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Verlorene Zeiten?: DDR-Lebensgeschichten im Rückblick - eine Interviewsammlung
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eBook519 Seiten6 Stunden

Verlorene Zeiten?: DDR-Lebensgeschichten im Rückblick - eine Interviewsammlung

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Über dieses E-Book

Die DDR wird nach wie vor kontrovers diskutiert, auch wenn sie als abgeschlossenes Kapitel deutscher Geschichte gilt. Für viele Menschen jedoch war sie gelebte Realität und damit Bestandteil ihrer Biografie. Historikerinnen und Historiker befragen in diesem Band Menschen aus der ehemaligen DDR zu ihren persönlichen Geschichten: Wie war das Leben in der DDR? Was motivierte sie, sich für oder gegen diesen Staat zu engagieren oder sich mit ihm zu arrangieren? Wie wurde der Zusammenbruch der DDR erlebt? Und wie beurteilen sie Leben und Handeln in der DDR im Rückblick? Zu Wort kommen dabei nicht nur bekannte Persönlichkeiten wie der Politiker Hans Modrow, der Theologe Hans Misselwitz, die Künstler Klaus Kordon, Bert Papenfuß oder André Herzberg (Sänger der DDR-Kultband "Pankow"), sondern auch ein Bergsteiger, eine Kulturbundsekretärin oder eine Altenpflegerin. Insgesamt entsteht eine außergewöhnlich eindringliche, aber auch widerspruchsvolle Momentaufnahme subjektiver Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit 20 Jahre nach dem Mauerfall. In einem sind sich die Interviewten dabei einig: Verlorene Zeiten waren das nicht. Die Interviews werden ergänzt durch die Portraitaufnahmen der Berliner Dokumentarfotografin Monique Ulrich.
Unter Mitarbeit von Vera Dost, Jens-Uwe Fischer, Bettina Kaiser, Maja Kersting, Steffi Kühnel, Jennifer Schevardo und Eva Völpel.
Interviews mit Heike Zech, Klaus Wenzel, Bernd Gehrke, André Herzberg, Karl J. Beuchel, Salomea Genin, Harald Wilk, Herbert Mißlitz, Peter Kaiser, Hans Coppi, Michael Winkler, Birgit Turski, Hans Modrow, Erika Richter, Kurt Pätzold, Klaus Kordon, Bert Papenfuß und Hans Misselwitz.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum1. Sept. 2011
ISBN9783940621580
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    Buchvorschau

    Verlorene Zeiten? - Vergangenheitsverlag

    Beuchel

    „… obwohl ich mir im Klaren war, dass man so nicht bauen darf." - Karl J. Beuchel, geboren 1928

    Karl Joachim Beuchel wurde 1928 in Chemnitz geboren, und dieser Stadt hat er sich später als Architekt ein ganzes Berufsleben lang gewidmet. Mitten in der Ausbildung zum technischen Zeichner musste der 16jährige 1944 zunächst an die Front. Als er von dort zurückkehrte, lag das Sächsische Manchester‘ nach Flächenbombardements auf Wohn- und Industriegebiete in Trümmern. Beuchel entschied sich, Architektur zu studieren. Zwischen 1964 und 1984 war er maßgeblich am Wiederaufbau seiner Geburtsstadt beteiligt, davon zehn Jahre lang als Stadtarchitekt – eine durch und durch politische Position. Architektur und Städtebau waren in der DDR zutiefst ideologisierte Themen: Sinnbildlich stand Architektur für die ästhetische Übersetzung gesellschaftlicher Visionen. Die Städte sollten von Zukunft und Sozialismus künden, die Arbeiter vom viel geschmähten ,Mietskasernenelend‘ der Vorkriegszeit befreit werden.

    In einem Karl-Marx-Städter Reiseführer von 1974 werden die immense Aufbauleistung und die ökonomische Bauweise in den Vordergrund gerückt. Pathetisch ist die Rede von einem „Suchen der Architekten nach neuen Ausdrucksformen, von der Aufgabe, „das Zukunftsbild einer sozialistischen Großstadt zu entwerfen. ¹ Heute nennt sich Chemnitz zwar stolz ,Stadt der Moderne‘ – die das moderne Stadtbild prägende Fülle an sozialistischer Repräsentationsarchitektur wird im Stadtmarketing jedoch ebenso wenig hervorgehoben wie die umfangreichen DDR-Neubaugebiete. Stattdessen wirbt man mit Bauhaus und Jugendstil, mit Gründerzeitarchitektur und dem Schloss. ² Die kulturelle Wahrnehmung des Stadtbildes hat sich offenbar radikal geändert. Wie aber blickt der ehemalige Stadtarchitekt auf diese neuen Realitäten und seine früheren Ambitionen zurück?

    Selbst in einem Neubaugebiet der DDR aufgewachsen, frage ich mich, ob man die ewig gleiche Architektur der Platte jemals als schön empfinden konnte. Beuchel hat 2006 einen kritischen Rückblick auf die Karl-Marx-Städter Baugeschichte veröffentlicht. ³ Mich interessierten nach der Lektüre seine persönlichen Erinnerungen und Reflexionen über seine Tätigkeit als Architekt in der DDR. Ich treffe Karl J. Beuchel in einem Café in der Chemnitzer Innenstadt. Ich merke schnell: Privates werde ich von ihm kaum erfahren. Dafür spüre ich umso mehr von der Leidenschaft, mit der er über seinen Beruf spricht. Auch wenn er diesen nicht immer in vollen Zügen genießen konnte …

    „Steht unser Haus noch?"

    Als Erstes möchte ich Sie fragen, aus welchem Elternhaus Sie kommen?

    Mein Vater war von Beruf Tischler. Meine Mutter hatte keinen gelernten Beruf, hat aber als Näherin gearbeitet. Beide waren lange Zeit arbeitslos, in der Zeit von 1933 bis 1940. Sie haben mir aber trotz der finanziellen Lage jede Gelegenheit geboten, mich weiterzubilden, umzuschauen und interessante Menschen kennen zu lernen. Ich selbst konnte nur acht Jahre die Volksschule besuchen. Für das Gymnasium hatten meine Eltern kein Geld.

