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Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa
Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa
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eBook313 Seiten3 Stunden

Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa

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Über dieses E-Book

Vor beinahe 25 Jahren brachen die kommunistischen Regime Ostmitteleuropas zusammen. Es fragt sich, wie sich deren Aufarbeitung entwickelt hat und wie sie künftig betrieben werden soll, wenn die unmittelbare Erinnerung schwindet und die Zeitzeugen eines Tages nicht mehr zur Verfügung stehen. Welche Folgen wird die Historisierung für die Erinnerungskultur und für die Gedenk­stättenarbeit haben? Werden sich die Schwerpunkte der Aufarbeitung in diesem Prozess zunehmend in geschichtswissenschaftlicher und demokratiepädagogischer Richtung verlagern? Wie gestaltet sich das Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Zeitzeugenschaft? Welche Bedeutung kommt insbesondere den Zeitzeugen zu? Diese Fragen stehen im Zentrum des vor­liegenden Bandes.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Köln
Erscheinungsdatum3. Okt. 2013
ISBN9783412218263
Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa

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    Buchvorschau

    Kommunismusforschung und Erinnerungskulturen in Ostmittel- und Westeuropa - Volkhard Knigge

    Der Kommunismus in den Geschichtskulturen Ostmitteleuropas

    Michal Kopeček

    Kommunismus zwischen Geschichtspolitik und Historiographie in Ostmitteleuropa

    Nach 1989 erlebte die zeithistorische Geschichtsschreibung in Ostmitteleuropa einen wahren Boom in ihrer institutionellen Ausgestaltung, ihrem Verlagswesen, der finanziellen Unterstützung und, last but not least, durch das öffentliche Interesse. Doch entwickelte sich diese historiographische Forschung nicht in einem neutralen Umfeld. Ein vielschichtiger Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit war allgegenwärtig und gehörte zu den konstitutiven Elementen der neuen oder wiedergeborenen Demokratien in Ostmitteleuropa nach 1989. Die »Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit« war besonders wichtig als Mittel zur Sicherung der Legitimation der neuen demokratischen Regime. Ich schlage vor, die seit 1989 vergangenen mehr als zwei Jahrzehnte schematisch in zwei Perioden aufzuteilen: Die erste setzt unmittelbar nach den demokratischen Revolutionen ein und erstreckt sich bis zur zweiten Hälfte der 1990er Jahre. Sie ist gekennzeichnet durch die »Suche nach Legitimation« der neuen Ordnung, und die dringliche Aufgabe, die Netzwerk-Nomenklatur der alten Kader stillzulegen, beeinflusste die Art und Weise, wie die Geschichtspolitik organisiert wurde. In der zweiten Periode – die letzten Jahre des 20. Jahrhunderts, die durch die Stabilisierung und Legitimation der politischen Systeme charakterisiert sind – wurde die kommunistische Vergangenheit mehr als früher zu einem Feld des politischen Kampfes mit unterschiedlichen Varianten der Erinnerungspolitik als zweckmäßiges politisches Instrument. Die auffälligste von ihnen war eine aktive antikommunistische, oft rechtsgerichtete Erinnerungspolitik mit ihrem Streben nach Ausbesserung und Wiederherstellung des »Gedächtnisses der Nation«.

    Die zentrale Frage meiner Ausarbeitung ist: Wie hat sich die Historiographie der jüngsten Geschichte und besonders die Geschichte des Kommunismus in Ostmitteleuropa (mit Fokus auf Tschechien, Ungarn, Polen und der Slowakei) in den letzten mehr als zwei Jahrzehnten entwickelt? Um das zu verstehen, müssen wir einen breiteren sozialpolitischen und kulturellen Kontext, und dabei besonders die politischen Zusammenhänge im Umgang mit der kommunistischen Vergangenheit, betrachten. Ich möchte gewissermaßen [<<17||18>>] in drei Schritten vorgehen: Zuerst werde ich die Vorgeschichte der postkommunistischen Geschichtsschreibung kurz untersuchen, vor allem das Jahrzehnt vor 1989, das die Voraussetzungen für die jüngste Entwicklung geschaffen hat. Zweitens werden wir die Geschichtspolitik der 1990er Jahre und die Art und Weise untersuchen, wie sie bei den Experten auf dem Gebiet der historischen Forschung wiedergegeben wird, mit anderen Worten, wie hierdurch diese Gründungsperiode der Zeitgeschichte in der Region beeinflusst wurde. Schließlich sollten wir über die Entwicklungen innerhalb der letzten, seit der Jahrtausendwende mehr als zehn vergangenen Jahre nachdenken, die bedeutende Veränderungen in den politischen Kulturen dieser Länder sowie der Historiographie Ostmitteleuropas angestoßen haben.¹

