Im Dienste des Rechts: Der oberste Richter der DDR erinnert sich
Von Günther Sarge
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Über dieses E-Book
In seiner Autobiografie berichtet Günther Sarge als einst höchster Militärrichter und schließlich Präsident des Obersten Gerichts über seinen Lebensweg, insbesondere aber über seine Erfahrungen mit der westdeutschen Justiz.
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Buchvorschau
Im Dienste des Rechts - Günther Sarge
Das Buch
Im Juni 1993 wurden erstmals ein DDR-Richter und eine Staatsanwältin verurteilt. Es war der Auftakt des juristischen Feldzuges gegen die DDR-Justiz und ihre Vertreter. Allein gegen Sarge, der in Schwerin als Zeuge geladen war, eröffnete man zwischen 1993 und 1996 sieben Ermittlungsverfahren, drei führten zu Anklagen. Sarge folgte jeder Ladung, verweigerte aber die Aussage.
Hier nun äußert er sich erstmals ausführlich zur Sache und zur Person. Der einst oberste Richter der DDR wirft einen kritischen Blick zurück und auch einen auf die Gegenwart. Sein Urteil lautet in vielem: So etwas hätte es in der DDR nicht gegeben! Den Begriff »Siegerjustiz« gebraucht er dabei übrigens nicht, doch die Machtverhältnisse sind für ihn klar.
Der Autor
Günther Sarge, Jahrgang 1930, aufgewachsen in Ostpreußen, nach dem Krieg Landarbeiter in Brandenburg, 1949 Eintritt in die Volkspolizei, später NVA, letzter Rang Generalmajor. Jurastudium von 1954 bis 1958 und Promotion 1961. Danach fünfzehn Jahre tätig als Militärjurist. Als Chef des Militärkollegiums des Obersten Gerichts höchster Militärrichter der DDR. 1. Vizepräsident des Obersten Gerichts seit 1978, Präsident ab 1986. Von 1985 bis 1990 war Sarge auch Präsident der Juristenvereinigung der DDR. Rücktritt von allen Funktionen Anfang 1990. 1993 Gründungsmitglied der »Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e. V.« (GRH). Sarge ist verheiratet und lebt in Kagel bei Berlin.
Impressum
ISBN eBook 978-3-360-51012-9
ISBN Print 978-3-360-01844-1
© 2013 edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin
Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin
Das Neue Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Neue Grünstr. 18, 10179 Berlin
Die Bücher der edition ost und des Verlags Das Neue Berlin
erscheinen in der Eulenspiegel Verlagsgruppe
www.edition-ost.de
Günther Sarge
Im Dienste des Rechts
Der oberste Richter der DDR erinnert sich
»Du musst hören beede«
Von Freunden und Verwandten bin ich gefragt worden, weshalb ich es mir mit 80 Jahren antue, ein solches Buch in Angriff zu nehmen.
Ursprünglich sollten meine Aufzeichnungen den Söhnen und Enkeln verdeutlichen, wie ihr Vater und Großvater gelebt und gewirkt hat. Im Laufe der Jahre entstanden Schritt für Schritt Seiten für ein Buch. Hinzu kam die Erkenntnis, dass wir, die Zeitzeugen, unwiderruflich wegsterben und das Feld unseres Lebens und Handelns in der DDR den Historikern und, schlimmer, den notorischen Verleumdern überlassen müssen. Wir sind es unseren Nachkommen schuldig, die Wahrheit, aber auch die Widersprüchlichkeit der Existenz und des Lebens in der DDR zu bezeugen.
Ich habe viel erlebt. In der Weimarer Republik geboren, habe ich das Nazireich als Schüler und im Kriege erlebt, die schlimmen Nachkriegsjahre durchlitt ich in Berlin und Brandenburg, und von Anfang bis Ende der DDR stand ich in ihrem Dienste. Bundesbürger wurde ich gegen meinen Willen.
Die »Vereinigung« – nunmehr über zwanzig Jahre her – betrachte ich nach wie vor mit großem Zwiespalt. Den Begriff »Wiedervereinigung« halte ich für irreführend. Wieder vereinigt kann nur werden, was früher vereint war. Eine Wiedervereinigung im Sinne des Jahres 1937, bevor ein Abkommen in München geschlossen worden war, gab es nicht. Damals gehörten auch Ostpreußen, Pommern, Schlesien usw. dazu. Und in der Gestalt der Jahre nach 1938 schon gar nicht, denn dann würde auch Österreich dazugehören. Auch die BRD und die DDR waren bei ihrer jeweiligen Gründung nicht »vereinigt« oder geeint.
