Anstatt Selfies: Politische Zufallsbegegnungen
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Über dieses E-Book
Hans Joachim Laue
Der Herausgeber Hans Joachim Laue, geboren 1943, arbeitete nach Lehre und Studium als Technischer Redakteur von Betriebsanleitungen sowie als Werbetexter und PR-Journalist in Agenturen und in der Industrie. Darüber hinaus sammelte Laue Erfahrungen als Redakteur von Fach- und Firmenzeitschriften, u. a. als Chefredakteur des Verbandsorgans Print, Zürich. Nebst der rund 25-jährigen Tätigkeit als freier Fachjournalist, speziell im Bereich Druckweiterverarbeitung, betreute er einige Jahre den Redaktionsteil Schweiz der Fachzeitschrift Bindereport, Hannover.
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Buchvorschau
Anstatt Selfies - Hans Joachim Laue
Es war einmal ein Lattenzaun,
mit Zwischenraum, hindurchzuschauen.
Christian Morgenstern (1871 – 1914)
Für Madeleine, Sascha und Lars
INHALT
Anstatt Selfies:
Vor Politik(ern) in Ehrfurcht erstarren?
Wilhelm I. und Wilhelm Pieck:
Der erste deutsche Kaiser und der einzige DDR-Präsident
Adolf Hitler:
Gruss der ahnungslosen Pimpfe
Neville Chamberlain und Anthony Eden:
Die Regenschirmpolitiker und Opas Swing
Josef Stalin:
Der Tod des sowjetischen Diktators
17. Juni 1953:
Erklärungsnotstand beim Ausnahmezustand
1. Mai 1954:
Demonstration für die Katz`?
DDR-Flucht:
Unfreiwillig im Flüchtlingslager
Erich Mende:
Meines Vaters Wahl
13. August 1961:
West Side Story
Franz Josef Strauss und Ludwig Erhard:
Die Schwabinger Mieter stehen Spalier
Gerhard Oberländer:
Buchillustrator, Minister und die Selbstfindung
Pierre Messmer:
Mit dem Armeeminister in Verdun
Willi Ritschard und Hans-Peter Tschudi:
Dem Professor folgt ein Arbeiter als Bundesrat
Leo Schürmann:
In der SBB vis-à-vis vom Preisüberwacher
Ernst Brugger:
Bundesrat auf einem Spaziergang im Freiamt
Hans Hürlimann:
Jovialer Minister an der Strassenkreuzung
9. November 1989:
Der Mauerfall
Jugoslawischer Bürgerkrieg:
Vom Tessin aus so wahnsinnig nah
Helmut Kohl:
Mehr als nur ein Tagesschau-Statement
ANHANG
Glossar
Literatur
Vita
Buchanzeigen
Buchprojekte
Die Erzählung «West Side Story» (Seiten → bis →) ist zuerst im Taschenbuch «Nach Art des Hundes» (Dezember 2018) publiziert worden und die Gedichte «Unbegreiflich» (Seite →) und «Verdun – 50 Jahre danach» (Seite →) im Taschenbuch «Niemandsland» (April 2019). Beide Bücher sind ebenfalls im Self-Publishing-Verlag TWENTYSIX, Norderstedt/D, erschienen.
Anstatt Selfies:
Vor Politik(ern) in Ehrfurcht erstarren?
„Politiker sind wie Windeln. Sie müssen regelmässig ausgewechselt werden, und zwar aus dem gleichen Grund. Diese „Duftmarke
soll aus dem Munde von Ronald Lauder (geb. 1944) stammen. Lauder war US-amerikanischer Botschafter in Wien, strebte vergebens das Amt des New Yorker Bürgermeisters an und ist der Erbe des Kosmetikkonzerns Estée Lauder. Welchen Grund mag Lauder wohl gemeint haben? Jeder darf sich seinen Teil denken – aber nicht alle Gedanken werden übereinstimmen.
Ein viel älterer Ausspruch lautet: «Die Politik verdirbt den Charakter.» Damit warb in einem Werbeprospekt 1882 die «Braunschweigische Landeszeitung», die eine Zeitung für alle Gebildeten sein wollte, vor allem aber für Nichtpolitiker.