    1. Vorgeschichte

    Vereinfacht gesprochen, müssen wir für die letzten anderthalb Jahrzehnte oder die Zeit des späten Staatssozialismus und insbesondere in der Historiographie zur jüngeren Geschichte, die in gewisser Weise getrennt davon existiert, grundsätzlich drei verschiedene Arten der Geschichtsschreibung unterscheiden.² Die erste und hartnäckigste war offensichtlich die offizielle Geschichtsschreibung. Sie ging aus den Forschungsinstituten der Wissenschaftsakademien, aus Universitäten, Museen, Archiven usw. hervor. Die Ergebnisse dieser Arbeiten waren umfangreich, doch je mehr ihre Themen sich der vorkommunistischen und kommunistischen Zeit näherten, desto mehr waren sie als offizielle Verlautbarungen politisch und ideologisch gefärbt. Natürlich gab es wichtige Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern.

    In Ungarn zum Beispiel schloss die historische Forschung viele problematische Fragestellungen zur Geschichte des 20. Jahrhunderts mit ein und war im Vergleich zu anderen Ländern des Ostblocks relativ liberal. Interessante und bis heute wichtige Bücher erschienen zur Trianon-Frage, zum [<<18||19>>] Horthy-Regime, zu Ungarns Rolle im Zweiten Weltkrieg oder zum Holocaust an den ungarischen Juden; auch die stalinistische Periode wurde mit einer gewissen Gedankenfreiheit untersucht. Die einzigen zwei Ausnahmen waren: die Geschichte der ungarischen kommunistischen Partei (Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei³) und der Revolution von 1956.

    Im Gegensatz dazu wurde in der Tschechoslowakei – besonders im tschechischen Teil des Landes, während die Slowakei nicht so stark betroffen war – nach der Zerschlagung des Prager Frühlings und den massiven Säuberungen in den Reihen der Kommunisten die offizielle Geschichtsschreibung der Geschichte des 20. Jahrhunderts sehr streng ideologisch kontrolliert. Sehr viele von diesen unverhohlenen ideologischen Werken waren nach 1989 nicht mehr vorzeigbar, da sie einer wissenschaftlichen Betrachtung der Geschichte nicht Stand hielten.

    Die zweite Art, die mehr oder weniger während der ganzen Periode der kommunistischen Herrschaft bestand, war die Exil-Historiographie, entstanden nach der ersten Welle der politischen Emigration in den 1940er und Anfang der 1950er Jahre. Diese wurde im Laufe der nachfolgenden Auswanderungswellen von 1956, 1968, 1981 usw. ergänzt. Nun gibt es auch bei diesen historischen Publikationen wichtige Unterschiede, besonders im Hinblick auf die möglichen Auswirkungen. Für die Verhandlungen nach den Revolutionen von 1989 erwies sich die nichtkommunistische Exil-Historiographie als sehr wichtiges Instrument, zum Beispiel in dem historischen und politischen Diskurs in der Slowakei, insbesondere in den 1990er Jahren (in dieser Hinsicht ist die Slowakei vergleichbar mit Kroatien, den baltischen Republiken und der Ukraine), während in Polen, Tschechien und Ungarn nach 1989 die dritte Art eine viel wichtigere Rolle spielte – die Historiographie der Dissidenten.

    Im Gegensatz zu den beiden vorgenannten Arten gab es eine unabhängige Dissidenten- oder Samisdat-Geschichtsschreibung in mehr oder weniger institutionalisierter Form nur während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre vor 1989. Doch sie erwies sich von immenser Bedeutung für die Wiederherstellung der historischen Forschung und besonders für die jüngste Geschichte nach 1989. Das auffälligste Beispiel hier ist sicherlich Polen mit der Solidarność-Bewegung und ihrem intellektuellen Hintergrund einschließlich des unabhängigen historischen Diskurses sowie die spätere Untergrund-Solidarność mit einer Fülle von Untergrund-Verlagen, die ehrliche historische Diskurse alternativ zu den offiziellen produzierten.

