Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Hertas Gesetz: Der kleine Widerstand im grossen Reich
Hertas Gesetz: Der kleine Widerstand im grossen Reich
Hertas Gesetz: Der kleine Widerstand im grossen Reich
eBook1.178 Seiten16 Stunden

Hertas Gesetz: Der kleine Widerstand im grossen Reich

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Herta ist Mutter von 4 Kindern, die jetzt erwachsen sind. Sie sind aufgewachsen in Not und Armut während des ersten Weltkrieges und der Zweit danach. Es ist das Jahr 1932, auf Hertas Geburtstag, als die Kinder zum ersten Mal aneinander geraten, weil sie alle politisch unterschiedlicher Meinung sind.
Als sie drei Jahre später - alle sind inzwischen verheiratet - wieder einander gegenüberstehen und zu Handgreiflichkeiten neigen, erklärt Herta, dass jede Äusserung innerhalb des Hauses erlaubt ist. Führt sie jedoch nach aussen zu politischen Nachteilen mit schweren politischen Konsequenzen für einMitglied der Familie, dann hat der Veranlasser Hausverbot. solange Herta lebt. Alle Geschwister, und Verwandte halten sich daran bis zum Ende des 2. Weltkrieges.
Es ist nicht immer leicht, sich an dieses Gesetz zu halten, aber schliesslich gelingt es allen, wobei einer der Brüder mehrfach auf die Hilfe eines hochstehenden Parteifunktionärs angewiesen ist. Von dessen Eingreifen profitiert schliesslich die gesamt Familie, bis einer der Brüder sich eine Eigenmächtigkeit erlaubt: Er verschafft russischen Kriegsgefangenen einen freien Tag in der Woche, ohne sich darüber mit seinen Vorgesetzten abzustimmen.
Er wird nach Berlin zitiert, weil man ihn dort nach einem Schauprozess öffentlich hinrichten will. Doch das Attentat des 20.07.1944 kommt dazwischen und die Einsicht eines hochrangigen SS-Offiziers, dass der Anzuklagende kein Verbrechen begangen hat ausser dem der Menschlichkeit, auch den Russen gegenüber, mit denen er Hamburg von Trümmern befreit und für Ausgebombte Behelfswohnungen baut. Der Offizier schickt den Mann wieder nach Hamburg zurück mit dem Auftrag, seine Arbeit dort fort zu führen.
SpracheDeutsch
Herausgeberepubli
Erscheinungsdatum31. Juli 2015
ISBN9783737528351
Hertas Gesetz: Der kleine Widerstand im grossen Reich

Ähnlich wie Hertas Gesetz

Ähnliche E-Books

Zivilisation für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Verwandte Kategorien

Rezensionen für Hertas Gesetz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Hertas Gesetz - Hans Peter Maack

    WARNUNG

    Das Buch ist in normalem Hochdeutsch geschrieben, und damit lesbar für alle, die dieses Thema interessiert. Aber es ist übersetzt, zumindest, was die wörtliche Rede angeht. Im Raum Hamburg, wo das Buch spielt, in den weitesten Teilen Schleswig-Holsteins - ausgenommen ist hier nur der friesische Bereich - in Mecklenburg und auch in Niedersachsen war die Umgangssprache bis in den 2. Weltkrieg hinein nur Plattdeutsch. Das ging bis  in die Arbeitsbereiche der Kaufmannshäuser. Erst ab einer Ebene, in der mehrsprachig gehandelt, verhandelt und korrespondiert wurde, oder auch in den Verwaltungsbereichen der Ämter und Behörden war die Amtssprache und auch die Umgangssprache hochdeutsch.

    In diese Bereiche dringt das Buch nur gelegentlich vor. Deshalb sind die Gespräche übersetzt.

    Würde man jedoch die Originalsprache der Männer und Frauen untereinander hier verwenden, dann wäre das Buch kaum lesbar und voller Ausdrücke, die selbst im Niederdeutschen regional unterschiedlich angewendet werden.

    Dennoch wurde versucht, den Text dem Norddeutsch weitgehend zu entsprechen, so dass er nicht entstellt wirkt.

    VORWORT

    Was wirklich im Namen des Deutschen Reiches zwischen 1932 und 1945 geschah, ist noch immer nicht vollständig erforscht, obwohl die nationalsozialistische Administration sich alle erdenkliche Mühe gab, jedes Geschehen, auch die von ihr begangenen Verbrechen, präzise, genau und mit preussischer Gründlichkeit aufzuzeichnen. Vieles ist im Bombenhagel des zweiten Weltkrieges verbrannt, mehr noch wurde von den Tätern, die sich ihrer unmenschlichen Verbrechen wohl bewusst waren, rechtzeitig vernichtet, einiges wurde von den Besatzern am Ende des entsetzlichen 2. Weltkrieges konfisziert und bis heute nicht herausgegeben. Deshalb fällt es den Geschichtsschreibern immer noch schwer, alle Fakten zusammen zu  tragen und daraus ein genaues Bild der Ereignisse und Verbrechen aus der Zeit von 1933 bis 1945 zu zeichnen. Den Rahmen des Geschehens hat man ergründet, aber nur wenige Details.

    Hinzu kommt die ungeheure Fülle von Daten, denn kaum etwas ist einmal so genau aufgezeichnet worden wie der Terror der 12 Jahre der Naziherrschaft. Jeder Tote wurde gelistet, jedes Urteil dokumentiert, Millionen von Seiten wären zu sichten und auszuwerten, weil allein die Ermordung der Juden mehr als 6 Millionen Seiten Dokumentation erfordert hätten. Denn die Deutschen des 3. Reiches glaubten an sich, an den Endsieg und an die Weltherrschaft des Nationalsozialismus. Da musste doch alles genau aufgezeichnet sein! Belegbar, um der Nachwelt ein Zeugnis zu geben für den Werdegang der Unbesiegbarkeit! Diese Dokumentation der Macht ist kaum aufzuarbeiten! Sie wurde von hunderttausend Tätern aufgezeichnet, beschrieben und gelistet. Wie kann man die Millionen von Seiten, von Dokumenten sichten und ordnen?

    Ob es jemals wirklich geschieht, muss angesichts der Fülle von Dokumenten  einerseits und der vernichteten Daten andererseits in Frage gestellt werden. Selbst die modernene Kommunikationsmittel und Aufzeichnungsgeräte können nur das darstellen, was in sie eingegeben wurde. Nur die groben Umrisse, die nicht zu verleugnenden Tatsachen sind bisher bekannt und dargestellt worden. Und sie wurden aufgearbeitet und publiziert von den Geschichtsforschern nicht nur im deutschsprachigen Raum.

    Besonders die Leiden des kleinen Mannes wurden jedoch nie ausreichend dargestellt. Man ging bisher der Einfachheit halber davon aus, dass alle Deutschen  hinter Hitler und seinem Regime gestanden haben bis zum bitteren Endsieg. Daher auch die These von der Gesamtschuld, zu der sich ja die evangelisch-protestantische Kirche bekannte. Das war aber keineswegs der Fall!

