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Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet: 25 Jahre Erinnerung und Deutung
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Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet: 25 Jahre Erinnerung und Deutung
eBook296 Seiten3 Stunden

Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet: 25 Jahre Erinnerung und Deutung

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Über dieses E-Book

Dieser Band widmet sich der Frage, mit welchen Bildern, Stereotypen, Konstruktionen, Mustern und Deutungen die DDR in Literatur, Film und Internet rückblickend erinnert wird. Welche Themen, Probleme, Gestalten und Ereignisse sind vorherrschend? Welche Wertungen zwischen Ostalgie und kritischer Aufarbeitung dominieren? Wie breit ist das Spektrum der Erinnerungen und Deutungen in der Rückschau auf die DDR als Parteidiktatur und als sozialistische Gesellschaftsordnung? Und: Haben sich die Erinnerungen und Deutungen des untergegangenen Regimes in den letzten 25 Jahren verändert? Welche Sicht auf die DDR herrscht heute vor?
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum9. Nov. 2015
ISBN9783412503963
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    Buchvorschau

    Das Bild der DDR in Literatur, Film und Internet - Hans-Joachim Veen

    Hans-Joachim Veen

    Einführung

    Mit dem Thema »Das Bild der DDR in der Literatur und den audiovisuellen Medien – 25 Jahre Erinnerung und Deutung« des 13. Internationalen Symposiums der Stiftung Ettersberg am 17. und 18. Oktober 2014 verließen wir die Grenzen unseres Faches, die Zeitgeschichte und Politikwissenschaft, und wagten uns in die Literatur- und die Medienwissenschaften vor. So interdisziplinär war bisher noch keines unserer internationalen Symposien, aber im Jubiläumsjahr 2014, dem Jahr der europäischen Zeitgeschichte, schien uns dieses weite Ausgreifen in die geistig-kulturelle Rezeptionsgeschichte der Friedlichen Revolution mehr als angemessen.

    2014 wurde an den Beginn des Ersten Weltkrieges vor einhundert Jahren, an den Beginn des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren und an die Friedliche Revolution, die vor 25 Jahren die SED-Diktatur hinwegfegte, erinnert. Im Erinnern und im Gedenken dürften die Deutschen im Nationenvergleich ganz vorn sein. Manchmal gewinnt man den Eindruck, dass das Erinnern und Gedenken fast übermächtig wird, dass wir uns in Deutschland mehr mit der Vergangenheit als mit der Zukunft beschäftigen. Aber wenn man am 9. Oktober 2014 in Leipzig beim Lichterfest dabei war und die geschätzten 200.000 Menschen erlebt hat, die dieses psychologisch entscheidenden Tages vor 25 Jahren gedachten, als die Menschen ihre Angst überwanden, auf die Straße gingen und das Regime zurückwich, hat man gespürt, wie tief das Bedürfnis ist, diesen Wendepunkt der SED-Diktatur in Erinnerung zu behalten. Ich habe diesen Tag jedenfalls als einen stolzen Tag, nicht nur für die Oppositionellen von damals, sondern für die Demokratie in ganz Deutschland verinnerlicht.

    Aber das Groß-Gedenken hat natürlich auch seine Gefahren. Bundespräsident Joachim Gauck hat auf dem Deutschen Historikertag 2014 in Göttingen eine davon zur Sprache gebracht, als er die Frage stellte, »ob die Geschichte nicht dabei ist, über die Gegenwart und Zukunft zu siegen?« Der Bundespräsident fuhr fort:

    Hat man noch nicht vor allzu langer Zeit Anklagen von der »Geschichtslosigkeit« oder »Geschichtsvergessenheit« der Gegenwart gesprochen, so scheint mir heute das Gegenteil zuzutreffen! Unaufhörlich und fast ausschließlich, so sieht es aus, [<<7||8>>] sind wir gegenwärtig mit der Geschichte, sind wir mit Jubiläen, Gedenktagen, Erinnerungen und Denkmälern oder Denkmalplanungen konfrontiert. Wo ist nur die Zukunft hin?¹