    Welche Ausbildung haben Sie anschließend gemacht?

    Ich begann 1942 eine Lehre als Schlosser. Das war mir eigentlich gar nicht so sympathisch. Schon von klein an hatte ich mich lieber mit Zeichnen und Malen beschäftigt; ich hätte gerne eine Ausbildung zum Zeichner oder eine andere künstlerische Ausbildung gemacht. Aber dafür wurde der Abschluss eines Gymnasiums verlangt. So blieb nur eine Ausbildung übrig. Ich hab’ zwar als Lehrling wenig verdient, aber immerhin hat das meiner Familie geholfen, über die Strecke der Arbeitslosigkeit hinwegzukommen. Das war schon wichtig. Außerdem hatte ich bald Glück: Im Betrieb gab es einen Konstrukteur, der feststellte, dass ich gerne zeichnete. Und da hat er zu dem Chef des Betriebes gesagt: „Können wir nicht den kleinen Beuchel mit in mein Büro hochnehmen, der zeichnet gern. Vielleicht könnte er mich unterstützen als technischer Zeichner." Das hat mich natürlich mächtig begeistert!

    Sie sind Jahrgang 1928. Mussten Sie noch in den Krieg?

    Ja, natürlich. 1944 wurde ich nach Ostpommern verfrachtet, um dort meinen Reichsarbeitsdienst ⁴ abzuleisten. Anschließend kam ich nach Torgau zu einer militärischen Spezialisierung als Funker. Ich war 16 Jahre alt, ein junger Mensch. Ich hatte keine Ahnung, was mich nach dieser Ausbildung erwartet … Im Januar 1945 wurde ich schließlich als Grenadier an die Oder-Neiße-Front verfrachtet. Als Funker kam ich in die vordersten Stellungen, musste dort die Geschosse der Artillerie leiten. Da war ich natürlich auch allen Problemen ausgesetzt, die damals so im Krieg üblich waren. Mit 16 Jahren! Das waren schlimme Erfahrungen, die ich dort gemacht habe. Mehr oder weniger neben mir starben meine Soldatenkollegen. Dazu kam, dass unsere Kompanie in eine SS-Kompanie integriert wurde, eine Panzerdivision namens ,Großdeutschland‘. Das war eine ganz schlimme Zeit. Wir wurden dort mehr oder weniger verheizt. Und das war auch der Grund, weshalb ein Soldat und ich uns überlegten, diesem Schlamassel zu entrinnen. Wir sind dann desertiert.

    Wie gelang es Ihnen zu desertieren?

    Wir haben im April 1945 mehr oder weniger über Nacht die Front verlassen und sind mit vielen Umwegen durch die Tschechei gegangen. Dort verschafften wir uns Zivilkleidung. Die Menschen, die da wohnten und bei denen wir auch übernachteten, haben uns sehr freundschaftlich aufgenommen und verpflegt. Und eines Tages, als wir gerade auf dem Weg zur Elbe waren, überholte uns die Rote Armee. Als festgestellt wurde, dass wir Deutsche sind, sperrten sie uns in einem nahe liegenden Gehöft in den Keller. Wir wurden beide verhört von einem Offizier, der eigenartigerweise sehr gut Deutsch sprach. Der hat uns informiert, was doch Hitler für ein schlechter Mensch sei und hat versucht, uns für die friedliche Sache zu gewinnen. Schließlich schickte er uns nach Hause. Wir hatten mit dem Schlimmsten gerechnet, dachten: Jetzt kommen wir in Gefangenschaft, nach Sibirien, was weiß ich. Aber dem war nicht so. Man ließ uns ziehen.

    Das war ja wirklich Glück! Mit welcher Begründung ließ man Sie gehen?

    Wir wären zu jung. Das war offensichtlich dem Offizier geschuldet, der hatte irgendwie Mitleid mit uns. Wir sahen ja auch erbärmlich aus! So kam ich eines Tages Anfang Mai nach zwei Wochen Marsch zu Hause an, voller Befürchtungen: Steht unser Haus noch? Ich wusste, dass Chemnitz bombardiert worden war, aber nicht, was mit meinen Eltern und unserem Wohnhaus passiert war. Glücklicherweise stand das Haus. Zwar beschädigt durch Bombensplitter, aber noch so weit heil, dass man drin wohnen konnte. Und meine Eltern waren natürlich heilfroh, dass ich gesund wieder zu Hause ankam. Allerdings musste ich mich sofort verstecken, denn zu dieser Zeit war die Stadt noch von den Nazis besetzt, ich durfte mich als Deserteur dort nicht blicken lassen. So wurde ich im Keller und teilweise auch in unserer Wohnung versteckt. Am 8. Mai kamen die Russen, da war die Sache dann erledigt. Damals habe ich mir geschworen, es dürfe nie wieder einen Krieg geben.

    Konnten Sie Ihre Ausbildung nach dem Krieg fortsetzen?

    Ja, ich bin wieder zu dieser Firma gegangen, die stand auch noch. Dort konnte ich die Ausbildung dann abschließen. Aber ich fragte mich: Was kommt danach? Ich hatte zwar meine Ausbildung als technischer Zeichner, aber keine Arbeitsstelle. Außerdem war die Arbeit nicht so künstlerisch, wie ich mir das gedacht hatte. Nebenbei hab’ ich ja noch Zeichnungen gemacht. Ich bin in die Chemnitzer Altstadt gegangen, vor allem in das Gebiet am Brühl, und hab’ die alten Häuser gemalt, auch mit Aquarell und Ölfarben. Das war schon interessanter als nur diese Konstruktionen. Im Sommer 1946 wurde dann die Technische Hochschule in Dresden wiedereröffnet. Und da habe ich mir gedacht: „Das ist die Gelegenheit, da schreibst du dich in das Fachgebiet Architektur ein!"

    „Architektur muss für den Menschen gemacht werden."

    Wie konnten Sie sich an der Hochschule einschreiben? Sie hatten doch gar kein Abitur?