    Es hat viele Deutsche gegeben, nicht nur Juden, sondern auch Arier, die erklärte Gegner der Nazis waren, und die in Arbeits- und Konzentrationslagern dafür büssen mussten, dass sie vielleicht einmal den Mund zu weit aufgemacht hatten, die unter der Terrorherrschaft gelitten haben und die für ihre Überzeugung sterben mussten - wenn sie den Terror nicht eher zufällig überlebt hatten.

    Es hat aber auch Menschen gegeben, denen es während der Nazizeit gut ergangen ist, sehr gut sogar, die das Dritte Reich mit aufgebaut haben und die erst während des Krieges erkannt haben, dass die Politik  Hitlers und der strammen Nazis Deutschland nur in eine Katastrophe führen konnte, und die gegen Ende des 2. Weltkrieges mit einem Attentatsversuch eine politische Wende herbei zu führen versuchten. Wir kennen sie als die Widerständler, deren Namen mit dem von Stauffenberg verbunden sind, die nach dem missglückten Attentat fast ausnahmslos hingerichtet wurden, und die heute als Vorbilder für Zivilcourage gegen eine übermächtige terroristische Macht dienen. Wir kennen heute die Namen vieler Menschen, die dabei ihr Leben lassen mussten, und wir ehren sie zu Recht. Wir  ehren auch die wenigen Menschen, die sich ein Herz gefasst haben, die für ihre Meinung über das Unrecht hingerichtet oder zu Tode gefoltert wurden. Die Geschwister Scholl, Karl von Ossietzky oder Dietrich Bohnhoeffer stehen dabei nur beispielhaft als Namen vor uns. - den damals geltenden Gesetzen nach Vaterlandsverräter -  heute Helden und Beispiele für Zivilcourage in einer Zeit, in der selbst die späteren Attentäter noch eifrig an der Entstehung der Nationalsozialistischen Macht mitgewirkt haben.

    Aber es sind nur wenige von hunderttausenden, die Männer um Staufenberg denen wir damit unsere Referenz erweisen. Ihnen gebührt Ehre und Achtung für  ihren Mut. Aber - und das muss man deutlich machen, auch sie haben das Regime mit aufgebaut und ihm zur Macht verholfen!

    Sie stehen damit im Gegensatz zu den vielen anderen Namenlosen, die in den Lagern der Nationalsozialisten starben. Sie sind aufgelistet, dokumentiert und teilweise mit den Schrecken der nationalsozialistischen Lager behaftet. 

    „Stolpersteine in den Städten helfen uns bei der Erinnerung an die entsetzliche Vergangenheit des Mordes an Unschuldigen, der Vernichtung von Erwachsenen und Kindern, weil sie anderen „Rasse angehörten. Oft gehen wir darüber nur hinweg über die „Stolpersteine", aber sie fallen uns auf! Wenigstens das! Heute! Mehr als 70 Jahre danach.

    Namenlos aber sind leider alle geblieben, die gegen die Naziherrschaft waren und die sie dennoch überlebt haben. Vielleicht sind sie gerade deshalb namenlos und unerwähnt geblieben, weil sie überlebt haben.

    Sie waren Gegner, aber sie haben ihre Arbeit gemacht, untadelig, weil alles andere ihr Verderben, ihr Tod in einem der Lager, gewesen wäre. Sie mussten sich stets mit den Nazis auseinander setzen, in Betrieben, in Behörden, beim Einkaufen, im Alltag. Sie mussten den Nazigruss entbieten und „Heil Hitler" zur Begrüssung sagen, obwohl sie anders dachten, und obwohl ihre Meinung einigen ihrer Kollegen bekannt war. Aber die schwiegen auch, oder sie waren sogar der gleichen Meinung und schwiegen deshalb. Jeder für sich! Denn sich einem anderen gegenüber zu    offenbaren, konnte ebenso eine nahezu unverbrüchliche Freundschaft und Kameradschaft bedeuten wie den sicheren Tod!

    Aber, solange sie in Freiheit leben konnten, solange sie zum Feierabend nach Hause fahren konnten - wenn es das nach den Bombardierungen noch gab - solange das Regime nicht auf sie zugriff, waren sie ihre eigenen Herren.

    Nach und nach erst, kaum merklich für die Betroffenen, wurden auch die stillen Gegner des Regimes in den Arbeitsprozess des Regimes eingegliedert, zunächst  unverfänglich, dann immer deutlicher, bis sich sich selbst darüber klar werden mussten, dass sie auch als Gegner der Nazis voll für das Terrorregime arbeiteten.

    Was dann noch?

    Wenn sie ihr Leben retten wollten, wenn sie sich und ihre Familien über die Zeit hinweg retten wollten, wenn sie ihre Freunde nicht dem Terror ausliefern wollten, dann hatten sie keine andere Möglichkeit, als so weiter zu arbeiten wie bis zu ihrer entsetzten Erkenntnis: untadelig, fleissig, dem Reich und seinen Herrschern treu ergeben. Nichts anderes wurde von ihnen verlangt, ausser: dass sie nicht darüber redeten!

    Von ihnen handelt dieses Buch.

    Dies ist die Geschichte der kleinen Leute, die Geschichte einer Familie, in der die Gegensätze so aufeinander prallten, das die Familie zu zerbrechen drohte, wie so viele im Dritten Reich, und die nur durch ein Machtwort innerhalb der Familie eine Familie blieb: durch Hertas Gesetz, durch den Mut einer Frau, die nicht mehr zu verlieren hatte als ihre Familie. Und die stand ihr über alles!

    Und es ist die Geschichte, mit der hiermit um Verständnis geworben wird für  alle, die namentlich gar nicht zu erfassen sind, weil allein die Auflistung ihrer Namen länger wäre, als die Darstellung des Terrors in der Geschichte einer einzigen Familie, die sich so ähnlich real zugetragen hat.

    1932

    1.

    Ein sonniger Sonntagmorgen Anfang Juli auf dem flachen Land in Schleswig-Holstein im Westen nahe Hamburgs. Leichter Wind hatte die dünnen Wolken nach Osten verschoben. Wie fast immer herrschte Westwind, seit wenigen Tagen ein ganz leichter. Heute schien es jedoch, als wolle er ganz einschlafen.  Dann würde es heiss werden am Nachmittag, vielleicht auch in den nächsten Tagen - wenn es bei dem schwachen Wind blieb - und die  frühen Früchte im Garten würden schneller reifen, als man sie dann ernten und verarbeiten konnte. Tiefkühltruhen gab es noch nicht, Kühlschränke auch nicht, nur kühle Keller, in denen man etwas für eine relativ kurze Zeit lagern konnte, und im Winter die Mieten, in denen Kartoffeln, Karotten, Rüben und Kohl eingelagert wurde - oft mit dem Ergebnis, dass auch Wildtiere diese Mieten für sich entdeckten und ausbeuteten.

    Einen kühlen Keller gab es auch in diesem Haus nicht. Deshalb war es schwer, Lebensmittel einzulagern für einen späteren Verbrauch. Daran dachte jedoch niemand in diesem beginnenden Sommer. Noch standen alle Zeichen auf ein gutes Jahr, auf eine gute Ernte, auf Erträge, die der Familie endlich wieder einmal über die Hungerzeiten der letzten Jahre hinweg halfen.