    Wo ist nur die Zukunft hin? Wie wurden die Weichen dafür intellektuell, künstlerisch und medial nach dem Ende der DDR gestellt? Diese Fragen haben auch bei der Planung unseres 13. Internationalen Symposiums eine wesentliche Rolle gespielt. Wir waren uns rasch einig, dass es nicht genug wäre, einfach in den vielstimmigen Chor der Erinnerung an die Ereignisse vor 25 Jahren einzufallen. Das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung listet in seinem informativen Internetportal »Freiheit und Einheit« dutzende von Veranstaltungen unterschiedlichster Art auf, die sich 2014 deutschlandweit der Erinnerung an den Sieg der Friedlichen Revolution widmeten. Dass die dortigen Auflistungen keineswegs vollständig sind, zeigt schon die Tatsache, dass ausgerechnet unser 13. Internationales Symposium zum »Bild der DDR in der Literatur und den audiovisuellen Medien – 25 Jahre Erinnerung und Deutung« dort nicht genannt wurde. Aber auch das Presse- und Informationsamt der Bundesregierung ist eben nicht perfekt. Vielleicht mag auch die Kompliziertheit unserer Fragestellung dazu beigetragen haben, die eben nicht nur 25 Jahre Friedliche Revolution rekapitulieren will. Mit unserem Symposium wollten wir vielmehr versuchen, einen Beitrag zur Aufarbeitung der Aufarbeitung zu leisten.

    Es ging uns also nicht einfach um die Rückerinnerung an das Ende der SED-Diktatur, über deren Qualifizierung als Unrechtsstaat ja gerade im Vorfeld der Bildung einer rot-rot-grünen Koalition in Thüringen unter Führung eines ersten linken Ministerpräsidenten ein heftiger Streit in der LINKEN getobt hat. Es ging uns auch nicht um die Rückerinnerung an die gloriosen Wochen der Friedlichen Revolution, als die DDR-Führung die Botschaftsflüchtlinge in Prag und Warschau in die Freiheit entlassen musste, als die Friedensandachten sich zu Massendemonstrationen ausweiteten und die SED-Machthaber hilflos zusehen mussten, wie ihnen die Macht entglitt, bis am 9. November 1989 in Folge eines Missverständnisses eines überforderten SED-Spitzenfunktionärs über Nacht die Mauer fiel und von den friedlichen Massen überrollt wurde. Gewiss: »Wahnsinn« war das alles, und auch die, die das alles damals aktiv mitgestaltet oder am Fernsehen miterlebt hatten, möchten manchmal dem eigenen Erinnerungsvermögen misstrauen: Wieso war das plötzlich auf so wundersame Weise einfach und die Welt über Nacht eine andere geworden?

    [<<8||9>>] Wir fragten in unserem Symposium danach, wie die Literatur und die Medien mit allen diesen verschiedenen, widersprüchlichen, geteilten und allmählich auch verblassenden Erinnerungen umgehen. Literatur und Medien schreiben ja auf ihre Weise ein Protokoll der Zeitgeschichte und des Aufarbeitungsprozesses. Sie gestalten damit ganz wesentlich auch den Weg in die Zukunft des vereinigten Deutschlands mit, jener Zukunft also, nach deren Verbleib der Bundespräsident so eindringlich gefragt hat. Mit welchen Bildern, Stereotypen, Konstruktionen, Mustern und Deutungen wird die DDR demgemäß in der Literatur, in Film und Fernsehen erinnert? Welche Wertungen zwischen Ostalgie und kritischer Aufarbeitung dominieren? Wie breit ist das Spektrum der Erinnerungen und Deutungen in der Rückschau auf die DDR als Parteidiktatur und als sozialistische Gesellschaftsordnung? Und: Haben sich die Erinnerungen und Deutungen des untergegangenen Regimes in den letzten 25 Jahren verändert? Welche Sicht auf die DDR herrscht heute vor?

    Die Ergebnisse des 13. Internationalen Symposiums der Stiftung Ettersberg liegen nun in gewohnter Weise in Form dieses Tagungsbandes vor. Ohne im Einzelnen auf alle Autorinnen und Autoren eingehen zu wollen, soll an dieser Stelle nur der Aufsatz von Matthias Steinle Erwähnung finden, der am Symposium als Referent nicht mitwirken konnte, aber mit seinen Ausführungen zum DDR-Bild im deutschen Dokudrama eine vorzügliche Ergänzung zu den in diesem Band versammelten Beiträgen liefert.