Eine Vereinigung im Sinne des Völkerrechts hat nicht stattgefunden. Dazu hätten zwei Staaten gehört, die sich auf Augenhöhe begegnet wären, was nicht der Fall war – obgleich doch beide souveräne Völkerrechtssubjekte und gleichberechtigte Mitglieder der UNO waren.
Profan gesagt war es ein Anschluss, eine Vereinnahmung.
Als der Ministerpräsident des Landes Brandenburg 2010 das so feststellte und in einem Spiegel-Gespräch die westdeutsche »Anschlusshaltung« scharf kritisierte, schrie das konservative deutsche Lager auf und attackierte Platzeck mit Verweis auf den Anschluss Österreichs im Jahre 1938. Wer sich den Anschluss von damals jedoch genau ansieht, wird feststellen, dass jener, im Verhältnis zu dem, was mit der DDR geschah, völlig anders verlief. Es waren damals die gleichen kapitalistischen Brüder und Interessen, die Elite wurde nicht angetastet, das sogenannte Bildungsbürgertum ging nahtlos in das »Dritte Reich« ein, Armee, Polizei, Justiz, das Beamtentum und selbst die Geheimdienste dienten fortan treu dem Naziregime. Also, gleiche Brüder, gleiche Kappen!
Alles, was man den Bürgern der DDR nach 1990 angetan hat – Deindustrialisierung, Massenarbeitslosigkeit, kalte Enteignungen, juristische Verfolgung in Größenordnung, Berufsverbote, Ausschaltung der Eliten in großem Maßstab und anderes mehr –, gab es bei dem Anschluss Österreichs nicht.
Worum es nach 1990 in Deutschland ging und was man in der Praxis durchsetzte, hat die ehemalige US-Außenministerin der Bush-Regierung, Condoleezza Rice, im Spiegel 39/2010 deutlich gemacht: »Aber es wäre unvorstellbar gewesen, dass es eine lange Übergangsphase gibt. Oder dass am Ende nicht nur ein Staat nach westdeutschem Zuschnitt bleibt, wie wir uns die Einheit vorstellen. Ähnliche Bedenken hatten wir über die Pläne von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Dem schwebte wohl auch eine Art Zusammenschluss der beiden deutschen Staaten vor. Ich sah die Einheit eher wie eine Übernahme.«
Rice vermied das Attribut »feindliche«. Aber genau darum ging es letztlich. Es fand eine klassische feindliche Übernahme des Staates DDR durch die Bundesrepublik nach dem Muster von Konzernstrategen statt.
Die Behauptung, die Bürger der DDR hätten die Einheit erzwungen, ist darum eine der üblichen historischen Lügen.
Die politischen Akteure der damaligen Zeit, allen voran die USA und die UdSSR, haben um die deutsche Vereinigung gefeilscht. Die USA wollten ihren Einfluss in Europa mit Hilfe der NATO unbedingt sichern und ausbauen. Die Franzosen glaubten, über diesen Weg eine dominierende Rolle im europäischen Zusammenschluss einnehmen zu können. Die Sowjets waren pleite und erhofften Hilfe von der BRD.
Inzwischen ist immer offensichtlicher, dass die damaligen Siegermächte eigentlich die Verlierer ihres Pokerspiels um Deutschland geworden sind. Deutschland ist nunmehr die größte Macht in Europa und bestimmt gemäß seiner Stärke weitgehend über das Schicksal der Europäischen Union.
Zur historischen Wahrheit gehört auch, dass die maßgeblichen Eliten der Bundesrepublik mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln die Übernahme der DDR betrieben, aber zugleich alles daransetzten, andere Staaten zu spalten, so hinsichtlich Jugoslawiens, der baltischen Republiken, der Tschechoslowakei, Serbiens usw. Der Kolonialgrundsatz: »Teile und herrsche!« stand und steht hier wohl Pate.