    Die Süsskirschen wurden reif wie immer um diese Zeit, die Erdbeeren trugen  in diesem Jahr ebenso gut wie die Kirschen, deren Zweige sich unter der Last der Früchte bogen, bis man sie stützen musste, damit sie nicht unter der Last abbrachen. Die ersten Stachelbeeren und Johannisbeeren an den Sträuchern würde man sicher in den nächsten Tagen schon pflücken können und müssen. Sie bildeten eine hervorragende Grundlage für gute Marmeladen - wenn man denn jetzt genug Zucker und Geliermittel bekam, um die kleinen Früchte für den Winter zu konservieren. Das würde mit den verschiedenen Gemüsen, die in einigen Monaten geerntet werden mussten, sehr ähnlich sein. Aber die konnte man sicher „einmachen", was bedeutete, sie in Dosen oder Gläser luftdicht zu verschliessen, dmair sie nicht verdarben.

    Der Spargel wäre nun bereit zum Stechen, aber den gab es nicht auf dem kleinen Anwesen „auf dem Oha". Normalerweise wären nun die Kinder in den beiden grossen Kirschbäumen, den einzigen in weiter Umgebung, aber die Kinder waren inzwischen erwachsen geworden und längst nicht mehr im Haus. Die Schlacht um die Süsskirschen war eine Kindheitserinnerung für sie, stattdessen machten die Stare und die Drosseln sie nun unter sich aus. Nur wenige blieben den Bewohnern des Hauses, die sie nicht alle ernten konnten und wollten. Zudem waren es Süsskirschen, die man nicht konservierte.

    Aber die Süsskirschen gab es noch, in diesem Jahr, und in jedem Jahr mehr! Denn die Bäume wuchsen rasch, und je grösser sie wurden, desto besser trugen sie. Nun mussten die Erwachsenen sich darum kümmern, und was die nicht ernten konnten, weil die Zeit dazu fehlte, fiel den Vögeln zum Opfer. Hunderte von ihnen flogen diese Insel der Leckereien für sie an, man hatte den Eindruck, als kämen   Vögel selbst aus weiter Entfernung nur deshalb hier her - und sicher war das auch so! Zum grossen Teil waren es Jungvögel, die sich  unter der Anleitung der Vogeleltern für den weiten Weg aus ihren Nestern gewagt hatten und beim Zweitenmal den Weg auch allein fanden.

    Um die Erdbeeren kümmerten sie sich nicht - das machten schon  die Wespen - auch nicht um die vielen Gemüsearten, die zum grossen Teil erst gerade aufsprossen und  erst in einigen Wochen ihre Erntezeit erreichen würden. Wohin man auch blickte, und das trotz der vielen Gemüsebeete, der Reihen von Kartoffeln, der Erbsenzäune und der Karottenbeete: Alles wuchs und gedieh prächtig auf dem Grundstück, leider auch das Unkraut, das immer wieder kurz gehalten werden musste, vor allem aber die vielen Blumen, die einfach vor die Beete gesät oder gepflanzt worden waren, um den Eindruck eines Nutzgartens ein wenig zu verschleiern. Alles wirkte sauber und aufgeräumt, auch das Anwesen selbst, und manch ein Besucher mochte sich fragen, wie Herta Hansen, die Hausherrin, das alles fertig brachte, nun ganz allein, wo ihre Kinder aus dem Haus waren.  Sie stand allein davor, denn der Vater der Kinder, Claus Hansen, lebte schon lange nicht mehr! Er hatte 1912 eine Lungenentzündung verschleppt und war Anfang 1913 daran verstorben! So hatte er sie damals allein gelassen mit drei kleinen Kindern, ein viertes war noch im Werden begriffen.

    Claus Hansen war ein bemerkenswerter Mann gewesen,  musikalisch begabt, obwohl er nie Noten gesehen hatte und sie natürlich auch nicht lesen konnte. Aber er hatte mit seinem Akkordeon einen ganzen Saal voller Menschen in Stimmung versetzen können, ohne es jemals gelernt oder etwa noch geübt zu haben, ein Mann, der stets gut gelaunt gewesen war - missmutig oder übellaunig hatte Herta ihren Mann nie erlebt. Er hatte immer einen flotten Spruch auf den Lippen gehabt, selbst, wenn die Lage einmal todernst gewesen war. Man hatte ihn in der gesamten Umgegend geschätzt, man hatte versucht, ihn als Musiker zu den Tanzveranstaltungen zu engagieren, was nicht immer gelungen war, und einmal hatte er sich eine starke Erkältung während einer Veranstaltung zugezogen, die nicht wieder abgeklungen war. Ein hinzu gezogener Arzt hatte ihm Bettruhe verordnet, aber er hatte Claus Hansen nicht gekannt! Sobald sich der junge Mann wieder wohl genug gefühlt hatte, wollte er seinen Verpflichtungen nachkommen, denn er war fast auf Monate  für Veranstaltungen ausgebucht! Aber er hatte nur die eine noch geschafft, die letzte vor seinem frühen Tod.

    Zurück geblieben war Mutter Herta mit zwei Töchtern und einem Sohn - ein viertes Kind war unterwegs - die sie nun allein zu versorgen hatte. Sie hatte auf Anweisung ihrer Eltern, einem Landwirtsehepaar, einen Beruf erlernt, den zur Schneiderin, hatte sich weitergebildet, die Meisterschule besucht und war schon Meisterin der Damenschneiderei gewesen, als sie ihren Mann Claus kennen gelernt hatte. Das war 1903 gewesen. Sie hatten geheiratet, obwohl ihre  Eltern den jungen Hansen für einen Luftikus gehalten hatten, einen Blender, auf den Herta nur herein gefallen war.  Aber er hatte Herta Lühmann so für sich einzunehmen verstanden, dass sie beide miteinander eine Ehe eingegangen waren, der ihre Eltern nur schwermütig zugestimmt hatten. Doch Claus hatte mit seiner heiteren Art auch  seine Schwiegereltern für sich gewinnen können. Denn ausser seiner heiteren Art besass er das Geschick, geschäftliche Verhandlungen so zu führen, dass er fast immer einen Vorteil daraus zog. Die Hansens standen finanziell immer abgesichert da, sehr zur Verwunderung der Familie Lühman, Hertas Eltern und ihrer Geschwister, denn Herta war die Älteste von ihnen gewesen.

    Ob es dem nüchternen geschäftsmässigen Denken von Herta zu verdanken gewesen war, oder ob Claus Hansen seine lockere Art auch dazu benutzt hatte, um dahinter wirtschaftlich nüchtern einen ungeahnten Wohlstand aufzubauen, das hatten die damals noch jungen Eltern Hertas nicht mehr herausfinden können. Die jungen Hansens hatten sich schon nach wenigen Jahren ihrer Ehe das Haus auf dem Oha gekauft, einem Ortsteil von Tornesch nahe an einer Strassenkreuzung, ein wenig abseits von allen Versorgungsmöglichkeiten zwar, aber sie hatten es bezahlen können von dem, was beide bis dahin verdient und zurückgelegt hatten. Und sie hatten weder die Verwandtschaft noch von einer Bank Kredite dazu gebraucht.   Eine beachtliche Leistung für ein Ehepaar in den wenigen Jahren vor dem grossen Krieg!