    Ja, ich hatte auch so meine Bedenken, ob man mich nimmt. Aber im Fachbereich Architektur gab es damals wenige Einschreibungen, insgesamt waren das nur 25 Studenten, und deswegen hat man mich dann auch genommen. Da war ich natürlich riesig froh. Das war auch eine schwere Zeit. Das Studium war mit Mathematik und Statik verbunden, und in Mathematik hatte ich natürlich sehr wenig Kenntnisse und Voraussetzungen. Ich musste alles nachholen, was man eigentlich fürs Abitur gelernt hätte, um überhaupt ein Verständnis für Mathematik und Statik zu bekommen. Vieles habe ich mir autodidaktisch beibringen müssen, um den Vorlesungen überhaupt folgen zu können. Ich bin nach wie vor kein Statiker, ich bin mehr auf dem künstlerischen Gebiet als Architekt tätig.

    Was haben Sie auf künstlerischem Gebiet im Studium gelernt?

    Ich hatte sehr erfahrene Professoren, zum Beispiel Karl W. Ochs und Walter Henn ⁵ , die später beide in den Westen gegangen sind und somit für uns verloren waren. Deren Ausbildung zielte daraufhin, Architektur für die Menschen zu machen. Es ging also nicht so sehr darum, ökonomische Bauten zu entwerfen, sondern Architektur muss für die Menschen gemacht werden. Das war das Credo dieser Ausbilder, die mich auch dahingehend geformt haben. Und dadurch, dass Ochs und Henn Ende der 1940er Jahre den Wettbewerb für den Wiederaufbau des Chemnitzer Opernhauses gewonnen hatten, bekam ich schon als Student die Möglichkeit, an konkreten Planungen mitzuarbeiten.

    Wie ging es nach Ihrem Abschluss an der Hochschule für Sie weiter?

    Das Studium habe ich 1950 abgeschlossen, nach acht Semestern. Inzwischen hatte ich auch meine Frau kennen gelernt, die in Dresden an der TU studierte und dort zum Bauingenieur ausgebildet wurde. Ich blieb daher in Dresden und arbeitete im VEB Industrie-Entwurf Dresden. Dann kam der damalige Stadtbaudirektor von Chemnitz, Georg Funk, ⁶ an die TU Dresden und übernahm dort den Bereich des Städtebaus, den es zu meiner Studienzeit noch nicht gegeben hatte. Das war für mich die Sache! Also hab’ ich bei ihm zwei Jahre lang ein Zusatzstudium für Stadtplanung gemacht. 1954 bin ich dann mit meiner Frau zurück nach Chemnitz gegangen – in der Zwischenzeit war es schon Karl-Marx-Stadt geworden. Ich bekam dort eine Stelle in der Stadtplanung, als Leiter des Entwurfsbüros für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung. Da ging es um den ganzen Bezirk Karl-Marx-Stadt, und so habe ich in vielen Gemeinden und Städten im Bezirk städtebauliche Planungen machen können.

    Welche städtebaulichen Planungen standen Mitte der 1950er Jahre an?

    Zum Beispiel die Neustadt in Johanngeorgenstadt im Erzgebirge. Die dortige Altstadt war ja durch Bergschäden, die die Wismut ⁷ verursacht hatte, völlig in sich zusammengebrochen. Wir mussten also ein neues Stadtgebiet planen, um die Bevölkerung wieder unterzubringen. Allerdings wurde ich bald hellhörig. Ich hatte gelernt, dass meine Arbeit den Menschen und den Bewohnern von Gebäuden zugute kommen sollte. Der Städtebau im Bezirk Karl-Marx-Stadt war aber ausschließlich ökonomisch orientiert. Es wurde wenig Wert darauf gelegt, Wohngebiete für die Menschen zu planen, es ging eher darum, auf möglichst rationelle Weise viele Wohnungen zu errichten.

    Hatte dieses städtebauliche Konzept damals schon die Plattenbauarchitektur im Blick?

    Plattenarchitektur gab es noch nicht, die kam erst etwas später, Anfang der 1960er Jahre. Aber man hatte schon die Richtung eingeschlagen. Die Forderungen waren damals: Man muss schnell und ökonomisch möglichst viele Wohnungen bauen – und zwar mit Großblöcken aus Abbruchziegeln. Das war die erste Stufe des industriellen Bauwesens … (Holt tief Luft) Und das störte mich schon damals sehr, diese Tendenz: industrielles Bauen, Rationalisieren, weniger Achtgeben auf die Wünsche der Bewohner. Deshalb kam ich auf die Idee, mich auf dem Gebiet der Städtebausoziologie weiterzubilden. Man riet mir, nach Leningrad zu gehen, dort gäbe es ein Institut, an dem man das lernen könne. Das habe ich dann gemacht. Zuerst wurde natürlich geprüft, ob ich überhaupt der Richtige wäre, in die Sowjetunion zu gehen. Ich wurde gefragt, ob ich denn die russische Sprache beherrsche. Ich konnte kein Wort Russisch sprechen (lacht). Aber schließlich gab man mir doch grünes Licht.

    „… dass ich in vielen Gegenden der Sowjetunion herumkam."

    Was waren Ihre ersten Eindrücke von der Sowjetunion?

    Ich bin mit einem Physiker aus der DDR dorthin gereist. Wir kamen erstmal nach Moskau und konnten uns dort mehrere Tage umsehen. Das war schon interessant, wir hatten ja schon viel von Moskau gehört. Manches war für uns völlig neu: Es wurde ja damals die Untergrundbahn gebaut. Oder auch die Hochhäuser, die da entstanden waren. Jedoch neben grandiosen Neubauten war auch viel Elend zu sehen … Es waren ganz unterschiedliche Eindrücke, die ich da gewonnen habe. Dann ging es weiter nach Leningrad. Wir kamen frühmorgens dort an und keiner war da, der uns abholte. Ich hab’ mich dann in ein Taxi gesetzt, und als ich am Institut ankam, sagten die: „Wer sind Sie denn, wo kommen Sie denn her?" Das war mein erster Eindruck von Leningrad. Eigentlich war alles gut geplant gewesen, und die wussten dennoch von nichts. Man reagierte aber sehr freundlich und höflich. Ich wurde in einem Wohnheim für Aspiranten untergebracht. Und dann hieß es erstmal Tag und Nacht Russisch lernen. Nach drei Monaten konnte ich schon ganz gut Russisch sprechen, nach sechs Monaten hatte ich die erste Dolmetscherprüfung hinter mir.