    Schaue ich auf das Fernsehen, dann hat es dort in den letzten Jahren gewiss unzählige hochwertige Dokumentationen, auch einprägsame Spielfilme und viele informative Gesprächsrunden, bei denen jene mit Zeitzeugen immer am eindrücklichsten waren, gegeben. Inzwischen, so scheint es, ist das Thema insgesamt aber entschieden auf die hinteren Plätze weggerutscht. Ich erinnere nur an das meines Erachtens wenig fokussierte Fernsehabendprogramm des 3. Oktober, des Tages der Deutschen Einheit. ARD und ZDF erfreuten das Publikum mit einer Komödie um eine Rentner-Lottotippgemeinschaft und einem Krimi; der MDR zeigte So schön ist Deutschland, und 3sat brachte zur besten Sendezeit den liebenswerten Hauptmann von Köpenick mit Heinz Rühmann. Der Erinnerung, um hier gar nicht von Aufarbeitung zu sprechen, wurde dann mit einigen wohlbekannten Konserven vom Der Turm (Christian Schwochow, 2012) bis zur Nikolaikirche (Frank Beyer, 1995) im Spätprogramm ein Platz eingeräumt.

    Vielfach ist in der letzten Zeit nach dem großen Roman oder dem großen Film gerufen worden, in denen SED-Diktatur, Friedliche Revolution oder gesamtdeutscher Wiedervereinigungsprozess so zur Geltung kommen, dass eine breite Öffentlichkeit sagen kann: »Ja, so war es. Ja, so haben wir es erlebt und erinnern uns an jene Geschehnisse, die im Herbst 1989 die Welt veränderten.« [<<10||11>>] Zugestandenermaßen: Christa Wolf, Stefan Heym, Thomas Brussig, Christoph Hein, Uwe Tellkamp, Monika Maron, Reinhard Jirgl, Volker Braun, Jana Hensel, Eugen Ruge und manch andere haben wichtige, auch glanzvolle Beiträge zur sogenannten »Wendeliteratur« geleistet, vor allem im geschichtspolitischen Deutungskampf um den SED-Staat.

    Fast unmittelbar vor Beginn unseres Symposiums hatte der Thüringer Lutz Seiler für Kruso, einen Roman, der von Hiddensee und vom Untergang der DDR erzählt, den Deutschen Buchpreis auf der Frankfurter Buchmesse bekommen. Im Leitartikel der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 8. Oktober 2014 wurde dazu angemerkt:

    Vor sechs Jahren ging die viel beachtete Auszeichnung, die regelmäßig sechsstellige Verkaufszahlen für die prämierten Bücher garantiert, an Uwe Tellkamp für den »Turm«, 2011 an Eugen Ruge für »In Zeiten des abnehmenden Lichts«. Die drei Bücher stammen von Männern, was bemerkenswert genug ist, weil der Deutsche Buchpreis bislang häufiger von Autorinnen gewonnen worden ist. Noch interessanter ist, dass sowohl Tellkamp als auch Ruge und Seiler aus der DDR stammen.²

    Das Genre des sogenannten »Wenderomans« ist also eine eindeutig ostdeutsche Angelegenheit. Dazu passt auch der vierte und früheste, noch vor Buchpreiszeiten erzielte große Verkaufserfolg des Genres »Wenderoman«: Thomas Brussigs 1995 erschienenes Buch Helden wie wir.