Politikerinnen und Politiker begegnen uns allerorten, dafür sorgen schon heute sämtliche zur Verfügung stehenden Medien. Findet man überhaupt Antworten auf die Frage: Was ist Politik und was nicht? Personen, die sich für ein politisches Amt zur Verfügung stellen, haben es bestimmt nicht leicht. Jede kleinste Gemeinde bis hin zur grössten Gemeinschaft mehrerer Staaten braucht politisch engagierte Bürger, sei es, dass sie ihre Ämter beruflich oder ehrenamtlich ausüben. Demokratisch gewählt sollten sie aber sein. Auf keinen Fall dürfen sie bei «diktatorischen Allüren» getragen werden. Mit dem Handeln der Politiker und/oder ihrer Partei muss man nicht immer und auch nicht auf Dauer einer Meinung sein. Aber deswegen virtuelle oder reelle Hasstiraden abzuschiessen, ist überhaupt nicht angebracht. Angriffe auf Leib und Leben der Politiker und das ihrer Angehörigen stellt eine Grenzüberschreitung dar, vor der jeder Mann und jede Frau von sich aus zurückschrecken muss (nicht bloss sollte)!
Als Normalbürger und Wahlberechtigter muss man noch lange nicht vor Politik, Politikerinnen und Politiker in Ehrfurcht erstarren. Respekt sollte man ihnen jedoch zollen, wenn sie Verantwortung an den Tag legen und zum Wohle aller Bürger handeln. Aber ein einziger «Handstreich» einer ranghohen Politikerin, eines Politikers, selbst wenn es der moralische Anstand erfordern würde, darf nicht zur Aushebelung demokratisch gewählter Parlamente in Europa führen. Wenn doch, wird ein Land, eine bestehende Gemeinschaft noch jahrelang, wenn nicht gar Jahrzehnte, daran zu «knabbern» haben.
Wer da an die «Mutti der Nation» denkt, wird sich auch an die von den «Welcome Refugees» gemachten Selfies erinnern, die dann über TV und Internet flimmerten. Die moderne Selbstdarstellung mit dem Smartphone auf Abstand in Armeslänge geknipst und sofort in die sozialen Netzwerke gestellt, schafft enorme Aufmerksamkeit und vielleicht auch eine gewünschte Anerkennung, von wem auch immer.
Das Wort Selfie tauchte im englischen Sprachraum erst anfangs der 2000er-Jahre auf, erst zehn Jahre später im deutschen. Selbstporträts ohne und zusammen mit Persönlichkeiten ist so neu nicht. Maler aller Zeiten haben sich auf Leinwand und Papier verewigt, ab dem 19. Jahrhundert Fotografen auf Glasplatten und Zelluloidfilm. Der Selbstauslöser der Kameras verhalf Amateuren wie Profis sich zu einer Person, Gruppe oder einem Sujet zu gesellen. Zwischenzeitlich wurden Fotoautomaten im Bahnhof und Warenhaus, zum Treffpunkt für Heiterkeit auslösende Pass- und Paarfotos der Selbstdarstellung.
Ganz so einfach wie heute Bilder digital, rasch und einfach herstellbar sind, war mein erster Versuch der Selbstdarstellung ganz und gar nicht. Im Alter von achteinhalb Jahren, Anfang 1952, zeichnete ich ein Selbstporträt unter Verwendung eines Spiegels. Trotz Ost-West-Umstände ist die Zeichnung erhalten geblieben. Damit wollte ich meinen Vater «beglücken». Er arbeitete und wohnte in jener Zeit mehrere Monate in einer anderen Stadt. Die Antwort darauf dauerte beinahe zwei Wochen, da die Zeichnung im damaligen Nachkriegs-Ostdeutschland nur als Beilage eines klassischen Briefes gesendet werden konnte.
In den Jahren danach zählten in meiner Familie Fotoapparate und Filmmaterial nicht zu den üblichen Ge- und Verbrauchsgegenständen – auch aus Kostengründen nicht. Selbst in meinen Studien- und Junggesellenjahren gehörte eine Kamera nicht zur täglichen Begleitung. Momente, die es eigentlich wert waren fotografiert zu werden, habe ich bildlich nicht genutzt. Auch ohnedem glaube ich ein gutes «Bildgedächtnis» zu haben. Aus der Erinnerung heraus sind zahlreiche Zufallsbegegnungen mit der Politik und einigen Politikern in diesem Band beschrieben, also «Anstatt Selfies». Nicht nur, dass keine Bilder mit den Politikern und mir vorhanden sind, sondern dass auch immer eine gewisse Distanz gewahrt wurde.