    Wie sind Sie damals in Russland als Deutscher aufgenommen worden?

    Ich würde sagen, recht freundschaftlich. Zuerst hatte ich Bedenken, wie man mich als Deutschen in dieser leidgeprüften Stadt aufnehmen würde. Ich knüpfte Kontakte zu einigen Bewohnern von Leningrad, die die Blockade miterlebt und dort natürlich Fürchterliches durchlebt hatten. Sie haben zwar oft davon erzählt, aber sie sind nicht nachtragend gewesen, das muss ich ehrenhalber sagen. Davor habe ich großen Respekt.

    Wie verlief Ihr Studium in Leningrad?

    Die Ausbildung auf dem Gebiet der Städtebausoziologie erfolgte in vielen Gegenden der damaligen Sowjetunion. Soziologische Probleme wurden nicht nur im eigentlichen Russland behandelt, sondern auch in ehemaligen Teilrepubliken wie Kasachstan, Usbekistan oder Kirgistan. Ich bekam eine Kommandirovka: Man wurde also in bestimmte Gebiete der Sowjetunion ,kommandiert‘. Dort konnte ich soziologische Studien anstellen und mit unterschiedlichsten Menschen umgehen. Hab’ auch den Islam kennen gelernt im vorderen Orient. Ich habe in der Sowjetunion an Lebenserfahrung enorm dazu gewonnen. Leider war es so, dass ich diese Ausbildung nicht abschließen konnte. 1958 starb meine Frau, die in Karl-Marx-Stadt geblieben war. Also musste ich sofort zurück, um meine drei Söhne zu betreuen. Ich hatte keinen Arbeitsplatz, das war ja alles so plötzlich verlaufen. Da alles so schnell über mich kam, habe ich auf der Großbaustelle des Heizkraftwerkes Karl-Marx-Stadt-Nord angefangen. 1960 kam ich schließlich zum Bezirksbauamt als stellvertretender Bezirksarchitekt. Dort war ich unter anderem verantwortlich für die Gebietsplanung im Bezirk Karl-Marx-Stadt.

    „… ein Wohngebiet so bauen, dass die Menschen sich dort wohl fühlen."

    Wie sah es Anfang der 1960er Jahre baulich in Karl-Marx-Stadt aus?

    Seit dem Krieg waren einige Häuser am Rande des Zentrums wieder aufgebaut worden, aber im eigentlichen Stadtzentrum war noch nichts passiert. Erst 1959 war ein Politbürobeschluss des ZK der SED für den Wiederaufbau des Stadtzentrums gefasst worden. Bis 1960 hatte sich da wenig getan. Es gab kaum finanzielle und materielle Baukapazitäten, und außerdem fehlte es an den Planungsvoraussetzungen. 1964 kam eines Tages der Bezirksbaudirektor und meinte, es werde einer gesucht, der die Planung und Baudurchführung für den Wiederaufbau des Stadtzentrums macht. Das interessierte mich, und so kam ich in die Stadtverwaltung von Karl-Marx-Stadt – als Stellvertreter des Oberbürgermeisters, Stadtbaudirektor und Stadtarchitekt. Damals hatte ich bald 120 Mitarbeiter, was schon eine ziemliche Verantwortung war.

    Haben Sie jemals überlegt, in den Westen zu gehen, so wie Ihre beiden Professoren?

    Nein, überhaupt nicht. Ich hatte hier meine Heimat, war mit der Stadt verbunden. Ich hatte meine Familie hier. Das war von vornherein kein Thema. Aber ich war einmal in West-Berlin zu einer großen Bauausstellung. (Überlegt) 1958 muss das gewesen sein. Da war ich nicht delegiert, sondern aus eigenem Interesse. Das war mehr oder weniger illegal, und das hat man mir dementsprechend sehr übel genommen. Aber ich wollte die Ausstellung sehen, ich wollte wissen, wie man dort baut! Mir war klar, dass das Konsequenzen haben würde. Das Ministerium für Staatssicherheit hat mich danach auf seine Liste gesetzt. Ich wurde als ,nicht mehr zuverlässig‘ registriert, und von da an ständig unter Beobachtung gehalten.

    Wussten Sie, dass Sie auf dieser Liste der Stasi standen?

    Das wusste ich. Das waren einfach Erfahrungen, die man sammelte. Später, 1965, kamen zum Beispiel Leute zu mir in die Wohnung – unangemeldet. Haben mir erklärt, ich sei in West-Berlin gewesen, und das wäre illegal, ich hätte gegen gesetzliche Regelungen verstoßen und dergleichen. Ob ich das nicht wieder gut machen möchte? – „Sie könnten bei uns tätig sein. Ich habe abgelehnt, habe gesagt: „Ich bin Fachmann, kein Politiker. Ich bin nicht geeignet für solche Dinge. Auch das hat man mir übel genommen. Ich habe ja damals auch sehr gegen die industrielle Bauweise protestiert, die einheitlichen Typen der Plattenbauweise. Das war aber nach Meinung der Stasi gegen die Ökonomie, gegen den Fortschritt. Da wurde ich immer wieder gemaßregelt

    Wie muss man sich diese Maßregelung vorstellen?