    Wie kann man diesen Zustand erklären? Offenbar ist das Bedürfnis ostdeutscher Schriftsteller, sich ihre biografischen Erfahrungen von der Seele zu schreiben, aus nachvollziehbaren Gründen größer als das ihrer westdeutschen Kollegen, die 1989 nur Zuschauer waren. Hinzu kommt: Das vereinte Deutschland verfügt bis heute über keine nationale Erzählung von der Friedlichen Revolution. Das dürfte auch mit dem gelegentlich beklagten »Schweigen der Intellektuellen« beziehungsweise »Schweigen der Dichter« in den großen Tagen der Friedlichen Revolution zusammenhängen.³ Denn nicht die Intellektuellen und Dichter standen an der Spitze jener Friedlichen Revolution, die sich »gewaltlos, ohne Führer, ohne Avantgarde, ohne ideologisches Programm« [<<10||11>>] ereignete, wie Werner Schulz vor kurzem in einem Interview formulierte⁴, und die dann rasch von der deutschen Wiedervereinigung aufgesogen wurde. Vielfach ließen sich die Stimmen der großen DDR-Dichter schon damals doch eher zurückhaltend, teils vereinigungskritischer oder auch nur mäkelnd vernehmen: Eine solche totale Kapitulation des Sozialismus hatten viele dann doch nicht gewollt. Dieser jämmerliche Abgang einer Idee, der man immer Besseres zugetraut hatte, war schwer zu verkraften. Da hätte es doch eher irgendwo und irgendwie einen »verbesserlichen Sozialismus« geben sollen von der Art, von der der Erfurter Propst Heino Falcke auf der Synode des Bundes der Evangelischen Kirchen 1972 in Dresden geträumt hatte. Nun aber sagte das Volk: Dieser Sozialismus kann nicht verbessert, sondern nur abgeschafft werden, und es bekräftigte das bei den ersten freien Volkskammerwahlen am 18. März 1990 auf eindrucksvolle Weise mit dem Sieg des Wahlbündnisses, der »Allianz für Deutschland«. Diese »Kränkung« der intellektuellen Eliten wirkt, wenn ich es richtig sehe, in Ost, aber auch in West, bis heute hintergründig nach, teilweise in der Literatur, aber auch in den Medien. Hier könnte auch eine tiefere Ursache für das Scheitern von mancherlei Anläufen zu Einheits- und Freiheitsdenkmälern liegen. Goldene Wipp-Bananen und tausende bunte Hocker können die nationale Erzählung von dem größten Ereignis der deutschen Freiheitsgeschichte, der ersten erfolgreichen demokratischen Revolution in der Geschichte der Deutschen, nun einmal nicht ersetzen.⁵

    Diese Erzählung wäre aber die Voraussetzung für jedes öffentliche Erinnern gerade im Denkmalformat. Vielleicht braucht diese nationale Erzählung auch noch Zeit? Vielleicht ist der 9. Oktober in Leipzig auf dem Weg zum nationalen Mythos? Vielleicht ist es aber auch nur angemessen, dass es die große nationale Erzählung nicht gibt? Und vielleicht hält uns gerade dieses gebrochene Verhältnis zu unserer jüngsten Vergangenheit den Weg in jene Zukunft offen, nach deren Verbleib der Bundespräsident so besorgt fragte.

    Der Band wurde von Manuel Leppert redaktionell betreut, ihm danke ich abschließend für seine umsichtige und sorgfältige Arbeit. [<<11||13>>]

    1Joachim Gauck: Verlierer siegen auch, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 25. September 2014, S. 12.

    2Andreas Platthaus: Die DDR als sicherer Bucherfolg, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8. Oktober 2014, online abrufbar unter: http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buchmesse/themen/der-wenderoman-als-ostdeutsche-maennerangelegenheit-13195140.html, letzter Zugriff: 06.02.2015.

    3Vgl. z. B. Frank Thomas Grub: »Wende« und »Einheit« im Spiegel der deutschsprachigen Literatur, Bd. 1: Untersuchungen, Berlin/New York 2003, S. 130–147.

    4Werner Schulz: Unsere Revolution war anders, in: GewandhausMagazin, Nr. 84 (Herbst 2014), S. 28–33, hier S. 33.

    5Vgl. hierzu den reich illustrierten Band von Hans-Joachim Veen/Volkhard Knigge (Hg.): Denkmäler demokratischer Umbrüche nach 1945 (= Europäische Diktaturen und ihre Überwindung. Schriften der Stiftung Ettersberg, Bd. 20), Köln/Weimar/Wien 2014.

    Leszek Szaruga

    Die Rolle der Intellektuellen in Polen bei der Vorbereitung des demokratischen Umbruchs 1989 in Osteuropa

    1.

    Bevor wir über die Rolle der Intellektuellen in den postkommunistischen Ländern beim sogenannten »Völkerherbst«¹ 1989 sprechen, sollten wir über den Beitrag der europäischen Intelligenz zur Festigung des Kommunismus und dessen Hintergründe nachdenken. Um zu verstehen, worum es geht, müssen wir uns des »Sprachschwindels« bewusst werden, der eine Begriffsverwirrung mit dramatischen Folgen nach sich gezogen hat.