    Die alten Lühmanns hatten begonnen, Respekt für das junge Paar aufzubringen, ihnen eine guten und unbeschwerte Zukunft voraus zu sagen, als Claus so plötzlich und für sie alle unerwartet verstorben war. Und dass Herta, ihre Tochter, damit die Liebe Ihres Lebens unwiderruflich verloren hatte, wie sie während der Vorbereitungen zur Bestattung von Claus Hansen feststellen mussten,  hatte sie tief betroffen gemacht. Sie wussten wohl, dass die beiden einander sehr zugetan gewesen waren, aber dass ihre Liebe so tiefgreifend gewesen war, hatten sie nicht geahnt: Es hatte für Herta nach dem Tod ihres Mannes bisher, für die folgenden 20 Jahre, keinen anderen Mann mehr gegeben!

    Aber ihre Eltern, Claus Lühmann und seine Frau Carla waren sich sofort darüber im Klaren gewesen, dass Herta es unmöglich allein schaffen konnte, sich, die zukünftig vier Kinder und das Anwesen zu erhalten und zu ernähren. Die tiefe Trauer Hertas um ihren Mann machte ihnen deutlich, dass man nicht damit rechnen konnte, in absehbarer Zeit einen anderen Mann auf dem Oha als Ersatz für Claus Hansen zu sehen.

    Die älteste Tochter, Stella, war beim Tod Ihres Vaters zehn Jahre alt gewesen. Sie hatte ihrer Mutter schon die eine oder andere Arbeit abnehmen können und müssen, die jüngste Tochter Marte war gerade einmal zwei Jahre alt gewesen, hatte noch an Mutters Rockzipfel gehangen, also blieb nur der älteste Sohn, Jahrgang 1906, also gerade einmal sieben Jahre alt, der Herta vorläufig nur zur Last hätte fallen können.

    Warum sollte der, Otto Hansen, nun möglicherweise in Not und Elend aufwachsen, wenn es innerhalb der Familie auch anders möglich war? fragten Carla und Claus Lühmann sich selbst - und dann ihre Tochter Herta, die keine Antwort darauf hatte.

    Und dann der Hinweise von dem Vater: Sie selbst würden für sein Wohl sorgen können, und es gab auch ein kinderloses Ehepaar in der Verwandtschaft, das sich vielleicht freuen würde, ein Kind, dass bereits aus dem Gröbsten heraus war, bei sich aufzunehmen und es gross zu ziehen. Auch auf dem eigenen Hof Dreibeken hatte ein Generationswechsel bevor  gestanden, obwohl Claus und Carla noch sehr junge Grosseltern waren: Der älteste Sohn Heinrich hatte etwa zur gleichen Zeit geheiratet wie Herta und Claus, und auch dort hatte sich bald Nachwuchs eingestellt, ein Sohn, dem sie den Namen Hinrich gaben. Es war nun im gleichen Alter wie der  siebenjährige Otto, den sie nun in eine sichere und bessere Zukunft zu entführen gedachten, als sie ihm auf dem Oha beschieden sein konnte.

    Dabei stand nicht im Vordergrund, dass der Oha etwa zu weit abgeschieden von allen Versorgungseinrichtungen lag: Derartige Entfernungen spielten auch auf Dreibeken, ihrem  einsam gelegenen Hof zwischen Quickborn und Friedrichsgabe, keine Rolle.

    Der Oha lag eher sogar noch günstiger als Dreibeken an der Kreuzung der Reichsstrasse 5 zwischen Pinneberg und Elmshorn mit der Landstrasse, die die Kleinstädte  Uetersen und Barmstedt miteinander verband. Unmittelbar an der Kreuzung gab es die Gastwirtschaft „Zum Oha: Es war nicht bekannt, ob das Gasthaus die Bezeichnung Oha übernommen hatte, oder ob der Name des Hauses der Umgebung ihren Namen als Bezeichnung übernommen hatte. Wer vom Oha sprach, meinte zuerst wohl das Gasthaus, aber, wer dort wohnte, wusste dass der Bereich, bestehend aus fünf Anwesen ebenso seiner Wohnung gelten konnte. In der Gastwirtschaft mit angegliedertem Saal war an jedem zweiten Samstag Tanz angesagt,  zu dem Claus Hansen aufspielte, solange er lebte. An der grossen Strasse zwischen Altona und Elmshorn gab es einen kleinen Betrieb, eigentlich eher eine kleine Bauernstelle, und auch ein einzeln stehendes Haus, gegenüber der Gastwirtschaft gab es noch eine Kleinsiedlerhaus, und schräg gegenüber vom Haus Hansen gab es ein kleines Anwesen mit einer Poststelle im Haus. Sonst nichts, bis Ellerhoop, dem nächsten kleinen Dorf in der Nähe der Strassenkreuzung, wo die „Lindenschänke mit der Gastwirtschaft vom „Oha konkurrierte, aber auch korrespondierte, denn dort gab es auch Tanz an jedem zweiten Wochenende,  und das, an dem es im Haus „Zum Oha still blieb. In die andere Richtung, nach Uetersen zu, gab es noch einen langsam wachsenden Ort, der durch den Bahnanschluss zunehmend bedeutender wurde: Tornesch, zu dem der Oha gehörte. Aber Tornesch mit seinen geringen Einkaufsmöglichkeiten war mehr als 5 km vom Oha entfernt. Nur durch den Bahnhof entwickelte es sich rasch und vergrösserte sich ständig.

                                                                 *

    Für Herta war mit dem Tod ihres Mannes Claus Hansen ihre eigene kleine Welt zusammengebrochen! Sie hatte Claus heiss und innig geliebt, und sie hatte sich - obwohl sie bei seinem Tod erst 32 Jahre alt gewesen und ihr jüngstes Kind noch nicht geboren war - nicht wieder nach einem Mann umgesehen! Sie trauerte einem Mann nach, der sein Leben lang Künstler, Lebenskünstler und begnadeter Liebhaber gewesen war. Mit einem Tabakwarenhandel hatte er genug Geld in Uetersen verdient, was ausgereicht hätte, um die Familie zu versorgen, aber Herta hatte mit dem Schneidern hinzu verdient, so dass sie gemeinsam das Haus mit dem fast 3000 qm grossen Grundstück am Oha kaufen und auch sofort bezahlen konnten. Es war ein zweigeschossiges Einfamilienhaus mit Küche, Wohnzimmer und Schlafzimmer im Erdgeschoss und drei ähnlich grossen Zimmern im Obergeschoss, die die jungen Eltern sofort den Kindern zugeordnet hatten - damals waren es ja auch erst drei. Als nun das vierte unterwegs gewesen war, hatten sie schon darüber nachdenken müssen, wie sie das Haus nun neu aufteilen würden, aber dazu war es ja durch den frühen Tod von Claus Hansen nicht mehr gekommen. Und auch die Frage nach  einem  zusätzlichen Zimmer für den zu erwartenden Nachwuchs hatte sich nicht mehr   gestellt, als Hertas Eltern erklärt hatten, eine Familie mit vier Kindern könne Herta auch als Meisterin ihres Berufes nicht allein ernähren, sie solle Otto, den Zweitgeborenen mit zu ihnen auf ihren Hof Dreibeken geben, wo er im Schosse ihrer Familie ohne Not aufwachsen könne.