    [<<19||20>>] Trotz der Legitimationsansprüche oppositioneller Historiker und ihrer weitschweifenden Bekundungen eines maßgeblichen Interesses in Bezug auf die historische Wahrheit und die Erkenntnis, war der historische Diskurs der Solidarność als Ganzes weit entfernt von neutralen akademischen Überlegungen. Der bekannte polnische Philosoph und Geisteswissenschaftler Bronisław Baczko nannte die sechzehn Monate des legalen Bestehens der Solidarność (1980/1981) eine Zeit »explodierenden historischen Gedächtnisses«.⁴ Seit seinen Anfängen und trotz des zwischenzeitlichen politischen Rückschlags im Dezember 1981 war der historische Diskurs der Solidarność der bedeutendste und einflussreichste anti-hegemoniale kulturelle Diskurs im kommunistischen Osteuropa. Er war nicht nur unabhängig, sondern der offiziellen kommunistischen Geschichtsschreibung diametral entgegengesetzt. Es wurde bereits von mehreren Wissenschaftlern dokumentiert, dass der revisionistische historische Diskurs zu einem grundlegenden Bestandteil der politischen und kulturellen Solidarność und später der Samisdat-Produktion wurde.⁵

    Während die älteren Traditionen nationaler Befreiungsbewegung – unter Rückbesinnung auf die romantischen Ursprünge der modernen polnischen Literaturtradition und auch der Aufstandstradition – als gemeinsamer kultureller Nenner für die Mitglieder und Sympathisanten der Solidarność-Bewegung dienten,⁶ wurden die jüngsten historischen Perioden natürlich einer großen revisionistischen Neubewertung unterzogen, etwa am offensichtlichsten durch die Fokussierung auf historische Tabus des Regimes wie zum Beispiel:

    • den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion, der Polen in zwei Hälften teilte (was in der offiziellen kommunistischen Interpretation als vorbeugender Schritt der UdSSR zur Vorbereitung auf den Krieg mit Deutschland dargestellt wurde. Im [<<20||21>>] Gegensatz dazu verweisen polnische Oppositions-Historiker nun auf die räuberischen Zusammenhänge und den Terror der Sowjets.);

    • das Massaker von Katyń, das allein vielleicht das größte historische Anathema für die sowieso schon fehlende Legitimation des polnischen Regimes war, weil es bis in die jüngste Zeit an der Katyń-Lüge festhielt;

    • der Warschauer Aufstand im Jahr 1944 und die Rolle der Roten Armee, die auf dem östlichen Weichselufer abwartete, bis die deutsche Armee den Aufstand niedergeschlagen und die Warschauer Bevölkerung niedergemetzelt hatte;

    • und natürlich die ganze Nachkriegszeit mit Entfaltung des kommunistischen Regimes und der Einführung des Stalinismus.

    Aber das waren nur die offensichtlichsten Tabuthemen; es gibt in der Tat viel mehr solche Themen, die nicht in den offiziellen historischen Veröffentlichungen behandelt werden konnten, dafür aber in die Geschichtsschreibung der Oppositions-Historiker Eingang fanden und im Untergrund und später regelmäßig in der Exil-Presse veröffentlicht wurden.

    Es war für die Oppositions-Historiker und Schriftsteller relativ einfach, die Lügen und Fälschungen der offiziellen Propaganda und der regimetreuen Geschichtsschreibung nachzuweisen. Und es ist kein Zufall, dass die einflussreichsten Zeithistoriker der 1990er Jahre wie Władysław Bartoszewki, Krystyna Kersten, Andrzej Paczkowski, Andrzej Friszke, Jerzy Holzer u. a. tatsächlich alle mehr oder weniger Solidarność-Historiker waren.