    Beginnen wir mit dem Begriff »Revolution«. Die Ereignisse in Russland im Oktober 1917 eine große Revolution zu nennen, führte dazu, sie mit der Französischen Revolution von 1789 gleichzusetzen und somit als einen bedeutenden Umbruch im Lauf der Geschichte, als eine Art Mutationssprung zu betrachten. Kaum jemand verwies jedoch darauf, dass die eigentliche Revolution in Russland der Versuch war, im Februar 1917 einen demokratischen Staat aufzubauen, der mit der Tradition der russischen Alleinherrschaft brechen sollte. Die Bolschewiki knüpften an das Erbe der Zaren an, als sie einige Monate später die alleinige Macht übernahmen, wollten dies allerdings verbergen, und so nannten sie ihren Putsch eine »sozialistische Revolution«. Zugleich räumten sie gerade die Sozialisten, die Partei der Menschewiki, zuerst aus dem Weg. Ein ähnlicher Hergang begleitete die Machtübernahme durch die Nazis in Deutschland 1933. Übrigens ist das Jahr 1933 in der Geschichte Russlands genauso wichtig, weil dann die »Große Säuberung« (stalinistische Säuberungen) begann. Auch in Deutschland zählten die Sozialisten zu den ersten Opfern der Nazis, obwohl die Hitlerpartei in ihrem Namen solche Begriffe wie »Arbeiter« und »sozialistisch« enthielt. Unterdessen mussten die Mitglieder der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) unter Zwang in die NSDAP eintreten. [<<13||14>>] Eine vergleichbare Situation entwickelte sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in den Ländern unter sowjetischer Besatzung: Dort wurden hauptsächlich die Sozialisten bekämpft. In Polen wurde noch während des Krieges auf Befehl des Kreml die Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (PVAP) gegründet, die dann mithilfe von Erpressungen und Repressionen die »Vereinigung« mit der Polnischen Sozialistischen Partei (PPS) erzwang, wobei die unfolgsamen Mitglieder der PPS verhaftet wurden.

    Die nächste sprachliche Manipulation betrifft den Umgang mit den Begriffen »Sozialismus« und »Kommunismus«, die als Synonyme oder sinnverwandte Wörter behandelt wurden. Der Terminus »Sozialismus« unterlag dabei einer politischen Reduktion und war auf die Bezeichnung des Systems beschränkt, welches nach der Machtübernahme durch die Kommunisten herrschte – jede andere Art, diesen Terminus zu verstehen, wurde als unzulässig betrachtet. Leider nahmen breite Kreise der europäischen intellektuellen Eliten solche Propagandamaßnahmen unkritisch hin. Sie verstanden die Sowjetunion und das dort herrschende System als die Umsetzung des Traums von der Erschaffung eines klassenlosen Systems, in dem Gerechtigkeit und soziale Gleichheit galten und die Macht an die Vertreter des Volkes, die Bauern und Arbeiter, übertragen wurde. Genauso unkritisch – mit einigen Ausnahmen wie zum Beispiel Bertrand Russell – akzeptierten die Intellektuellen in den 1920er und 1930er Jahren das verfälschte Bild des Lebens in der Sowjetunion, das ihnen während der eigens vom Kreml organisierten Ausflüge durchs Land vermittelt wurde. Jene Überzeugung verfestigte sich, nachdem Moskau an der Anti-Hitler-Koalition im Zweiten Weltkrieg teilnahm und die Rote Armee sich an der Vernichtung des Dritten Reiches beteiligte. In den Augen vieler Intellektueller war es ein Beweis für die einzigartige Rolle des kommunistischen Systems im Kampf um die Freiheit. Sie übersahen indes, dass der 1939 unterzeichnete Hitler-Stalin-Pakt (deutsch-sowjetischer Nichtangriffspakt) zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beitrug. Der Pakt wurde als eine taktische Maßnahme angesehen, die laut der sowjetischen Propaganda darauf zielte, die in Polen lebende belarussische und ukrainische Bevölkerung zu schützen. Letztendlich, nach Beendigung der Kriegshandlungen, setzte sich der Teil der westlichen Eliten, welcher der kommunistischen Ideologie zugetan war, für die Sowjetunion ein, weil diese sich den USA widersetzte. Für diese Eliten stellte die Großmacht Amerika die Verkörperung des imperialistischen Bösen dar.