Wilhelm I. und Wilhelm Pieck:
Der erste deutsche Kaiser und der einzige DDR-Präsident
Im Herbst 1950 bin ich eingeschult worden, fast siebenjährig. Obwohl versucht, wurde ich ein Jahr zuvor noch nicht zugelassen. Meine Mutter hatte mich 1949 zum Schuldirektor begleitet. Sie hielt es nämlich für möglich, trotz des fehlenden Monats bis zum sechsten Geburtstag, dem Mindestalter zur Einschulung, dass ich intelligent genug für die 1. Klasse sei. Doch der Direktor teilte nicht die Meinung meiner Mutter und begründete es nach einigen Tests mit meiner mangelnden Konzentrationsfähigkeit. Also noch nicht schulreif. Oder war Konzentrationsmangel nur eine höfliche Umschreibung für fehlende Intelligenz? Ob ich mich danach blöd gefühlt habe? Kann ich nicht sagen. Nur, ein Gefühl von Blödheit stellte sich im Januar 1951 ein.
Da besuchte ich wirklich bereits die 1. Klasse, hatte schon ein wenig Rechnen und Lesen nach den Kenntnissen aus der Vorschulzeit dazugelernt. Als frischer Abc-Schütze wurde ich mit neuen Eindrücken konfrontiert. Den Kindergarten zuvor besuchte ich allerdings nicht. Weil ich nicht durfte. Meine Mutter hatte nämlich Bedenken, dass ich einem falschen Umgang mit anderen Kindern ausgesetzt wäre, und sie befürchtete allzu frühe Beeinflussung durch die neue politische Art, die nach dem Kriege ihren Anfang nahm. Wahrscheinlich ist es mir damals so ergangen wie vielen Kindern auch, vor mir und nach mir, eigentlich ungewollt so zu tun, als hätten Eltern, Grosseltern, andere Verwandte und Freunde vor der eigenen Geburt kein Leben gehabt. Mit anderen Worten: erst mit einem selbst beginnt die Zeitrechnung.
Eines Abends, im besagten Januar 1951, war ich mit meinem Vater bei einem älteren Arbeitskollegen, der ihm zahlreiche Bildbände aus früheren Zeiten bei Kerzenschein zeigte (die Stromversorgung war wieder einmal für etliche Stunden ausgefallen). Mit einem schielenden Blick über die Schultern entdeckte ich in einem Bildband einen Staatsmann namens Kaiser Wilhelm I. Unwissend wie ich war, erkundigte ich mich, welche Bewandtnis das mit dem Kaiser habe. Monarchen und sonstige Adelige wären doch nicht an der Macht, soviel hatte ich bereits gehört. Unser DDR-Präsident trage doch den Namen Wilhelm Pieck und sei ein Mann aus dem Volke. Es war der einzige Wilhelm, den ich kannte, sein Porträt hing in meinem Klassenzimmer.
Die Klassenräume waren im Grunde genommen sehr schmucklos. Es hingen vorübergehend Landkarten vor der Schultafel, manchmal am Ständer in einer Ecke. Meistens waren jedoch gerahmte Fotoporträts an den Wänden, die schon lange keinen frischen Anstrich bekommen hatten. Manche Bildgrößen verdeckten kaum, dass an ihrer Stelle einst andere Staatsträger hingen. Unsereins konnte/durfte auf die Repräsentanten der DDR schauen. Wir Schüler/innen gaben (unter uns) diesem Kürzel die Erklärung „Die Drei Räuber". Ob wir selbst diese Sprachspielerei erfunden oder irgendwo aufgeschnappt hatten, kann ich nicht mit Bestimmtheit belegen. Jedenfalls meinten wir damit Otto Grotewohl (Ministerpräsident), Wilhelm Pieck (Staatspräsident) und Walter Ulbricht (Parteisekretär). Alle drei hatten eine parteipolitische Vergangenheit sozialistischer beziehungsweise kommunistischer Prägung. 1946 hatten sie die Zwangsvereinigung der Parteien SPD und KPD zur SED eingeleitet. Grotewohl hatte den Beruf des Buchdruckers, Ulbricht den des Möbeltischlers erlernt, und auch Pieck war ein gelernter Tischler. Von Adel und Monarchie also weit und breit keine Spur in deren Vergangenheit.