    Das neue Wohngebiet ,Fritz Heckert‘ ⁸ in Karl-Marx-Stadt entstand damals unter meiner Federführung. Wir hatten einen DDR-offenen Wettbewerb veranstaltet. Da kamen sehr interessante Ergebnisse zustande, die ich mir zu Eigen machte. Ich war der Meinung, man kann zwar industrielle Plattenbauweise machen, aber nicht in der Form, dass man die Häuser alle hintereinander reiht, sondern die Bauwerke so anordnet, dass bestimmte wohnliche Einheiten entstehen. Ich wollte zum Beispiel auch mal die Fassadengestaltung und Geschossigkeit variieren. Aber selbst die Gebäudetypen waren einheitlich von Berlin vorgegeben: Nur 6- und 11-Geschosser! Dagegen habe ich mich aufgelehnt. Ich war der Meinung, man muss ein Wohngebiet in einer Weise bauen, dass die Menschen sich dort wohl fühlen. Deshalb wurde ich zur Bezirksleitung der SED bestellt, wo mir deutlich gemacht wurde, dass es darauf ankäme, möglichst rationell und schnell viele neue Wohnungen zu bauen und das Wohnungsproblem ⁹ zu lösen.

    Wodurch konnte das ,Fritz Heckert’-Gebiet schließlich realisiert werden?

    Nachdem die Ergebnisse des Wettbewerbes abgelehnt und die Durchführung verboten worden war, wandte ich mich an das Ministerium für Bauwesen und an die Bauakademie der DDR. Dort fand ich offene Ohren. Hermann Henselmann, ¹⁰ der an der Bauakademie tätig war, wurde beauftragt, mit uns in Karl-Marx-Stadt eine Studie für das Wohngebiet ,Fritz Heckert’ zu erarbeiten. Wolfgang Junker, ¹¹ damals Minister für Bauwesen, kam nach Karl-Marx-Stadt, hat sich die Studie angeguckt und schließlich eine Beratung im Sekretariat der SED Bezirksleitung veranlasst. Professor Henselmann und ich wurden hinbestellt, wo man uns klarmachte, dass mit dieser Studie auch Änderungen der Wohnbautypen verbunden wären. Und das werde nicht genehmigt: Das sei unökonomisch und die Anwendung der vorgegebenen Typen verbindlich.

    War der Einwand der Unwirtschaftlichkeit denn berechtigt?

    Ganz im Gegenteil: Wir konnten nachweisen, dass mit unserer Studie 25 Millionen Mark gegenüber ursprünglichen Planungen eingespart werden können! Aber das spielte keine Rolle: Die normierten Typen waren entscheidend. Das veranlasste in dieser Sekretariatssitzung den doch recht bekannten und anerkannten Architekten Hermann Henselmann zu sagen, die Berliner Typen müssten abgelöst werden. Das hat man ihm sehr übel genommen. Mir blieb lediglich übrig, doch so zu bauen, wie vorgegeben. Ich hatte keine Wahl. Aber da ich mich hinter diese Studie gestellt hatte, spürte ich immer wieder, dass Leute hinter meinem Rücken tätig waren, mich beobachteten. Schließlich kam ich dahinter, dass mein Stellvertreter, der mit mir ständig zusammengearbeitet hatte, als IM des Ministeriums für Staatssicherheit tätig war.

    „Diese Zeit war fürchterlich!"

    Hat Ihr Stellvertreter Ihnen von sich aus von seiner Spitzeltätigkeit erzählt?

    Es hatten sich Leute aus Berlin angemeldet. Und mir war klar, das waren nicht Leute vom Bauwesen, sondern vom Ministerium für Staatssicherheit. Ich hatte die Möglichkeit, diesem Gespräch auszuweichen, indem ich in der Stadt plötzlich eine Sache in Ordnung bringen musste, etwas, was schief gelaufen war in einer Baudurchführung. Deswegen beauftragte ich meinen Stellvertreter, das Gespräch wahrzunehmen. Als ich mich dann hinterher erkundigte, was die Leute wollten, da stellte sich heraus, das die etwas miteinander zu tun hatten. Er hat mir damals gestanden, dass er mit denen schon mal Kontakt gehabt hatte. Nach der Wende habe ich dann in meinen Stasiunterlagen nachlesen dürfen, wie das im Detail vor sich gegangen ist: dass er beinahe jede Woche einen Bericht nach Berlin geschickt hat. Insofern spitzte sich das alles immer mehr zu. Diese Zeit war fürchterlich!

    Hat man Ihnen damals auch in irgendeiner Form gedroht?

    Ich hatte eines Tages im Winter 1982/83 ein Schreiben bekommen vom Ersten Sekretär der SED-Bezirksleitung, in dem mir mitgeteilt wurde, dass ich mich im Ministerium für Staatssicherheit melden sollte. Ich bin dann zum Ersten Sekretär der Bezirksleitung gegangen und wollte wissen, worum es da geht. Da wurde mir mehr oder weniger deutlich gesagt, dass es für mich um eine Änderung meiner Tätigkeit gehe. Daraufhin informierte ich den Oberbürgermeister darüber. Dieser teilte der SED-Bezirksleitung mit, ich hätte so viele Verdienste um die Stadt, dass es einfach nicht gängig sei, mich auf diese Art und Weise von meiner Funktion zu entbinden. Er hatte der Bezirksleitung erklärt, dass er nicht zulassen wird, dass ich abgelöst werde. Das war mein Glück, ich bin dann auch nicht nach Berlin gefahren, und von meiner Ablösung wurde dann auch erstmal abgesehen

    Haben Sie den Druck der Stasi auch privat zu spüren bekommen?

    Anfang 1990, nach der Wende, stellte ich fest, dass das private Telefon in unserer Wohnung immer mal wieder aussetzte. Da hab’ ich einen Techniker bestellt und gesagt: „Das muss mal repariert werden. Das hat er auch gemacht: Mit der Pinzette hat er so eine kleine Sache rausgeholt, mir hingelegt: „Das können sie behalten. Ich war die ganze Zeit abgehört worden, auch privat. Das hat natürlich dazu beigetragen, dass die Stasi hellhörig war, denn privat haben wir ¹² uns oft über Dinge unterhalten, die nun nicht so regimefreundlich waren.

    Wie standen Sie während Ihrer Laufbahn allgemein zur DDR oder zum Sozialismus?