    Die propagandistische Wirkung dieses unabhängigen historischen Diskurses war bemerkenswert. Im Untergrund und auch im historischen Diskurs der offiziellen Presse, insbesondere bezüglich des 20. Jahrhunderts, verwandelte sich die polnische Nationalgeschichte in ein moral-politisches Schlachtfeld gegen das Regime, das sich nach der Einführung des Kriegszustandes im Dezember 1981 noch zusätzlich verstärkte. Es entstand ein leistungsfähiger Diskurs mit Enthüllung der sprichwörtlichen »weißen Flecken« auf der Landkarte der neuesten Nationalgeschichte. Es ist kein Zufall, dass dies in Polen geschah. Es gab hierfür einen besonders fruchtbaren Boden, weil die polnische Geschichte und die Geschichte der polnisch-sowjetischen Beziehungen voller Schattenseiten war, was sowohl die Sowjets als auch die heimischen Kommunisten mühsam zu vertuschen und zu verbergen versuchten. Inzwischen wird diese mit dem politischen Diskurs der Solidarność und ihrer leistungsfähigen Rhetorik eines nationalen Befreiungskampfes verbunden.

    [<<21||22>>] In keinem anderen Land Ostmitteleuropas halten die historischen Leistungen der Opposition einem Vergleich mit der Untergrund-Solidarność stand. Am nächsten kommt ihr – wenn auch in viel bescheidenerem Ausmaß – die tschechische Opposition, die mehrere Untergrund-Zeitschriften produzierte und regelmäßig Bücher zur jüngsten Geschichtsforschung veröffentlichte. Im Gegensatz dazu könnten der Großteil der ungarischen, aber auch der slowakischen Oppositionsveröffentlichungen quasi in den offiziellen Institutionen produziert worden sein, offiziell oder halboffiziell.

    Dennoch gab es einige Gemeinsamkeiten aller oppositionellen Geschichtsdiskurse, die nachweislich wichtige Konsequenzen für die nach 1989 einsetzende Periode hatten:

    In allen hier betrachteten Ländern gab es Versuche der Opposition, eine unabhängige Geschichtsforschung zu etablieren, und sie benutzte dies in großem Umfang als politisch-ideologisches Mobilisierungs- und Propagandainstrument gegen die sozialistische Diktatur und ihre historische Propaganda. Gleichzeitig dienen die verschiedenen Darstellungen, besonders diejenigen zur modernen Geschichte, als symbolisches Identitätsmerkmal. Diese strukturieren somit die Linien der politischen Identitäten, aus denen nach 1989 die Mehrparteiensysteme in den einzelnen Ländern entstanden.

    In allen Fällen war es vor allem die Nationalgeschichte und ihre jüngste Zeit, die die historischen Veröffentlichungen der Opposition dominierte. Dies hat zu einer Form der Aufdeckung der »weißen Flecken« in den jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen geführt – am stärksten in der polnischen und tschechischen Historiographie. Der Begriff des »nationalen Gedächtnisses« und seine projizierte herbeigesehnte Wiedergeburt oder Reinigung von »kommunistischen Lügen« wurde zu einem integralen Bestandteil des gesamten oppositionellen Geschichtsprojektes.

    2. Geschichtspolitik und Sprache der Zeitgeschichte in den 1990er Jahren

    Nach 1989 beeinflusste der komplexe Prozess des Übergangs von der kommunistischen Diktatur zur Demokratie in Mittel- und Osteuropa natürlich auch die Umschreibung der Geschichte. Die politischen Veränderungen des Jahres 1989 führten zu einer außerordentlichen Ausweitung von Forschungsgebieten, [<<22||23>>] vor allem in der Zeitgeschichte, wo nun auch öffentlich eine große Anzahl von Tabus gebrochen wurde. Eine führende Rolle in diesem Zusammenhang spielten in allen Ländern, die in unserem Fokus stehen, die ehemaligen Dissidenten oder die jetzt in ihre Heimatländer zurückgekehrten Exil-Historiker. In einigen Ländern, zum Beispiel in Tschechien, wurden völlig neue Institutionen geschaffen, wie das im Jahr 1990 auf Veranlassung der Historischen Kommission des Bürgerforums (Občanské forum) gegründete »Institut für Zeitgeschichte« in Prag (als Teil der damaligen tschechoslowakischen, später tschechischen Akademie der Wissenschaften). In diesem Fall finden wir auch eine direkte methodische und institutionelle Inspiration aus Deutschland, da die jüngste tschechische Geschichtsforschung zu einem großen Teil nach dem Vorbild der erfolgreichen deutschen Zeitgeschichtsforschung der Nachkriegszeit entwickelt werden sollte. So sehr die deutsche Zeitgeschichte stark durch den politischen und sozialen Kontext Nachkriegsdeutschlands und des Kalten Krieges geprägt worden ist, so sehr wurde die postkommunistische Zeitgeschichte durch das »Paradigma des demokratischen Übergangs« (transition paradigm) vorbestimmt. Das betrifft vor allem die Prozesse der »Auseinandersetzung mit der kommunistischen Vergangenheit« oder, anders gesagt, die Politik der Geschichte, die zu einem großen Teil die politische Kultur der neuen Demokratien beeinflusste sowie die bemerkenswerte Rehabilitierung des Nationalstaates als wichtigste und »natürliche« politische Rahmenbedingung für demokratisches Leben.