    Herta hatte ihren Otto nicht gern hergegeben, aber auch sie hatte einsehen müssen, dass es für den Jungen vielleicht besser sei, wenn er  ohne Hunger und, ohne als Kind arbeiten zu müssen, bei den Verwandten aufwüchse. Und dann war da ja noch der Jüngste, den sie zehn Wochen nach Claus Tod als gesunden Jungen gebar. Sie gab ihm den Namen Ludwig und wandte sich damit wieder einmal ab von den Gepflogenheiten in der Familie, nach der die Kinder alle Doppelnamen erhielten, in denen zumindest der Name des Vaters oder des Grossvaters einfloss. Beide, Claus und Herta Hansen hatten sich bewusst entschieden, ihren Kindern einen Namen zu geben, der nicht mit Traditionen belastet sein sollte. Die Namen aller ihrer Kinder waren bis dahin, soweit sie darüber wussten,  noch nicht in den Familien Hansen oder Lühmann aufgetaucht.

                                                               *

    Das war vor etwa 28 Jahren gewesen, vor dem grossen Krieg, der so vielen, und nicht nur sie, in Not und Elend gestürzt hatte. Nun waren Hertas Kinder alle so gut wie erwachsen, selbst der Jüngste, Ludwig, der seinen Vater nie gesehen hatte, und der seinen Bruder Otto kaum kannte, ihm aber fast zum Verwechseln ähnlich sah, war inzwischen Zimmermann geworden, hatte gerade seine Gesellenprüfung mit einer ausserordentlich guten Note bestanden, was seinen älteren Bruder Otto, der Maurer gelernt, aber nur mit einer befriedigenden Note abgeschlossen hatte, ein wenig neidisch werden liess. Nun  waren alle Kinder aus dem Haus - oder sie würden es bald sein, denn Ludwig hatte im nahegelegenen Tornesch  gelernt und solange noch bei seiner Mutter im Haus gewohnt. Tornesch war mit einem Fahrrad innerhalb von zehn Minuten zu erreichen, so dass es nicht lohnte, Ludwig bei dem Lehrmeister wohnen zu lassen - was zu der Zeit üblich war, aber auch extra bezahlt werden musste, d.h. vom vereinbarten Lehrlingslohn abgezogen wurde. Das war hier nun nicht der Fall, so dass Ludwig mit zur Aufbesserung der Haushaltskasse hätte beitragen können - aber angesichts des niedrigen Lehrlingsentgelts nicht tat. Er hatte sich anderes vorgenommen, war auf Vergnügungen aus, was natürlich auch Geld kostete, und das oftmals mehr, als sein Lehrlingsentgelt zugelassen hätte. Aber er war vernünftig und verzichtete auf einiges, auf das er Anspruch zu haben glaubte.

    Dafür würde Stella, die älteste Tochter, bald in das elterliche Haus zurück kehren. Sie hatte wie ihre Mutter Schneiderin gelernt, bei einem Meister in Elmshorn, der Damen- und Herrenbekleidung anfertigte, so dass Stella beides beherrschte. Und auf Betreiben ihres Lehrherrn hatte sie auch die Meisterschule besucht und zeitgleich mit Ludwigs Gesellenprüfung selbst ihre Meisterprüfung als Damen- und Herrenschneiderin bestanden. Aber einen festen Freund hatte sie nicht - noch nicht!

    Herta war stolz auf ihre älteste Tochter! Auf ihren Sohn Ludwig natürlich auch,  aber der sollte erst einmal zeigen, was er wirklich konnte! Stella war Meisterin ihres Fachs, und ihre Jungen Otto und Ludwig waren noch weit davon entfernt!

    Herta hatte sich als gestrenge Meisterin von Stella  überzeugen lassen, dass ihre Tochter wirklich viel gelernt hatte, dass sie als Damenschneiderin genau so gut war wie sie selbst mit ihrer langjährigen Erfahrung, und dass sie das Handwerk als Herrenschneiderin mit einer selbst für Herta bewundernswerten Perfektion und Präzision ausüben konnte. Sie konnte von ihrer Tochter noch etwas lernen! Und das machte sie besonders stolz! Und beide tauschten ihr Wissen gegeneinander aus, so dass die ältere von der jüngeren lernen konnte, aber auch umgekehrt. Was Herta ihrer Tochter unbedingt voraus hatte, waren nicht die technischen Fähigkeiten, die richtige Nadelführung, das richtige Zuschneiden der Stoffe, sondern die Behandlung der Kunden oder Kundinnen. In der Beziehung hatte Stella einfach zu wenig Erfahrung. Das konnte sie von ihrer Mutter noch lernen.

    Die Frauen hatten eindeutig die dominierende Position in der Familie, Herta wegen ihres Alters als weibliches Familienoberhaupt und nach ihr Stella wegen    ihrer Fähigkeiten, die sich auch rasch in der Begabung äusserten, andere weibliche Lehrlinge in Ruhe und Bedachtsamkeit einen Beruf erlernen zu lassen, der scheinbar für  alle Zeit krisenfest zu sein schien. Bedingung für neue Lehrlinge war allerdings, dass sie zuhause wohnen konnten, denn in der Schneiderei Hansen war nicht genug Platz für ein eigenes Zimmer einer Auszubildenden.

    Herta hatte auch in schlechtesten Zeiten immer genug zu tun gehabt, um ihre reduzierte Familie gerade noch über Wasser halten zu können. Das sah sie auch für ihre Tochter voraus. Leider hatte die sich so sehr in ihrem Beruf verknallt, dass für einen Ehemann bislang kein Platz gewesen war. Herta war sich nicht darüber klar, ob Stella es schon mit einem Mann probiert hatte, aber das durfte man wohl angesichts der 26 Jahre, die ihre Tochter inzwischen alt geworden war, als sicher annehmen. Sie machte jedenfalls keinesfalls den Eindruck als sei sie prüde! Aber sie hatte noch keinen Mann mit nach Hause gebracht mit der Vorstellung, ihn auch einmal zu heiraten zu wollen. Herta bedauerte es, tröstete sich aber mit dem fast immer zutreffenden plattdeutschen Sprichwort: „Op jeden Putt passt ook ´n Deckel!" Sie müsse wohl nur abwarten.

    Es war eine stattliche Familie, der Herta vorstand. Sie selbst  gehörte mit ihren 1,72 m zu den für die Zeit gross gewachsenen Frauen, aber jedes ihrer Kinder überragte sie noch.   Otto war der längste der Söhne mit fast 1,90 m, Ludwig stand ihm nur wenig nach mit seinem 1,86 m Länge. Stella brachte es immerhin auf 1,78 m, nur Marte war nicht grösser als ihre Mutter. Und alle sahen sie aus, als seien sie  völlig normal proportioniert: Deshalb hatte Stella wohl auch noch keinen Freund gefunden: Eine fast 1,80 m hohe Frau war nicht unbedingt das Ideal für einen jungen Mann, denn man musste wohl auch davon ausgehen, dass diese selbstbewusste Frau, Meisterin ihres Berufs, sich zuhause auch durchsetzen konnte, wenn es nicht nach ihrem Willen ging!

