zum Atmen nahm.

    Nach außen hin war es kaum zu erkennen, dieses unsichtbare und doch so wirksame Netz. Man muss schon genau hinsehen, um es zu erkennen. Doch wenn man genau hinsieht, kann man deutlich erkennen, wie paranoid dieser Unrechtsstaat war. So paranoid, dass er jeden Andersdenkenden beschnüffeln und ausspionieren, bespitzeln und abhören ließ, unter jede Bettdecke, hinter jede Wand, in jede Seele schaute, um alles auszumerzen, was nach anderen, freieren Gedanken aussah.

    Und das natürlich mit deutscher Gründlichkeit.

    Es war mir ein Anliegen, diese Geschichten aufzuschreiben, einfach weil sie aufgeschrieben werden müssen. Und ich wollte sie so aufschreiben, dass man sie auch versteht, ohne Ossi zu sein, ohne im Jargon von wissenschaftlichen Dissertationen bewandert oder ein Experte in der offiziellen Behördensprache der DDR zu sein.

    Das war nämlich eine Geheimsprache.

    Wie Zeitzeugen mir sagten, war diese geschwollene, hässliche, verstaubte Behördensprache sogar gewollt. Es war die Sprachmauer. Wie die Mauer aus Stein grenzte sie die DDR vom kapitalistischen Feind BRD ab. Und wie die Steinmauer hielt auch die Sprachmauer die Menschen gefangen. Hinter dieser Mauer aus sperrigen langen Sprachbacksteinen wie operative Psychologie, Betriebsparteiorganisation oder Bezirksparteileitung und Buchstabenschotter wie LPG, GMS, IM oder AKG ließ sich das Unrecht des Staats gegen seine Bürger bequem verstecken und verschleiern. Denn was die Außenwelt nicht versteht, das gibt es für sie auch nicht.

    Während die Zeitzeugen mir ihre Schicksale erzählten, stolperte ich immer wieder über diese Sprachmauer. Ich meine, was verbirgt sich wirklich hinter operativer Psychologie? Was lauert hinter den Gardinen einer konspirativen Wohnung? Und was zum Teufel soll eine Betriebsparteiorganisation sein? Hat ein AU was mit der Abgasuntersuchung zu tun (nicht wirklich) oder ein HIM mit einem IM (irgendwie schon)? Und nein, Zersetzung¹ ist nicht der chemische Prozess, der eintritt, wenn man Gummibärchen in Cola legt. Aber sie hat eine ziemlich ähnliche Wirkung.

    Mir wurde bald klar, wenn ich schon beim Aufschreiben über diese Stolpersteine stürze, dann wird es dem Leser, der weder Ossi noch Wissenschaftler noch Historiker ist, beim Lesen nicht viel besser ergehen. Und ich wollte nicht, dass sich wieder einmal nur der geschlossene Kreis der Opfer angesprochen fühlt, die dann sagen »Ja, ja, so war es«, und der elitäre Kreis der einstigen Täter, die dann sagen »Nein, nein, das ist alles nicht wahr«. Also beschloss ich, die ostdeutsche Amtsdeutschmauer einzureißen, indem ich diese tödlichen Wortfallen so gut es ging nach hinten verbannte, in ein kurzes Glossar, eine Art Stasi-Sprachgefängnis.

    Da machen sie sich ganz gut, die paar Mauersteine, die ich gesammelt habe.

    Ich habe mir erlaubt, viele dieser Sprachfallen in den Zeitzeugenberichten ins Westdeutsche zu übersetzen und jeweils kursiv zu setzen. Das heißt, wenn Sie zum Beispiel den Begriff russische Studenten lesen (ohne darüber zu stolpern), können Sie (ohne es zu müssen) im Glossar den dazu passenden Begriff der ostdeutschen Behördensprache nachschlagen, nämlich sozialistische Studentenbrigade.

    Die Opfer dieser Diktatur wurden lange mundtot gemacht, erst in ihrem eigenen Land und später – auch durch diese Sprachmauer – im ganzen Land. Wer durch menschenverachtende Erlebnisse an Körper und Seele schwer traumatisiert, das heißt wie gelähmt, ist und dann noch mit Stasi-Akten, ausgedünnten Stasi-Akten oder gar verschwundenen Stasi-Akten gegen westdeutsche Behörden mit ihrer eigenen west- deutschen Amtssprache ankämpfen muss und nur Wortbriketts wie Zuzugsgenehmigung oder Zuführlager zur Verfügung hat, um sich stammelnd dort verständlich zu machen, wo andere oft gar nicht verstehen wollen, der hat keine Chance, wirksam gegen seine Täter von damals vorzugehen, die heute in satten Posten sitzen – oft wieder in denselben gut gefütterten Behördensesseln wie damals. Nur tragen diese Leute heute einen westdeutschen Behördentitel. Und diese Leute haben kein Interesse daran, dass ihre Opfer von damals auspacken und verstanden werden. Denn dann wären ihr guter Ruf und ihre gute Position, ihr angemessenes Eurogehalt und ihre unangemessene Ehrenrente gefährdet, weil dann die bundesdeutsche Öffentlichkeit vielleicht doch nicht mehr bereit wäre, diesen Skandal weiterhin schweigend zu schlucken.