    Also, ich war ja Mitglied der SED. Bin im Jahre 1948 Mitglied geworden, noch während meiner Studienzeit, weil ich einfach der Meinung war, man darf nie wieder zulassen, dass ein solches Massenmorden begonnen wird wie im Zweiten Weltkrieg. Ich hatte das ja persönlich hautnah erleben müssen an der Oder-Neiße. Ich war ursprünglich überzeugt: Man kann im Sozialismus streben und tätig sein, den Menschen helfen, dass sie in Frieden, Glück und Wohlstand leben können. Ich war der Auffassung, man kann in diesem Staat nicht nur für den Frieden arbeiten, sondern auch in meinem Beruf als Stadtarchitekt so bauen, dass die Menschen sich wohl fühlen. Das war mein Ziel. Aber das wurde mir immer mehr verwehrt. Stattdessen dirigierte man mich immer mehr in Richtung Industrie- und Massenbauweise.

    „… diese öden, trostlosen Plattenbauten …"

    Wie sah Ihr Arbeitsalltag als Stadtarchitekt konkret aus?

    Wir bekamen praktisch die Auflage vom Ministerium für Bauwesen, im Planjahr soundsoviele Neubauwohnungen in Plattenbauweise zu errichten. Der Plan musste erfüllt werden, ob man wollte oder nicht. Die Altbausubstanz wurde vernachlässigt. Man hatte unter meiner Führung dann zwar doch die Altbaugebiete Brühl und Sonnenberg in Karl-Marx-Stadt zu sanieren begonnen, aber das war mit hohem ökonomischen Aufwand verbunden. Das nahm man mir übel und sagte, hier werden Baukapazitäten vergeudet, die woanders gebraucht werden, die im Wohnungsbau fehlten. Die wollten die Altbaugebiete abreißen und durch Plattenbauten ersetzen. Das war überall so in der DDR, nicht nur in unserer Stadt. Und dagegen hat man sich gemeinsam mit den Bewohnern aufgelehnt und gesagt: Es kann doch nicht sein, dass man die historische Altbausubstanz einfach wegreißt und durch diese öden, trostlosen Plattenbauten ersetzt.

    Zum einen gab es die Auflehnung gegen den Abriss historischer Altbauten. Andererseits wollten viele in einer Neubauwohnung wohnen.

    Die Neubauwohnungen waren sehr gefragt, natürlich. Da kam warmes Wasser aus der Wand, es gab Bäder, da war Fernwärmeversorgung, es gab einen Müllschlucker. Das war gegenüber den Altbauten mit Trockenabort auf halber Etage oder im Hof ein enormer Fortschritt. Viele kamen aus den maroden Altbaugebieten und suchten sich eine Wohnung in den Plattenbauten. Die logische Folge war, dass der Leerstand in den Altbaugebieten immer größer wurde. Und da hat man gesagt, das reißt man alles weg, da kommen auch Neubauwohnungen hin. Aber das Umfeld der Neubauten blieb oft eine Wüstenei. Beim Bau des ,Fritz Heckert‘-Gebietes zum Beispiel fehlte es an Tiefbaukapazität. Die Außenanlagen wurden nicht fertig, weil die Mittel einfach nicht da waren. Und die Bewohner der Plattenbauten mussten früh zur Arbeit durch Schlamm und Wüstenei waten. Jeder, der in der Stadt jemanden mit schmutzigen Schuhen sah, sagte sich: „Ach, der kommt wohl aus dem ,Fritz Heckert‘-Gebiet."

    Hatten Sie als Architekt innerhalb der ganzen Vorgaben überhaupt die Möglichkeit, in irgendeiner Art und Weise kreativ zu sein?

    Nun ja, es gab Mangel an Geld und Mangel an Material. Kreativ konnte ich nur in der Zeit sein, als das Stadtzentrum wiederaufgebaut wurde. Dort konnte man zum Teil mit individuell gefertigten Typen arbeiten. Die Karl-Marx-Städter Stadthalle zum Beispiel, das war ein individuelles Projekt, wo man kreativ sein konnte. Es wurde in solchen Fällen eine bestimmte Summe bereitgestellt, etwa für die Gestaltung einer Stadthalle oder für den Aufbau eines Hotels. Damit konnte man versuchen, etwas zu bauen, was nicht aus vorgefertigten Elementen zusammengesetzt war, was man individuell gestalten konnte, und womit man auch der Stadt ein unverwechselbares Gesicht geben konnte.

    Wenn Sie mit den ,von oben‘ verordneten Vorgaben so häufig nicht einverstanden waren, warum haben Sie Ihren Beruf so lange ausgeübt?

    Ja, eigentlich habe ich ihn zu lange gemacht. Das könnte ich mir selber noch zum Vorwurf machen. Erst 1984 hab’ ich dann den Schlussstrich gezogen und gekündigt. Man hat mich nicht herausgeworfen, sondern ich bin gegangen. Einmal aufgrund des Drucks seitens der Staatssicherheit, da ich immer mehr bespitzelt wurde und mir mehr und mehr Schwierigkeiten bereitet wurden. Zum anderen wegen der unbefriedigenden Arbeitsweise, also auf diese Weise bauen zu müssen, obwohl ich mir selbst darüber im Klaren war, dass man so nicht bauen darf. Als mein Nachfolger wurde als Stadtarchitekt ein Tiefbau-Ingenieur bestimmt, der nach kurzer Zeit wieder entlassen werden musste.

    Und umgekehrt gefragt: Warum hat man Sie trotz Ihrer kritischen Haltung so lange in dieser Position belassen?