Mit welchen Worten erklärt man nun einem Siebenjährigen, dass er auf etwas Geheimnisvolles gestossen sei, das auch weiterhin geheim bleiben soll? Literatur jeglicher Art zu besitzen oder zu erwerben, die das kaiserliche und das nationalsozialistische Deutschland glorifizierte, war im noch jungen Arbeiter- und Bauernstaat nicht gestattet, wahrscheinlich unter Strafandrohung gar verboten.
Von den erwachsenen Männern gab es aber keine Erklärung. Sondern sie drohten mir mit Strafe unbekannter Ausführungsart, wenn ich nicht strengstes Stillschweigen wahre. Diese Begegnung der politischen Art war zwar keine persönliche, aber ich nahm sie sehr persönlich. Von da an versuchte ich meine Zunge im Zaume zu halten, jedenfalls in der DDR. Oder eben «mit zwei Zungen zu reden». Das heisst, wem und wie man was sagen konnte beziehungsweise nicht. Außerdem wurde durch diese Situation vermutlich der Grundstein gelegt, mich für Zeitgeschichte und Politik zu interessieren.
Adolf Hitler:
Gruss der ahnungslosen Pimpfe
Man weiss nichts. Man weiss nichts Genaues. Weiss man überhaupt etwas? Nach Schulschluss haben etliche Schüler denselben Nachhauseweg. Was auch immer das Zuhause ist? Sie kennen sich vom Schulweg, aus dem Wohnquartier: Zweitklässler, Drittklässler, Sitzengebliebene schon fast im Konfirmationsalter. Die wenigsten unter ihnen gehen in eine gemeinsame Klasse. Es sind Kinder von Einheimischen und Vertriebenen. Entweder arbeiten beide Eltern, oder die Mütter sind Kriegerwitwen, oder die Väter gelten als vermisst, verschollen. Die aus Schlesien, Pommern und Ostpreussen stammenden Kinder und Erwachsenen haben auf der Flucht Schlimmes erlebt, bewusst oder unbewusst, je nach Alter. Die hier in Mitteldeutschland geborenen Kinder können sich mit den anderen problemlos auf Deutsch und in richtigen Sätzen verständigen, allerdings jeder in seiner dialekt-gefärbten Aussprache. Manchmal amüsieren sie sich deswegen, oder sie ziehen sich damit gegenseitig auf.
Nur ein Junge nicht: Frank. Er wohnt im selben Haus wie ich. Seine Eltern haben hier einen Frisiersalon, einen Schäferhund und einen Dackel. Sind diese Eltern seine richtigen Eltern? Haben sie Frank adoptiert? Ist er ein Findelkind ihres Fluchtweges, dessen sie sich seiner erbarmt haben? Man weiss es nicht. Ich weiss es nicht. Man fragt nicht. Ich frage nicht. Frank besucht mit mir mehrere Monate 1952 und 1953 die dritte Grundschulklasse. Auf dem obligatorischen Klassenfoto sitzt er vorne rechts aussen, und ich stehe hinten links aussen. Er ist des Lesens, Schreibens und Rechnens mächtig und lernt wie alle in der Klasse dazu. Nur wird es nicht von allen so gesehen. Einige von ihnen halten ihn für dumm.
Ganz einfach: weil er nicht richtig sprechen kann. Er bringt Lallwörter hervor, stottert lange an einem Wort herum, von dem die Zuhörer vielleicht einen Vokal und ein paar Konsonanten verstehen, aber selten als Wort deuten. Auffällig ist Frank besonders in den kalten Wintermonaten. Zwar hat er Jacke, Pullover und Hemd an, aber untendurch erscheint er in sehr kurzer Hose und Kniestrümpfen. Lange Strümpfe, wie bei einigen Jungs üblich, oder gar lange Hosen ist nicht so sein Ding. Frank weigere sich so etwas anzuziehen, lautet die Antwort der Friseurin auf meine Frage hin, ob ich ihm eine lange Hose leihen dürfe.
Der Junge hat immer ein Lächeln im Gesicht, als könne ihn nichts erschüttern. Ob Schul- oder Heimweg, Frank weicht nicht von meiner Seite. Meistens sind es die älteren Kinder, die uns jüngeren unterwegs Gräuelgeschichten