    Der Skandal, das ist die Tatsache, dass die Täter von einst, statt jemals zur Rechenschaft gezogen worden zu sein, jedes Jahr an Sonderrenten und Ehrenrenten ein Vielfaches von dem kassieren, was ihre Opfer im Jahr vom deutschen Staat erhalten. Der Täter sind es viele, doch die Zahl ihrer Opfer ist um ein Vielfaches höher. Die geschätzte Zahl beträgt insgesamt allein 700.000 Häftlinge in berüchtigten Stasi-Gefängnissen und möglicherweise mehrere Millionen Bespitzelungs- und Zersetzungsopfer, Opfer von Zwangsadoptionen², von Zwangsumsiedlungen und Psychiatrieeinweisungen, alles aus politischen Gründen wohlgemerkt. Obwohl es ein Vielfaches an Opfern im Vergleich zu den Tätern gibt, ist die Summe der jährlichen Steuergelder, die den Tätern in Form von Sonderrenten heute zugute kommen, genau umgekehrt – nämlich um die 40 Mal so hoch wie die gesamten Entschädigungsansprüche für die Opfer.

    Schwer traumatisierte Menschen können sich nicht einfach so aufrappeln und eine Karriere im Westen aufbauen. Erst müssen sie jahrelang um eine Entschädigungsrente kämpfen, die so lächerlich niedrig ist, dass sie eher eine Ohrfeige als eine Wiedergutmachung ist – eine Durchschnittsrente von 130 – 170 Euro im Monat. Und dann müssen sie, wenn ihnen überhaupt irgendwann aufgegangen ist, dass hinter ihren zahlreichen körperlichen und psychischen Symptomen in Wahrheit ein Trauma steckt, eine Traumatherapie von der Krankenkasse erkämpfen. Auch das dauert Jahre. Aber bis heute gibt es kaum Therapeuten, die sich auf Traumata spezialisiert haben, die durch das Unrecht der DDR-Diktatur entstanden sind. Ja, die meisten Therapeuten haben immer noch keine Ahnung, was da drüben mit den Menschen überhaupt gemacht wurde – Gummibärchen in Cola und so weiter.

    So bleiben die Opfer von damals weiterhin mundtot, während ihre einstigen Täter ihnen grinsend über den Weg laufen und »nichts bereuen«, wie genug von ihnen frech – und frei – vor der Kamera ausgesagt haben. Denn da, wo schwere und schwerste Straftaten wider die menschliche Freiheit und Würde, körperliche Unversehrtheit und berufliche Entfaltung, Familie und Eigentum begangen wurden, ohne als Straftaten geahndet und gesühnt zu werden, gibt es ja auch nichts, was Täter bereuen müssten.

    Und in einem Land, in dem sein 60jähriges Bestehen mit einer Fernsehsendung gefeiert wird, die sich Wir sind Deutschland nennt, zu der Hochzeitspaare eingeladen und Stasi-Opfer kurzfristig vom Sender wieder ausgeladen werden mit der Begründung, ihre Schicksale würden »nicht in die Sendung passen« – nun, in so einem Land braucht sich wahrlich kein Täter vor seiner gerechten Strafe zu fürchten.

    Dieses Buch wurde geschrieben, um gegen den schleichenden Mundtod anzukämpfen, der sich seit zwanzig Jahren in unserem Land ausbreitet, in einem Land, in dem erst seit ein paar Jahren damit begonnen wurde, diese Epidemie hier und da ein wenig einzudämmen. In einem Land, in dem jeder, der nach der Lektüre dieser Lebensgeschichten immer noch behauptet, die DDR sei keine Diktatur gewesen, die Demokratie nicht verdient hat.

    Denke ich frech und frei.