    Otto war noch nicht soweit, und ihm fehlte das Geld für die Meisterschule. Er war sich auch nicht sicher, ob er die Meisterehre überhaupt anstreben wollte. Er war nach der Gesellenprüfung dank seiner Auffassungsgabe und seiner Übersicht rasch Akkordant einer Maurerkolonne geworden, der jüngste in der Firma seines Arbeitgebers, was er auch seiner überlegenen körperlichen Kraft verdankte, und verdiente gutes Geld auf den Neubauten in Hamburg, wo er im Akkord arbeitete, seit er ausgelernt hatte. Man hatte ihn zum Akkordanten gewählt, weil Otto es verstand, trotz seiner körperlichen Überlegenheit, die beim Verhandeln keine Rolle spielte, auch seine Intelligenz in Verhandlungen einzusetzen und später die Verhandlungsergebnisse auch seinen Kollegen gegenüber als richtig und vernünftig darzustellen. Otto konnte hervorragend rechnen, und er begriff rasch sich etwa   abzeichnende Probleme. Nur das Hochdeutsch konnte er nicht lernen: Es blieb wie eine Fremdsprache für ihn! Er sprach Plattdeutsch, ob mit seinen Kollegen, die es natürlich verstanden, weil sie untereinander die gleiche Sprache benutzten, wie auch in den Verhandlungen mit seinem Chef, dem diese Art des Gespräches mehr zusagte als das gestelzte Deutsch anderer Verhandlungspartner.

    Das nahe Hamburg wirkte wie ein Magnet auf alle Handwerker, vor allem auf die Bauhandwerker, die wie die Werftarbeiter zu Tausenden täglich in die Stadt pendelten, obwohl das zeitraubend und mühsam war: zwischen Elmshorn und Altona, damals noch preussische Stadt neben Hamburg, war der Personenverkehr nur über die dampfbetriebene Eisenbahn möglich, auch zwischen Bad Oldesloe oder Harburg und Hamburg. Man baute zu der Zeit an einem S-Bahnnetz, das einmal die preussischen Orte Blankenese und Hamburg-Poppenbüttel miteinander verbinden sollte und die Stationen Altona und Hamburg Hauptbahnhof einbezog. Bis jetzt aber war erst die Verbindung zwischen Hamburg und Altona in Betrieb. Eine der grossen Neuheiten war, dass die neue S-Bahn elektrisch betrieben wurde. Parallel dazu hatte die Stadt Hamburg eine Hochbahnlinie gebaut, in Konkurrenz zur Reichsbahn, die in einem Ring weit um die Alster herum Stadtteile Hamburgs miteinander verband, damit auch den Hafen einbezog, der wichtigster Arbeitgeber in der Stadt war. Aber einen Bereich wie Altona fuhr die Hamburger Hochbahn nicht an! Altona war eine preussische Stadt und gehörte nicht zu Hamburg, obwohl sich die Grenzen zwischen beiden Städten durch die Bebauung auf beiden Seiten immer weiter verwischten.

    Otto war es Leid gewesen, mit dem Dampfzug bis Altona zu fahren, dort in die S-Bahn umzusteigen und schliesslich von Sternschanze aus noch die Hochbahn, hier U-Bahn genannt, zu benutzen, um nach mehr als einer Stunde Fahrzeit und  etlichen Gehminuten endlich seinen Arbeitsplatz zu erreichen. Ein Arbeitskollege in Hamburg hatte ein Zimmer frei und vermietete es ihm möbliert - bis Kinder kommen, hatte er gesagt - und die Miete war nur geringfügig teurer als die Fahrkarten, denn für jede Zugverbindung benötigte man eine eigene Fahrkarte. Otto hatte ein Fahrrad, und das brachte er mit zu seinem neu angemieteten Zimmer, so dass er viele Baustellen innerhalb Hamburgs mit dem eigenen Fahrrad erreichen konnte und auf die für ihn teuren öffentlichen Verkehrsmittel nicht mehr angewiesen war.

    Mit seinen Geschwistern und seiner Mutter verband ihn ohnehin nicht viel, denn er war ja bei seinen Grosseltern aufgewachsen. Er vermisste sein angebliches Zuhause nicht und war deshalb froh, dass er in Hamburg eine Unterkunft gefunden hatte. Nur nach Dreibeken sehnte er sich oft zurück, nach seinen Grosseltern und nach seinem „Bruder" Hinni.

    Sein Arbeitskollege machte es ihm bald nach und fuhr auch mit dem Fahrrad zur Baustelle, denn man sparte nicht nur Geld, wenn man mit dem Fahrrad fuhr, sondern in vielen Fällen auch Zeit. Die Bahnen waren an ihre Stationen gebunden und konnten nicht quer dazu fahren, was aber mit dem Fahrrad sehr einfach möglich war. Nur in die öffentlichen Verkehrsmittel konnte man damals ein Fahrrad nicht hinein nehmen. Es war nicht erlaubt, und auch der Platz dafür fehlte in den Bahnen.

                                                                  *

    Nur die jüngste Tochter, Marte, die zwar immer noch zwei Jahre älter war als Ludwig, hatte sich nicht dafür erwärmen können, einen richtigen festen Beruf zu erlernen. Sie war „in Stellung" gegangen, wie man es damals nannte: Die Mädchen gingen in eine Familie, wo sie alle möglichen Dienstleistungen erbringen mussten. Trafen sie auf schlechte Arbeitgeber, dann wurden sie schikaniert, schlecht behandelt und ausgenutzt, trafen sie es sehr gut, dann waren sie fast wie ein eigenes Kind im Hause. Das befreite sie zwar nicht von den ihnen obliegenden Aufgaben, aber die wurden gut eingewiesen, und sie lernten viel über das, was eine gute Hausfrau wissen musste. Manche Arbeitgeber schickten die Mädchen sogar in eine Haushaltsschule, damit sie dort noch hinzulernten, was ihnen in dem eigenen Haushalt nicht geboten werden konnte. Marte hatte es gut getroffen. Sie war in eine Familie mit zwei Kindern gekommen, sie lernte dort gut und sie war fleissig - eine Eigenschaft, die sie schon von zuhause  aus mitbrachte.