Dabei verkenne ich keineswegs, dass für viele Bürger in Ost und West mit der Einheit einiges leichter geworden ist. Hervorheben möchte ich den freien Reiseverkehr, den in der Regel uneingeschränkten Zugang zu Informationen via Internet und andere sichtbare Vorteile. Es gehört aber zu jedem normalen Geschäftsgebaren, die Vor- und Nachteile genau abzuwägen. Und genau das ist aus Kurzsichtigkeit und Verblendung unterblieben. Vereinigung heißt doch, dass man die Vorteile und Stärken jedes Partners nutzt, um daraus eine neue Qualität zu erzeugen! Das wäre durchaus möglich und sinnvoll gewesen.
In meiner über 40 Jahre währenden Zeit als Polizist, Offizier der NVA, als Staatsanwalt und Richter habe ich gelernt, dass zur Wahrheitsfindung immer auch die Beachtung aller Seiten des Handelns und des Lebens überhaupt gehört. In diesem Zusammenhang möchte ich an ein Wort des Eicke von Repkow, des vermutlichen Verfassers des »Sachsenspiegels«, erinnern, das ich mir zum Lebensmotto gemacht habe. Sein klassisches Wort lautete: »Eenes mannes rede ist keenes mannes rede, du musst hören beede.«
Für große Teile der heutigen politischen Elite in der BRD gilt das offensichtlich nicht. Was sie über die längst untergegangene DDR behaupten, soll gewissermaßen Gesetz sein, dem sich jeder zu fügen hat. Zu ihrem Arsenal politischer Waffen gehört eine Reihe von Sprechblasen, darunter die von der »zweiten deutschen Diktatur« und vom »Unrechtsstaat DDR«.
Wer bestimmt über Einordnung und Charakterisierung anderer Staaten und Gesellschaftsordnungen?
Wer oder was ist denn eine Diktatur? Sind die heutigen Monarchien eine oder der Vatikan oder die Präsidialstaaten? Warum galt zum Beispiel der letzte US-Präsident George W. Bush als »Demokrat«, obwohl er der Wahlmanipulation bezichtigt wurde, obwohl er sein Volk in sinnlose Kriege führte, obwohl er Tötungen und Folter zu verantworten hatte und viele Untaten der Neuzeit auf sein Konto gingen (wie im Übrigen auch auf die Konten seiner Vorgänger)? Und warum soll zum Beispiel Fidel Castro ein »Diktator« sein, obwohl er in der Mehrheit seines Landes Anerkennung findet, obwohl er keinen Krieg führte, obwohl er immer im Interesse der Menschen handelte?
Welche Kräfte sind es also, die sich anmaßen, Staaten und Gesellschaften nach Gusto einzustufen?
In der heutigen Zeit gibt es eine globale Diktatur, und das sind die weltweit ohne Kontrolle agierenden Banken und Konzerne. Sie sind zahlenmäßig eine kleine Minderheit, bestimmen aber verhängnisvoll über die Mehrheit der Weltbevölkerung. Ihre Macht und ihr Wirken sind für jede Demokratie tödlich.
Mittels Medien und offizieller Politik werden die Bürger in Deutschland zunehmend gedrängt, die vergangene DDR im Nachhinein als »Unrechtsstaat« zu begreifen und zu verinnerlichen.
Abgesehen davon, dass das geltende Völkerrecht eine solche Zuordnung für Mitgliedsstaaten der UNO nicht kennt, hat die alte BRD das hinsichtlich der DDR international zu keiner Zeit geltend gemacht. Somit ist diese Einordnung der DDR nach ihrem Untergang – wie die Juristen zu sagen pflegen – eine Behauptung ohne Beweiswert. Zunächst wäre in diesem Zusammenhang zu klären, was man unter einem »Rechtsstaat« versteht.
Ich verstehe darunter einen Staat, dessen Rechtssetzung dem international anerkannten Rechtsstandard entspricht, der diese Gesetze selbst einhält und auch durchsetzt, der sein Handeln nach den Gesetzen ausrichtet, den Bürgern gegenüber Fürsorge und Gerechtigkeit walten lässt und die in der Verfassung des Landes festgeschriebenen Rechte und Pflichten sichert.
Unter diesen Prämissen war die DDR ein Rechtsstaat, natürlich sozialistischer Prägung.
Die bürgerlich-kapitalistischen Systeme sind Rechtsstaaten anderer Art.