    – die Autorin

    Anmerkung

    Die ausgewählten Zeitzeugen sind dem Stasiopfer-Netzwerk e.V. bekannt. Ihre Schilderungen sind glaubhaft, und vieles können sie durch ihre Stasi-Akten und sonstige Dokumente nachweisen. Bis auf den Zeitzeugenbericht von E.O. Schönemann, dessen schriftlichen Text ich lektoriert habe, wurden mir die Berichte mündlich übermittelt. Ich stellte Fragen, fühlte mit und spürte, wie sehr es die Beteiligten aufwühlte, sich an Vergangenes und Verdrängtes zu erinnern. Die vorliegenden Texte sind zum größten Teil ihre

    eigene Sprache und absolut authentisch. Als Schutz vor möglichen Repressalien früherer Täter wurden ihre Namen auf Wunsch zum Teil geändert und in diesem Fall mit einem Sternchen versehen. Auch wurden die meisten Namen anderer Personen, die im Text erwähnt wurden, geändert. Als unwissender Wessi übernehme ich keine Haftung für die Richtigkeit der Angaben, die mir gemacht wurden, auch wenn ich weiß, dass sie richtig sind und der Wahrheit über die Verhältnisse in der ehemaligen DDR nach bestem Wissen und Gewissen entsprechen, soweit sich diese rekonstruieren lässt.

    – die Autorin

    W. Schellenberg

    Eingeschläfert

    Ich stamme aus einer Bauernfamilie.

    Ich wurde in dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg zu Ende ging, zwischen Weihnachten und Silvester in Jena geboren.

    Mein Vater war Landwirt, und so wuchs ich auf dem Dorf in der Nähe von Jena auf. Meine Kindheit war noch in Ordnung; es war eine behütete Kindheit, ich kam in die Schule, dann in die Oberschule und bereitete mich auf das Abitur vor. Mein Lebenstraum war, später irgendeinen Beruf auszuüben, der mit Luftverkehr zu tun hatte. Aber in der DDR durfte man sich nicht einfach selber seinen Beruf aussuchen. Wer auf dem Dorf aufwuchs, brauchte eine Genehmigung des Landkreises, um seine Berufsausbildung außerhalb des Landkreises machen zu können. Wenn den Behörden also jemand nicht passte, konnten sie verwaltungstechnische Gründe vorschieben, um seine Ausbildung – oder die seiner Kinder – zu verhindern. Gegen mich lag jedoch nichts vor, und so bin ich sozusagen durch das System hindurchgerutscht. Ich durfte meine Ausbildung außerhalb unseres Landkreises machen, aber es gab auch Leute, die gezwungen wurden, landwirtschaftliche Berufe zu ergreifen, weil sie auf dem Dorf aufgewachsen waren. So sollte eine Landflucht verhindert werden. Es war Ende der 50er Jahre, die landwirtschaftlichen Genossenschaften wurden aufgebaut, und da brauchte man genügend Arbeitskräfte.

    Ich aber hatte Glück. Meine Familie war auch nicht politisch »auffällig«. Meine Mutter engagierte sich zwar stark für die Kirche und war auch in der Synode, aber man hat sie nicht angegriffen. Auch deshalb, weil sie auf anderem – das heißt auf politischem – Gebiet nicht auffällig war. Es gab unter den Gläubigen zwei Richtungen: den »kirchlichen Sozialismus« der Unkritischen und die Regimekritiker der kritischen Christen. In den sechziger Jahren trennte sich ein Teil der DDR-Kirche von der Evangelischen Kirche Deutschland ab. Auch in der Kirche entwickelten sich politische Kräfte, die ein Ableger der SED waren. Sie predigten Blockflöte und Sozialismus von der Kanzel herunter. Aber es gab auch eine Reihe von Pfarrern, die dem Regime gegenüber kritisch eingestellt waren.

    Als ich dreizehn war, stellte sich für uns die Frage, ob ich die Jugendweihe mitmachen sollte oder nicht. Durch die Jugendweihe sollten die Jugendlichen sich schon frühzeitig an den Staat und die sozialistische Überzeugung binden. Dies wurde nicht etwa plump, sondern ziemlich geschickt gemacht, denn die Jugendweihe lockte mit einem großen Abschlussfest, auf dem man dann sein Treuegelöbnis ablegte. Vorher wurden die Jugendlichen eingehend auf das Erwachsenenalter vorbereitet, besuchten Vorträge, Theaterbesuche, Betriebe und unternahmen auch ganz »harmlose« Dinge wie philosophische Diskussionen. Sie durften sich sogar gemeinsame Unternehmungen wünschen.

    Wir hielten eine Art Familienrat, an dem die westdeutschen Geschwister meines Vaters teilnahmen, die extra deswegen angereist waren und meinen Vater bedrängten, mich nicht zur Jugendweihe zu schicken, weil ich dadurch unter den kommunistischen Einfluss geraten würde. Sie drohten sogar, uns nicht mehr mit Päckchen und anderen Annehmlichkeiten aus dem Westen zu unterstützen, wenn ich doch an der Jugendweihe teilnehmen würde.

    Aber um nicht aufzufallen, musste ich an der Jugendweihe teilnehmen. Schließlich wollte ich doch meinen Traumberuf ergreifen. Der Familienrat fand dann einen Kompromiss: Ich würde mich zwei Jahre später auch noch konfirmieren lassen.