    Nur „geklebt wurde für die Mädchen nicht! Einzahlungen in eine Rentenversicherung, sie wurden als „Kleben bezeichnet, zur Sicherung der Altersversorgung dieser jungen Mädchen waren keine Pflicht, sondern eher die Ausnahme, vom guten Willen der Arbeitgeber abhängig. Zu diesen Ausnahmen zählten Martes Arbeitgeber nicht. Eine Krankenversicherung hatten sie aber für das junge Mädchen abgeschlossen. Es war Pflicht gewesen. Sonst hätten sie es auch gelassen!  n

    Die Mädchen „in Stellung" waren im Grunde niedere Bedienstete, mit denen die Arbeitgeber nach Belieben verfuhren. Nur wenige hatten das gleiche Glück wie Marte, die sofort wie ein Kind im Hause aufgenommen worden war, der man aber auch Achtung entgegen brachte, die ihre menschliche Würde weder in Frage stellte noch in irgend einer Weise antastete. Was auch an Marte lag: Wurde innerhalb der Gastfamilie ein Wunsch geäussert, eine Absicht formuliert, mit der auch sie zu tun haben würde, dann war sie mitunter die treibende Kraft, die mit viel Engagement eine Realisierung anstrebte. Sie kümmerte sich um die Familie, in die sie geraten war, sie kümmerte sich um die Kinder, sie steuerte die Eigenschaften der Erwachsenen, die oft genug versuchten, über die Stränge zu schlagen, bis sie einmal beide Partner vor die Tatsachen stellte: Es gäbe sicher drei Möglichkeiten, wie die Arbeitgeber zu einer Gemeinsamkeit kommen würden, Zwei davon liess sie unerwähnt, aber die dritte stellte sie mit aller Deutlichkeit klar: wenn es in der gleichen Form weiterginge. Dann wäre sie die erste, die das Haus verlassen würde. Und das könne recht schnell geschehen, wenn ihr danach sei.

    Vor diesem Hintergrund ist es zu verstehen, dass Marte gelegentlich frei bekam, um sich für eigene persönliche Dinge einzusetzen. Deshalb war es ihr auch möglich, heute bei Hertas Geburtstag dabei zu sein. Es war kein „runder" Geburtstag, der vielleicht eine besondere Feier erfordert hätte. Die Besonderheit an diesem Tag war im Grunde nur, dass er auf einen Sonntag fiel, ein für sie  alle, ausser Marte, arbeitsfreier Tag, so dass die gesamte Familie zusammen kommen konnte.

    Doch Mutter Hertas Geburtstag aber war immer ein besonderes Ereignis, denn es gab nicht nur die wunderbaren frischen Süsskirschen an den Bäumen im Garten, die ersten natürlichen und frischen Vitamine nach der langen Winterpause,  sondern fast immer auch etwas auf den Tisch, was den Verwandtenkreis natürlich anzog: In den Notzeiten der letzten Jahre, als kaum eine Familie richtig gut zu essen hatte, kam es fast einer Verpflichtung der Mitglieder einer Familie gleich, sich zum Geburtstag auf den Oha zu begeben, wo Herta Hansen es bisher immer verstanden hatte, etwas auf den Tisch zu zaubern, was ihre Gäste begeisterte. Herta war nicht nur eine sehr gute Schneiderin, sondern sie war auch eine exzellente Köchin, die es immer verstanden hatte, selbst Steckrüben in der allergrössten Not so zuzubereiten, das es ihren Kindern kaum aufgefallen war, im Grunde an jedem Tag das gleiche auf dem Teller zu haben. Sie konnte kochen, und wenn sie um die Jahrhundertwende  dafür eine Lehrstelle bekommen hätte, wäre sie wohl lieber Köchin geworden statt Schneiderin.

    Doch in den letzten Jahren war es ihr immer schwerer gefallen. Sie konnte nur noch anbieten, was ihr eigener Garten hergab, und das war allenfalls Gemüse. Fleisch war seit langem nicht mehr auf dem Speiseplan gewesen: Sie hatte kein Schlachtvieh gross gezogen, sondern hatte es hinzu kaufen müssen, wenn sie für  ihre Kinder Fleisch auf den Tisch bringen wollte. Das war leider nur sehr selten der Fall gewesen, denn das Geld reichte nicht zum Leben und nicht zum Sterben.

    Nur, weil es Sonntag war, konnten alle Geschwister mit ihrer Mutter zusammen kommen und mit ihr gemeinsam den 49. Geburtstag feiern. Die Kinder hatten sich eingefunden, auch Oma und Opa Lühmann, Hertas Eltern, hatten keine Mühe gescheut, den langen Weg von Dreibeken bis zum Oha auf dem Fahrrad zurück zu legen, ein Weg von mehr als zwei Stunden, aber mit öffentlichen Verkehrsmitteln hätte es  noch länger gedauert, und weniger anstrengend wäre es auch nicht gewesen: von dem nächstgelegenen Bahnhof Tornesch bis zum Oha, Herta Haus, war es etwa eine Stunde zu laufen.

    Herta war ihren Eltern dankbar dafür, dass sie gekommen waren: Sie waren zwar noch nicht sehr alt, aber sie hatten ihr Leben lang auf dem Bauernhof Dreibeken gearbeitet, und das sah man ihnen nun auch an! Opa Lühmann war in diesem Jahr 71 geworden, seine Frau würde noch in diesem Jahr 69 Jahre alt werden. Herta war ihre älteste Tochter, sie feierte ihren 49. Geburtstag. Auch ihre jüngste Schwester erwartete sie noch zum Essen - eingeladen hatte sie sie -  und die war  gerade einmal fünf Jahre älter als Stella, Hertas älteste Tochter.

    Geschenke gab es nicht für Herta. Jeder brachte nur einen Blumenstrauss für sie mit. Das Schenken hatten sich alle Familienmitglieder nach langen Gesprächen einvernehmlich abgewöhnt: Man wusste nie, was wirklich gebraucht wurde, und wenn es nur in einer Ecke stand und dort einstaubte, war das ausgegebene Geld dafür ein zu grosser Aufwand gewesen!

    Zudem verpflichtete das Beschenktwerden auch dazu, selbst zu schenken - was nicht nur mit erheblichen Kosten verbunden war: Nach Hamburg war es immer noch eine Tagesreise, und in den Geschäften in Pinneberg oder Elmshorn, wohin man auch mit dem Fahrrad gelangen konnte, gab es oft genug nicht, was man sich als würdiges und passendes Geschenk vorstellte. Also blieb es zukünftig bei Glückwünschen und einem  schönen Blumenstrauss. Das hatte sich inzwischen unter allen Verwandten dieser Familie als Norm eingebürgert!

                                                            *

    Nun sassen die Geschwister alle in der Küche an einer provisorischen Tafel, die Herta aus dem Küchentisch und einem kleinen Arbeitstisch aus ihrer Schneiderei zusammengestellt hatte, ergänzt durch Hertas Eltern, ein wenig beengt zwar, weil die Küche im Grunde nicht gross genug war für acht Personen ihres Formats zum Essen, aber Herta hatte beschlossen, dass es so gehen musste, weil sie in der guten Stube schon alles eingedeckt hatte für eine gemeinsame Kaffeetafel am Nachmittag, zu der sie auch Freundinnen und Nachbarinnen erwartete. Eingeladen wurde zu einem Geburtstag nicht! Wer kam, der kam, war willkommen, und wer nicht kam, wurde auch nicht vermisst.