    Ein großer und einflussreicher Teil der westlichen Eliten, der in einem demokratischen, die Meinungsfreiheit respektierenden System lebte, unternahm allerhand Anstrengungen, um die Wahrheit über die bestehenden Lebensbedingungen in der Sowjetunion und ihren Satellitenstaaten zu dementieren. Mehr noch: Zahlreiche Intellektuelle wie Jean Paul Sartre, die für ihre Kollegen [<<14||15>>] in Ostmitteleuropa ohne Zweifel als Autoritäten galten, bestärkten sie in der Überzeugung, dass die Ideologie, aber auch die Praxis des Kommunismus die richtige Wahl seien und nichts unternommen werden sollte, was die Stellung der Sowjetunion untergraben könnte. Darauf basierend wurden alle Zeugnisse der sowjetischen Verbrechen verschwiegen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Buch von Gustaw Herling-Grudziński² über die unmenschlichen Bedingungen des Lebens in einem Straflager (Gulag): In den 1950er Jahren geschrieben, von Albert Camus begeistert rezensiert, erschien der Band in Frankreich erst Ende der 1980er Jahre, lange nach der Veröffentlichung von Alexander Solschenizyns Der Archipel Gulag (1973). Das ist nur ein Beispiel von Tausenden, die angeführt werden könnten. Und es scheint unmöglich, diese Fakten nicht in Verbindung zu bringen mit dem, was Gottfried Benn passierte, als er 1933 seine berühmte Rede »Der neue Staat und die Intellektuellen« hielt, um »den neuen Glauben« kurz darauf zu verwerfen.³

    2.

    Die Situation änderte sich ein wenig nach der Bekanntgabe der Liste der stalinistischen Verbrechen durch Nikita Chruschtschow, nach der blutigen Niederschlagung des antikommunistischen Aufstandes in Ungarn 1956 sowie den Ereignissen des »Polnischen Oktobers« im gleichen Jahr. In Ungarn setzten die Sowjets ein moskautreues Kabinett unter der Führung von János Kádár ein und ließen eine Lockerung der bis dahin geltenden strengen Regeln zu, zunächst in der Wirtschaft und später auch im kulturellen Bereich. In Polen kam es zu einem Regierungswechsel: Der aus dem Gefängnis entlassene Władysław Gomułka wurde als Parteichef der PVAP von den Sowjets akzeptiert. Gomułka genoss breite Unterstützung in der polnischen Gesellschaft sowie der katholischen Kirche, weil er die Rolle des Reformators verkörperte, der sich – so hoffte man – Moskau widersetzen könnte. Einer großen Popularität erfreute sich damals die Parole »Sozialismus – Ja, seine Verfälschung und Kapitalismus – Nein«. Sie war der Ausgangspunkt für die Idee, das System zu reformieren, vorwiegend vertreten durch die in der sozialistischen Tradition stehenden intellektuellen Kreise. Sie wurden von einer größeren [<<15||16>>] Gruppe der Intellektuellen, die der Kirche nahestanden, unterstützt. Polen war zu dieser Zeit das einzige Land im sozialistischen Lager, in dem von der Zensur unabhängige, katholische Verlage agierten.

    In Anknüpfung an jene Parole entstand innerhalb kürzester Zeit in Polen, sogar in kleinen Ortschaften, ein Netz von Klubs der katholischen Laien, die jedoch schnell aufgelöst wurden. Bis 1961 gelang es nur dem Warschauer »Klub des Schiefen Kreises« (Klub Krzywego Kola) zu existieren. Dank der Unterstützung der Kirche konnte sich der in einigen Städten tätige »Klub der Katholischen Intelligenz« (Kluby Inteligencji Katolickiej) auf Dauer ins öffentliche Leben einbringen. In diesem Klima entstand eine Bewegung zur Umdeutung des offiziellen Marxismus, unter anderem nach der Veröffentlichung der Übersetzungen von Schriften des jungen Karl Marx oder der westlichen Marxisten wie Antonio Gramsci und Roger Garaudy, aber auch von Schriften und Werken der Existenzialisten. Die Vertreter der Bewegung wurden in der Publizistik der Partei als »Revisionisten« bezeichnet. Unter ihnen war Leszek Kołakowski, der nach Jahren seine grundsätzliche Abhandlung Die Hauptströmungen des Marxismus⁴ verfasste.

    Sie versuchten die Reformprogramme des real existierenden Systems zu formulieren, ohne dabei die

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