Nur in einem müssen sich alle Staaten, die für sich in Anspruch nehmen, Rechtsstaat zu sein, messen lassen: Wie bringen sie ihr nationales Recht in Übereinstimmung mit den anerkannten Normen des Völkerrechts? Wie sichern sie die Übereinstimmung von Verfassungsauftrag und Verfassungswirklichkeit? Wie verwirklichen sie durch Gesetzgebung und Rechtsanwendung die berechtigten Interessen ihrer Staatsbürger? Und wie schützen sie alle in diesem Staat lebenden Menschen vor Angriffen auf Leben, Gesundheit, Eigentum und vor staatlicher Willkür? Dazu gehören auch die Gleichheit vor dem Gesetz und die Chancengleichheit im täglichen Leben.
Unrecht gibt es in jedem Staat dieser Welt. Davon war die DDR beileibe nicht ausgenommen.
Und auch die BRD war gestern und ist heute kein Musterknabe. Was den DDR-Eliten und vielen ihrer Bürger infolge der Vereinigung angetan wurde, war und ist bis in die Gegenwart Massenunrecht. Dieser Staat Bundesrepublik Deutschland findet es rechtens, für bestimmte Berufsgruppen der DDR eine ewige Abstrafung festzuschreiben ohne jeden individuellen Schuldnachweis.
Oder nehmen wir den Umfang des alltäglichen Zwanges. Hier gibt es in der BRD von heute Auswüchse, die den Bürgern der DDR völlig unbekannt waren. So zum Beispiel die Sicherungsverwahrung, die Beugehaft, die Durchsetzung zivilrechtlicher Ansprüche mittels des Strafrechts, den strafprozessualen Ablasshandel, den vielfachen Anschlusszwang in den Kommunen usw.
Vor Weihnachten 2010 sollte in Brandenburg ein Bürger in Zwangshaft genommen werden, weil er für eine Wasseruhr, die er nicht hatte, dem Zweckverband angeblich 275 Euro schuldete. Eine Obergerichtsvollzieherin hatte die Festnahme angeordnet. Derartige Willkürakte, die so oder ähnlich im Deutschland von heute tausendfach geschehen, waren in der DDR nachweislich undenkbar. Jeder Geldeintreiber – und davon gibt es hierzulande mehr als genug – kann ehrbare Leute ins Gefängnis bringen.
Der gern getätigte Verweis auf die Gewaltenteilung als dominierendes Merkmal eines Rechtsstaates verschleiert die reale Wirklichkeit. Als Baron Montesquieu 1748 sein Werk »Vom Geist der Gesetze« veröffentlichte, in dem er die Trennung von Exekutive, Legislative und Judikative forderte, ahnte er nicht im Traume, dass 250 Jahre später Mächte agieren sollten, die die von ihm bekämpfte Feudalstruktur weit in den Schatten stellen würden.
International operierende Banken und ihre Lobbyisten bestimmen Ziel und Inhalt der Politik vieler Staaten. Ratingagenturen können durch Heben oder Senken der Daumen Aufstieg oder Niedergang von ganzen Staaten veranlassen. Neuerdings bestreitet man nicht mehr, »dass Europa nur eine gelenkte Demokratie, gelenkt von den Märkten«, ist. (Der Spiegel, 3/2011, S. 24.) Europa befindet sich im Griff der Banken. Damit ist es mit der Demokratie wirklich nicht weit her.
Die öffentliche Meinung wird zunehmend von ein paar Medienmogulen geformt. Die Beherrschung der Medien ist heute – Italien zeigt das unverblümt – politische Machtausübung.
Die immer wieder, fast gebetsmühlenartig vorgebrachte Beschwörung des Rechtsstaates in den westlichen Ländern kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass rechtsstaatlich vieles im Argen liegt.
Deutschland schmückt sich mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gerichte, vor allem mit den 17 Verfassungsgerichten, und betont das als Ausdruck des Rechtsstaates. Dabei gibt es eine Reihe von Ländern, die keine Verfassungsgerichte kennen. Großbritannien hat nicht einmal eine Verfassung.
Und: Was nützt dem Normalbürger eine Vielzahl unterschiedlicher Gerichte, wenn er die Rechtsanwälte nicht bezahlen kann, die Prozesse jahrelang verschleppt werden und es keine Einheitlichkeit der Rechtsprechung gibt. Vor Gericht ist es oftmals wie beim Bingo: Man kennt zwar die Regeln, das Ergebnis aber ist nicht vorhersehbar. Oder wie heißt es zynisch: Vor Gericht und auf hoher See befindet man sich in Gottes Hand.