    Ich werde nun nicht ausgiebig über die Art und Weise der Vergangenheitsbewältigungsprozesse in den jeweiligen Ländern sprechen, die viele Schichten, Akteure und Institutionen einschließt und die ausführlich in der wissenschaftlichen Literatur beschrieben sind. Aber ich möchte kurz zwei Aspekte erwähnen, die für die Betrachtung der Entwicklung der Historiographie des Kommunismus wichtig sind.

    Zunächst ist da der sogenannte »transitional justice consensus« und als Zweites etwas, das ich »Erbe der Dissidenz« nennen will, mit anderen Worten, die Sprachmodalitäten über die kommunistische Vergangenheit, die sich im öffentlichen politischen Diskurs durgesetzt haben.

    Nach 1989 könnten die neuen postkommunistischen Demokratien durch eine lange Tradition von Verfahren und Mechanismen der Übergangsjustiz inspiriert worden sein, die aus den reichen historischen Erfahrungen der [<<23||24>>] Nachkriegszeit in Deutschland (Nürnberger Prozesse) und Japan (Tokioter Prozesse) resultierten, aber auch durch ähnliche Prozesse in Belgien, Österreich, Frankreich, durch den Übergang zur Demokratie in Südeuropa in den 1970er Jahren und später in Lateinamerika und, last but not least, durch die Parallele mit der Apartheid-Vergangenheit in Südafrika beeinflusst worden sein.

    Daher gab es eine Vielzahl von Modellen der Übergangsjustiz: von Wahrheits- und Versöhnungskommissionen, Vergeltungstribunalen, politischer Amnestie und Säuberungen, finanziellen Entschädigungen für die Opfer, Rückgabe von Eigentum, bis hin zu öffentlichen Bildungsprojekten, Museen und Programmen zur Dokumentation der kommunistischen Verbrechen.

    Im Allgemeinen hat die internationale Fachwelt die transitional justice als einen der Schlüsselfaktoren zur Gründung lebensfähiger und legitimer Demokratien gesehen. So bildet zum Beispiel bei Noel Calhoun die Übergangsjustiz eine solide Grundlage für den Aufbau einer Demokratie, weil sie den Mittelweg wählt zwischen dem Vergessen der Vergangenheit und grausamer Vergeltung als zwei inakzeptable Optionen, die neue demokratische Regime daran hindern können, dringend benötigte politische Legitimität zu erreichen.¹⁰

    In Ostmitteleuropa – so sehr sich in den jeweiligen Ländern der Kontext in Bezug auf die Intensität und Einbindung der Übergangsjustiz in den politischen Konflikt unterscheidet – können wir grundlegende Gemeinsamkeiten feststellen, etwa durch die Tatsache, dass in allen Fällen der Hauptadressat der Übergangsjustiz einmal die übergroßen Institutionen der Partei-Nomenklatur und zum anderen vor allem die Sicherheitskräfte waren. So wurde nach nicht einmal mehr als einem Jahrzehnt des Falls des Kommunismus in der Mehrzahl der ostmitteleuropäischen Länder eine Art Lustrations-Gesetzgebung ermöglicht, in vielen Ländern wurden die Archive der politischen Polizei der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, und in einigen Ländern wurden Prozesse mit den Verbrechern und Verdächtigen wegen Hochverrat inszeniert.¹¹

    So bedeutete die ostmitteleuropäische Übergangsjustiz vor allem: Lustration, Öffnung der Archive der Geheimpolizei, Prozesse (nicht sehr erfolgreiche) aber auch Dokumentation der kommunistischen Verbrechen. Dieser [<<24||25>>] Lustrations- oder auch legalistische Weg der Übergangsjustiz beeinflusste zu einem großen Teil die thematischen und teilweise auch methodischen Möglichkeiten der historischen Forschungen zum Kommunismus.