    Die Frage habe ich mir auch oft gestellt und kam zu der Überzeugung, man hätte keinen Besseren gefunden. (lacht) Es war ja so, dass der Wiederaufbau des Stadtzentrums und auch der Wohngebiete doch recht schwierig war. Mir war es gelungen, diese Schwierigkeiten immer wieder zu meistern. Selbst wenn Kapazitäten fehlten, wie etwa bei der Sanierung der Altbauwohnungen in Brühl, einem Stadtteil von Chemnitz. Der Brühlboulevard, der da entstanden war, wurde in der DDR ja hoch gelobt! Erich Honecker kam persönlich nach Karl-Marx-Stadt und ließ sich feiern von den Bewohnern, die begeistert waren von diesem Altbaugebiet. ¹³ Das veranlasste immer wieder Leute in der Bezirksleitung zu sagen: „Irgendwie hat der Beuchel doch die Menschen gewonnen für unsere Sache und unsere Stadt. Soll er halt weitermachen." Ich erhielt sogar den Architekturpreis der DDR für den Brühl. Die Bezirksleitung der SED und sicherlich auch das Ministerium für Staatssicherheit versuchten, das zu verhindern. Aber da ich gute Kontakte zur Bauakademie hatte, haben sich die Leute dort durchgesetzt beim Minister für Bauwesen, unserem ,Betonminister Junker‘. Ich merkte aber eben immer wieder, dass es Leute gab, die versuchten mir Steine in den Weg zu legen.

    „… bei dem Beuchel, da müsst ihr aufpassen."

    Sie blieben aber trotz aller Einschränkungen in der SED?

    Ich muss ehrlich sagen, ich habe mich nicht durchringen können, mich von der Mitgliedschaft zu lösen. Man hätte mir dann ganz schnell Dinge nachreden können – das habe ich dann lieber nicht gemacht. Man hat mir aber immer wieder deutlich zu machen versucht, ich möge mich doch an das Statut der Partei halten und nicht gegen die Partei revolutionieren. Ich wurde jedenfalls mehr und mehr enttäuscht von dem, was ich mir anfangs unter der Mitgliedschaft in dieser Partei vorgestellt hatte.

    Ungeachtet aller Schwierigkeiten haben Sie immer wieder Kritik geübt und haben nicht resigniert?

    Nein, ich war immer aufmüpfig (lacht). Ich bin dann nach meiner Kündigung zum Kombinat Bau und Rekonstruktion nach Karl-Marx-Stadt gegangen. Das war der Hauptauftragnehmer bei der Rekonstruktion des Altbaugebietes Sonnenberg. Mit denen hatte ich gut zusammengearbeitet, man war erfreut, dass ich dort anfangen wollte und gab mir den Auftrag, eine Planungsabteilung zu installieren und die gesamte Projektierung, Planung und Vorbereitung für die Umgestaltung des innerstädtischen Altstadtgebietes im eigenen Kombinat zu bewältigen, was erfolgreich abgeschlossen wurde.

    Wusste Ihr neuer Arbeitsgeber über Ihre Probleme mit der Stasi Bescheid?

    Die wussten Bescheid, also ganz in Ruhe gelassen wurde ich trotzdem nicht. Eines Tages kam der Parteisekretär zu mir: „Ich muss dir mal was sagen, da sind Leute hier gewesen, die haben sich nach dir erkundigt. Ich fragte, was sie wollten. „Na, das waren welche von ganz oben, und die haben gesagt, bei dem Beuchel da müsst ihr aufpassen, der ist so widerspenstig. Diese Arbeit im Kombinat hab’ ich bis 1986 gemacht, dann kam der Oberbürgermeister und sagte: „Wir müssen für das Klinikum Küchwald in Karl-Marx-Stadt einen neuen OP-Trakt bauen, die Bettenhäuser sanieren und vieles mehr. Da wird einer gebraucht, der das kann." Also wurde ich weggeholt und kam wieder zurück zur Stadtverwaltung, um das Klinikum zu sanieren. Als 1989 im Sommer alles soweit fertig war, gab es eine Einweihungsfeier, wo bestimmte Leute eingeladen waren. Mir wurde die Liste gezeigt, und da stand Siegfried Gehlert – das war der Bezirkschef des MfS in Karl-Marx-Stadt. Da habe ich den Chefarzt gefragt, weshalb der Gehlert hier eingeladen ist – was hat der denn mit dem Klinikum zu tun? Er hat mir gesagt, das ist der Auftraggeber für die Sanierung und den Neubau. Das wusste ich bis dahin nicht.

    Sie meinen, Sie wurden mit der Absicht, Sie unter Kontrolle zu halten, mit den Klinikumbauten beauftragt?

    Offensichtlich. Zu dieser Einweihung bin ich dann nicht gegangen. Als die Wende kam, habe ich dann meine Tätigkeit in der Stadtverwaltung sofort quittiert und mich selbstständig gemacht. Ab 1990 war ich als freiberuflicher Architekt tätig.

    War die Wende so etwas wie eine Erlösung für Sie?

    Ja, das war wie eine Erlösung. Jetzt ist die Last weg, der Druck, die Probleme mit denen man ständig konfrontiert war. Aber die Selbstständigkeit als freier Architekt brachte natürlich viele neue Probleme mit sich. Man war ja bisher gewohnt, nach TGL ¹⁴ zu bauen und zu planen. Wir kannten die DIN-Norm nicht. Auch die Städtebaugesetze waren völlig anders. Die Bauordnung, die uns übergestülpt wurde, war für uns völliges Neuland.

    Konnten Sie nun Vorstellungen umsetzen, die vorher in der DDR nicht möglich waren?

    Zum Teil schon, erfreulicherweise. Ich hab’ mich auch nach der politischen Wende sehr für den Umbau des Stadtzentrums eingesetzt und war erfreut, dass es doch möglich ist, mit Materialien zu arbeiten, die es zu DDR-Zeiten nicht gab. Dass auch finanziell die Nöte in dieser Form nicht vorhanden waren. Mit der Zeit wurde es aber schwieriger: Die Investoren, die aus den westlichen Bundesländern kamen und hier bauten, brachten ihre eigenen Planer mit. Für die hiesigen Planer blieb dann immer weniger übrig. 1996 habe ich mich dann aus Altersgründen zur Ruhe gesetzt. Aber ich bin heute noch tätig als Berater der Stadt: Die Chemnitzer Stadtplanung legt großen Wert darauf zu hören, was der Beuchel für eine Meinung vertritt.

    „Aber ich habe mir eben gesagt, die Zeit war damals so."

    Sie sagten bereits, dass Sie Ihre Stasi-Akten eingesehen haben. Können Sie etwas mehr davon erzählen?