    In unserer Klasse gab es auch Katholiken, die sagten: »Für uns kommt die Jugendweihe nicht in Frage.« Das waren Umsiedler, die alle sehr zusammenhielten und die Jugendweihe geschlossen ablehnten. Später wurde jedoch klar, dass es für uns Kinder negative Folgen haben würde, wenn wir nicht an der Jugendweihe teilnahmen. Der Schulleiter kam zu uns nach Hause und sagte: »Wenn Sie Ihren Sohn nicht zur Jugendweihe schicken, müssen Sie damit rechnen, dass er keine weiterführenden Schulen besuchen kann.« Das war regelrechte Erpressung. Die Schulleiter waren allesamt Parteigenossen – sie hätten sonst gar nicht Schulleiter werden dürfen – und hatten die Auflage, dass alle ihre Schüler an der Jugendweihe teilnahmen. Auch wollten sie glänzen, indem ihre Schule zu hundert Prozent bei der Jugendweihe dabei war. Sogar heute noch ist die Jugendweihe in den neuen Bundesländern mehr verbreitet als die Konfirmation. Es gab zur Jugendweihe Geldgeschenke und Sachgeschenke von den Verwandten, was für die jungen Menschen natürlich der besondere Anreiz war. Dafür musste man statt des Gelöbnisses an Gott ein Gelöbnis an den Sozialismus und das Regime ablegen. Die DDR-Philosophie beruhte ja auf der materiellen Grundlage. Da passte die christliche Gesinnung nicht ins Weltbild³. Um dem christlichen Glauben entgegenzuwirken, wurde die Jugendweihe ungefähr ab 1956 eingeführt. Heute richtet sich die Jugendweihe nach der humanistischen Gesellschaft der zwanziger Jahre aus, und sehr viele ehemalige DDR-Bürger haben immer noch keinen Zugang zum christlichen Glauben.

    Ich ging also dann zur Jugendweihe. Natürlich wollte ich zum Flughafen, und da ich meinen Wunsch äußern durfte, machte meine ganze Klasse einen Ausflug zum Flughafen Berlin-Schönefeld.

    Unsere Westverwandten hingegen wollten, dass ich in der Schule der einzige wäre, der die Jugendweihe verweigerte. Aber das konnte ich nicht tun, denn dann wäre ich nicht nur in der Schule ausgegrenzt worden, sondern hätte mir auch meine Berufschancen zerstört. Also fanden wir diese Lösung, nämlich erst die Jugendweihe und dann die Konfirmation. Durch meine Konfirmation zwei Jahre später entstanden mir noch keine Nachteile.

    Offenbar war sie von der Stasi unbemerkt geblieben.

    Wie ich wusste, brauchte man ein Fach mit Verkehrswesen und das Abitur, um sich anschließend an der Hochschule für Verkehrswesen in Dresden einschreiben zu können. Ich bemühte mich also um eine Fachrichtung im Verkehrswesen. Nach der zehnten Klasse der Oberschule schloss ich das Abitur 1965 mit gleichzeitiger Berufsausbildung als E-Lokfahrer erfolgreich ab. Das klappte aber nicht sofort. Ich musste ein Jahr warten, doch dann wurde vom Ministerium für Staatssicherheit grünes Licht gegeben. Die Stasi hatte mich erst überprüft – daher das Jahr Wartezeit –, doch damals fiel diese Prüfung zu meinen Gunsten aus, und auch meine Eltern boten keinen negativen Hintergrund.

    Noch war ich für die Stasi ein unbeschriebenes Blatt.

    Die Nische

    Erst im Studium wandte ich mich wieder aktiv der Kirche zu.

    Ich sah die Gemeinde der Studenten als meine Freizeit an. Das war die so genannte Nische, die ich mir suchte. Hier arbeiteten evangelische und katholische Studenten zusammen, und es war eine warme Nische. Die Ökumene habe ich immer als sehr angenehm angesehen. Hier war man gegen den »materiellen Feind« – den Sozialismus – geschützt, dessen Umrisse als Feind ich noch kaum wahrnahm. Die kirchliche Gemeinschaft unter den Studenten war ein Gegengewicht gegen den Staat, mit dem ich nichts zu tun haben wollte. Immerhin war in der Verfassung der DDR die Religionsfreiheit garantiert. Darauf beriefen wir uns.

    Doch das DDR-Regime war paranoid. Die Behörden – und natürlich ganz besonders die Stasi – haben überall den Feind gewittert, während ich selbst noch ahnungslos schlummerte. Im Grunde war die Mauer nur dazu da, um die wirtschaftlichen Verhältnisse in der DDR zu stabilisieren. Menschlich lässt sie sich überhaupt nicht erklären. Vor dem Bau der Mauer, die 1961 in der

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