    Der zweite Aspekt des politischen Kontexts der 1990er Jahre, von dem hier kurz die Rede sein wird, ist das erwähnte »Erbe der Dissidenz/Opposition«. Mit Blick auf den Beginn der demokratischen Epoche in Ostmitteleuropa (am deutlichsten in Polen und der Tschechoslowakei) wurden neben ehemaligen Dissidenten, die Symbole des demokratischen Umbruchs im Jahr 1989 waren, sehr bald in vielen wichtigen Bereichen des öffentlichen Lebens erfahrene Ökonomen, Technokraten, Experten und pragmatische Politiker eingestellt. Doch es waren eben die ehemaligen Dissidenten, die die wichtigsten Akteure in den Diskussionen über die jüngste Vergangenheit und über die Praktiken zur möglichen Entkommunisierung darstellten. Allerdings ist es Tatsache – was oft durch eine idealisierte Betrachtung übersehen wird, mit der liberale Dissidenten wie Adam Michnik oder Václav Havel als die alleinigen Vertreter der Dissidenz präsentiert werden –, dass die ehemaligen, in zwei Richtungen gespaltenen Dissidenten tatsächlich die öffentliche Diskussion über die kommunistische Vergangenheit prägten: als überzeugte Antikommunisten wie auch als Kritiker des postkommunistischen politischen Antikommunismus.

    Um es vereinfacht auszudrücken: In den 1990er Jahren entstanden zwei verschiedene Interpretationen oder Visionen vom »Erbe der Dissidenz«. Eine, die liberal-republikanisch genannt werden könnte, betont den demokratischen Konsens, der die Eliten der antikommunistischen Opposition zusammenschweißte. Aus dieser Sicht, wie im Fall Tschechiens an der post-dissidenten liberalen Partei der Bürgerbewegung¹² (Petr Pithart, Jiří Dienstbier usw.) deutlich wird, war nicht der Widerstand gegen den Kommunismus per se die wichtigste Triebkraft des Dissidenz-Erbes, sondern der Verhandlungsprozess innerhalb der Opposition (Charta 77, Solidarność, ungarische demokratische Opposition), der auf Grundlage kommunaler Solidarität, kritischer demokratischer Diskussion und bürgerlich-gesellschaftlicher Aktivität eine konsensuelle und gewaltfreie demokratische Herausforderung für die staatssozialistische Diktatur darstellte.

    Aus dieser Sicht war der Runde Tisch ein Höhepunkt oder auch der Triumph einer einvernehmlichen Strategie, die nicht nur zu gewaltfreier Veränderung des Regimes führte, sondern Anreize schaffte für wahrhaft demokratische politische Kultur.

    [<<25||26>>] Doch ein anderer Teil dieser im Grunde liberalen historischen Meistererzählung war auch ein binärer Weg zum Verständnis des Kampfes für Demokratie; etwas, dass wir einen nutzbaren Totalitarismus (usable totalitarianism) nennen können. Ihn gab es offenbar in der politischen Sprache der Dissidenten schon in den 1980er Jahren, und er bildet den Stoff für die grundlegende Gegensätzlichkeit zwischen »uns« und »ihnen«, zwischen der »Zivilgesellschaft« und dem »totalitären Regime«, zwischen dem »Kampf für Menschenrechte und Demokratie« und gegen den »totalitären Parteistaat«. Vereinfacht gesagt, wurde diese Ansicht und diese Art und Weise der jüngsten Geschichte während der 1990er Jahre mit Vorliebe erzählt und beeinflusste zu einem großen Teil die liberal-demokratischen politischen Kulturen als auch die historische Forschung zum Kommunismus sowie die Darstellungsstrategien der jüngsten Geschichtsschreibung.

    Die andere Interpretation des Erbes der Opposition könnte man konservativ-national nennen (in Polen die Partei der Kaczyński-Brüder oder in Ungarn Fidesz) oder konservativ-neoliberal (in Tschechien: besonders die ODS¹³ nach der Ära von Václav Klaus). Auch hier wird das

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