    Ich habe schon 1990 den Antrag gestellt. Nach vier Wochen bekam ich dann einen Anruf: „Die Unterlagen sind da, Sie können kommen, aber Sie müssen viel Zeit mitbringen." Da wurde dann ein Riesenstapel Akten auf den Tisch gestellt. Ich hatte tagelang zu tun, darin zu lesen und war erschrocken, was da so alles zu Tage kam. Abgesehen von meinem Stellvertreter, der die Berichte geschrieben hatte, gab es noch mehrere Mitarbeiter in meinem Verantwortungsbereich, die als IM auf mich angesetzt waren. Von denen ich das nie gedacht hätte! Das war schockierend.

    Haben Sie die Leute, von denen Sie bespitzelt wurden, jemals darauf angesprochen?

    Nein. Es ist aber auch keiner von denen zu mir gekommen. Das war ein riesiger Schock, den ich da erlitten hatte. Aber ich habe mir dann gesagt, die Zeit war damals so. Mancher ist da reingestolpert als inoffizieller Mitarbeiter, hat Geld bekommen, ist dadurch möglicherweise korrumpiert worden – was weiß ich. Ich möchte da keinen Vorwurf machen, weil das ganz schnell gehen konnte, dass man in so eine Sache hineingerät, in die Fänge einer solchen Einrichtung, aus denen man nie wieder herauskommt.

    Welches Bild haben Sie heute im Nachhinein von der DDR?

    Ich sehe heute die DDR anders als früher. Der Staat DDR hat sich von einem Staat des Sozialismus, von den eigenen Idealen, immer mehr entfernt. Ist immer mehr zur Bürokratie und Diktatur gewandert. Die Parteidoktrin und die staatliche Hierarchie wurden immer straffer und ließen immer weniger Möglichkeiten zu. Meine Ideale, die ich ursprünglich hatte, sind immer mehr abgebröckelt. Heute staune ich über mich selber: „Mensch, wie du das so lange durchgestanden hast." Aber das war eben die Zeit damals. Man konnte nicht anders …

    Wie denken Sie mittlerweile über den Sozialismus, an den Sie ja einmal geglaubt haben?

    Vor ein paar Jahren wurde das Karl-Marx-Monument hier in Chemnitz eingehaust, das war eine Kunstaktion. Ich wurde gebeten, über meine Auffassung zu dem Monument und zur Gestaltung der Stadt zu sprechen. Ich hab’ dort in der Öffentlichkeit meine Meinung vertreten, nämlich dass Karl Marx doch eigentlich eine Lehre entwickelt hat, die den Kapitalismus in gewisser Weise bloßgestellt hat. Aber er hat diese Lehre nicht zu Ende gedacht. Er hat nicht gesagt, was nach dem Kapitalismus kommen soll. Das war eigentlich auch der Grund, weshalb die DDR nicht funktioniert hat. Das, was Lenin und andere aus der Lehre gemacht haben, war nicht das, was Marx eigentlich wollte. Schon das war der Grundstein für den Untergang des Sozialismus.

    Empfinden Sie ihr Leben in der DDR rückblickend als verlorene Zeit‘?

    Nein. Ich bin in der DDR aufgewachsen, hatte meine Familie dort, habe meine Ausbildung genossen. Ich habe nicht nur beruflich, sondern auch privat sehr viel gelernt. Ich bin meinen Idealen nachgegangen – obwohl das nicht immer gefragt war. Die DDR ist meine Heimat gewesen, und ich habe für die Menschen meiner Heimat gearbeitet. Trotzdem trauere ich der Vergangenheit nicht nach. Ich durfte nicht immer nur gute Erfahrungen machen. Aber die Zeit war damals so; und ich habe es ja auch einigermaßen gut überstanden. Ich bin trotzdem froh, dass es die DDR nicht mehr gibt. Es wäre fürchterlich, wenn es diesen Staat noch gäbe – wer weiß, was aus uns geworden wäre.

    Das Gespräch führte Steffi Kühnel

    1 Hellmut Opitz/Hermann Wille: Karl-Marx-Stadt, Leipzig 1974.

    2 http://www.chemnitz.de/chemnitz/de/stadt_chemnitz/stadtportrait/

    stadtportrait_index.asp, 20.8.09

    3 Karl Joachim Beuchel: Die Stadt mit dem Monument, Chemnitz 2006.

    4 Der Reichsarbeitsdienst (RAD) war von 1933-45 ein sechsmonatiger Arbeitsdienst, der dem Wehrdienst vorausging. Aufgrund der hohen Truppenverluste fand ab 1944 die militärische Grundausbildung direkt während des RAD statt.

    5 Die Architekten Karl Wilhelm Ochs (1896–1988) und Walter Henn (1912–2006) waren ab 1946 Professoren an der TH Dresden. Ochs wurde 1953 an die TU Berlin berufen; Henn ging im selben Jahr an die TU Braunschweig.

    6 Georg Funk (1901–1990) studierte Architektur in Dresden, arbeitete nach dem Zweiten Weltkrieg am Wiederaufbau von Chemnitz mit und wurde 1949 als Professor für Baurecht und Bauordnung an die TH Dresden berufen. Dort baute er das Institut für Städtebau auf.

    7 Die 1946 gegründete Sowjetische Aktiengesellschaft, ab 1954 Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft Wismut, förderte an verschiedenen Standorten in der DDR Uran für die sowjetische Atomindustrie. Ganze Städte und Dörfer mussten dafür weichen, die von der Wismut verursachten Umwelt- und Gesundheitsschäden wirken bis in die Gegenwart nach.

    8 Fritz Heckert gründete 1919 die Chemnitzer KPD. Das Wohngebiet ,Fritz Heckert‘ entstand seit 1974 und war das drittgrößte Plattenbaugebiet der DDR. Bis 1988 entstanden hier über 30.000 Wohnungen für 90.000 Bürger. Nach 1990 verließen viele Bewohner das Stadtviertel, so dass sich das Gebiet – ebenso wie zahlreiche andere Neubaugebiete der DDR – seit 1998 im ,Rückbau’ befindet.

    9 Die Behebung der

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