Über 25 Jahre meines Berufslebens war ich als Richter in verschiedenen Funktionen tätig. Es ist naheliegend, dass ich den Hauptteil meines Buches dieser Zeit widme. Immer wieder werde ich von Freunden und Interessierten gefragt, wie die Gerichte in der DDR funktionierten. Waren die Richter wirklich unabhängig, oder unterlagen sie – wie von westlicher Seite behauptet wird – den Weisungen der SED?
Zu diesen Fragen habe ich mich bereits zu DDR-Zeiten in zahlreichen Publikationen und Reden und in vielen Vorlesungen vor den Studenten eindeutig erklärt. Sowohl in der Einheit, der theoretischen Zeitschrift der SED, als auch in der internationalen Zeitschrift Probleme des Friedens und des Sozialismus konnte jeder meine Auffassung zu diesen Fragen nachlesen. »Von grundlegender Bedeutung für die Rechtssicherheit ist die Unabhängigkeit der Richter«, schrieb ich einmal in der Einheit. »Wir reden nicht einer allgemeinen Unabhängigkeit der Richter das Wort – die es übrigens nirgends auf der Welt gibt –, sondern einer Unabhängigkeit in der Sache. Eine Einflussnahme in die Rechtsprechung der Richter durch andere Organe ist strikt verboten. Hier ist die Eigenverantwortlichkeit des Richters begründet. Eine Fehlentscheidung des Richters wird auf gesetzlichem Wege angefochten und geändert.«
Im Übrigen kann jeder diese prinzipielle Auffassung des Obersten Gerichts in der Beweisrichtlinie, die im Gesetzblatt der DDR veröffentlicht wurde, nachlesen. Unter meinem Vorsitz fanden wichtige und zum Teil komplizierte Verfahren statt. Im Buch habe ich einige dieser Prozesse beschrieben. Zu keiner Zeit hat mich irgendjemand aus der Politik oder aus anderen Bereichen – wenn man vom Antragsrecht der Staatsanwälte und Verteidiger absieht – zu einem bestimmten Handeln gezwungen oder überredet.
Natürlich gab es in der Öffentlichkeit, in den Betrieben oder auch bei Funktionären Auffassungen, Wertungen und Erwartungen hinsichtlich der Verfolgung bestimmter Straftaten. Das ist rein menschlich verständlich, hatte vor Gericht aber in der Regel keinen Bestand.
In den zwei Jahrzehnten des vereinten Deutschlands ist es mir nicht gelungen, herauszufinden, was die heutige Justiz besser macht, als es die Richter der DDR taten. Im Gegenteil, ich glaube, dass die Richter der DDR das Gesetz mehr achteten, dass sie mit den Bürgern stärker verbunden waren und dass sie intensiver arbeiteten.
In der heutigen Zeit gehört es offensichtlich zur Staatsraison, alles zu verteufeln, was an die DDR erinnert. So auch hinsichtlich der damaligen Justiz. Aber man ist kaum bereit, die damaligen Gegebenheiten einer sachlichen Analyse zu unterziehen.
Im Gegensatz zu den Gerichten der BRD, die nach einem verknöcherten, halbfeudalen System strukturiert sind, waren die Gerichte der DDR in ihrer Struktur den territorialen Gegebenheiten angepasst und damit sehr bürgernah. Es gab das Oberste Gericht, die 15 Bezirksgerichte und etwa 230 Kreisgerichte. Dazu kamen ab 1963 drei Militärobergerichte und zehn Militärgerichte.
Etwa 1.400 Richterinnen und Richter waren für alle Rechtsgebiete zuständig. Das betraf das Straf-, das Zivil-, das Arbeits-, das Familien- und ab 1988 auch das Verwaltungsrecht. Die Gerichte wurden von etwa 50.000 Schöffen unterstützt, die aus allen Kreisen der Bevölkerung kamen und gewählt waren.
Alle Berufsrichter wurden durch die jeweiligen Parlamente gewählt und waren diesen – außer in Fragen der Rechtsprechung – rechenschaftspflichtig. Die DDR lehnte – wie andere Länder auch – eine Berufung auf Lebenszeit aus guten Gründen