    Und es ging! Der Grossvater, Opa Lühmann, sass an einer Stirnseite des Tisches, und an den beiden Seiten hatten fünf Personen Platz genommen, Herta und ihre älteste Tochter Stella links auf der Seite des Kohleherdes, von wo aus sie die Gäste versorgen konnten, wenn etwas fehlte. Ludwig und Otto hatten an der anderen Längsseite des Tisches ihre Grossmutter Carla in die Mitte genommen. Und Marte sass ihrem Grossvater an der anderen Stirnseite des Tisches gegenüber. Die Küche war voller Menschen! Auf der linken Seite der grosse Küchenherd mit einem Warmwassertank und einem Backofen, gegenüber der Küchenschrank, in dem das tägliche Geschirr gestapelt war, das heute aber nicht zum Einsatz kam, daneben die Tür zum Schlafzimmer und dann der Kohlenkasten, ein grosser  Holzschrank mit Klappe oben und Entnahmeluk unten, der die Ecke zwischen Schlafzimmertür und dem Eingang vom Flur zur Küche ausfüllte. An der einen Stirnseite des Raumes gab es gegenüber der Eingangstür ein Küchenfenster, zweiflügelig mit Lüftungsklappe oben.

    Bei aller Enge - oder vielleicht auch deshalb - kam sofort ein  netter, vertraulicher Ton zwischen allen auf, so dass es für alle auch ein gemütliches Essen wurde. Obwohl gar nicht viel geredet wurde. Nur Otto fühlte sich ein wenig ausgesondert. Er blieb nur, weil seine Zieheltern auch blieben und es sich schmecken liessen.

    Zuerst gab es eine eine Gemüsesuppe, angereichert durch den Geschmack aus einer bis dahin auf dem Lande noch wenig bekannten Firma, die sich auf die Herstellung von Brühwürfeln konzentriert hatte. Herta sagte darum, den Geschmack verdankten sie „Maggi". Und er war für alle durchaus wohlschmeckend, wie allgemein bemerkt wurde. Wahrscheinlich aber war das auch durch das Gemüse aus dem eigenen Garten hervorgerufen, das Herta kunstvoll in die Fertigbrühe hineingegeben und sorgfältig abgeschmeckt hatte, bevor sie die Suppe auf den Tisch brachte.

    Danach hatte Herta zwei gekochte Hühner als Hauptgericht zu bieten. Von den Kindern hatte keiner damit gerechnet, dass heute Fleisch auf den Tisch kam. Das hatte es seit Monaten nicht mehr gegeben! Es war Herta in letzter Zeit finanziell einfach nicht möglich gewesen, Fleisch zu kaufen. Zu gross war die Not in Deutschland in den letzten Jahren gewesen, zu gross die Armut in ihrer Familie, als sich so etwas leisten zu können. Für die Familie Hansen war dieses Mahl eine seltene Ausnahme, die nur möglich geworden war, weil Claus Lühmann statt eines Blumenstrausses zwei geschlachtete Suppenhühner als Geburtstagsgeschenk für seine Tochter mitgebracht hatte.

    Damit hatte jeder Gast die Möglichkeit, sich etwas auszuwählen: Der eine mochte lieber ein Hühnerbein, der andere lieber Hühnerbrust. Für jeden gab es das Gewünschte, nur Grossvater Lühmann hielt sich zurück und Herta als Gastgeberin auch. Als alle sich bedient hatten, waren noch zwei Brüste und ein Bein übrig. Herta liess ihrem Vater die Wahl. Er nahm das Bein, Herta eine der Brüste.

    Alle assen genussvoll, denn es war längst nicht selbstverständlich, dass ein derartiges Mahl auf den Tisch gebracht wurde, auch an einem Geburtstag nicht! Herta hatte sich riesig gefreut, denn sie hatte bis dahin nicht gewusst, was sie ihren Gästen zum Mittagessen vorsetzen konnte, und war daran fast verzweifelt. Dass es ihnen so schlecht erging auf dem Oha, mochte sie denn auch nicht zugeben! Dass sie kaum etwas zum Essen hatten, Fleisch schon gar nicht, denn das war nicht nur kaum zu bekommen, sondern auch extrem teuer. Herta hatte nichts, was sie ihren Gästen vorsetzen konnte, und das liess sie fast verzweifeln! In allen Jahren zuvor war es ihr gelungen, das Essen zu ihrem Geburtstag zu einer Besonderheit zu machen. Aber in diesem Jahr hatte die ihr Glück verlassen. Doch nun hatten ihre Eltern es mitgebracht!

    Sie waren frühzeitig gekommen, und ihr Vater hatte sie mit seinem Geburtstagsgeschenk in letzter Minute von der Sorge befreit, ihren selbst gesetzten Verpflichtungen in alter Form nachzukommen. Ihr Vater freute sich gemeinsam darüber mit seiner Frau, die sofort damit begonnen hatte, Herta bei der Zubereitung des Mittagessens zu helfen. Was die beiden Frauen, unterstützt von Stella, dann auf den Tisch gebracht hatten, nötigte allen an der Tafel Respekt ab. Es schmeckte köstlich, und von einer Improvisation zu diesem Essen wussten nur Herta und ihre Eltern. Und auch Stella hatte etwas mitbekommen, aber sie sagte nichts. Sie ass nur wie die anderen genussvoll, was sie mit zubereiten geholfen hatte.

                                                             *

    Am Ende vom Verzehr des Hauptgerichts Ludwig fragte seinen Bruder kess: „Otto,  Was ist? Losen wir um die Reste?"

    „Warum? fragte Otto und fügte trocken hinzu: „Die schaffe ich auch allein!

    Wenn man Otto ansah, ein junger Mann gross gewachsen, breitschultrig und kräftig, glaubte man das ohne Einschränkung. Er war wie sein Bruder Ludwig eintypischer Bauhandwerker. Beide waren schwerste Arbeit gewohnt. Entsprechend waren sie gebaut!

    „Und wenn ich nun auch noch Anspruch darauf erhebe?" fragte Ludwig, der seinem Bruder von der Figur her in kaum etwas nachstand.

     „Dann losen wir nicht, sondern fragen, ob noch jemand anderer interessiert ist", erwiderte Otto.

    „Wie grosszügig! erwiderte Ludwig und zog ein Huhn an sich, „Es wollte doch nicht etwa ...

    „Und wenn ich nun noch Knochen pulen möchte?" provozierte der Grossvater die beiden jungen Männer. Beide blickten erstaunt hoch, ohne die Reste vom Huhn vor sich anzurühren.

    „Oder ich vielleicht!" sagte Stella und meldete damit auch ihren Anspruch an.

    „Stellen noch mehr von euch Ansprüche? fragte Herta nun in die Runde und setzte hinzu: „Oder seid ihr etwa nicht satt geworden?

    „Doch, doch!" sagten sie alle. Und sie waren es auch! Nur bei Ludwig und Otto schien noch Platz zu sein: Herta wusste es! Sie hatte sie nur provozieren wollen!

    Da nahm Herta Ludwig den Teller weg, auf dem er gerade begonnen hatte, die Reste des Huhns weiter zu zerlegen, und griff sich auch den anderen, den Otto sich gerade vornehmen wollte.

    „Hey, was soll das denn?" fragte Ludwig leicht erbost.

    „Wenn ihr alle satt seid - und du hast dem nicht widersprochen, mein Sohn, sagte Herta konsequent, „dann kann ich morgen gut darauf eine Suppe kochen! Und du hast einmal mehr in der Woche ein  wenig Fleisch auf dem Teller!

    „Aber ich ...!" wollte der aufbegehren.

    „Du nimmst es so, wie es ist! bestimmte Herta konsequent, „Und nun gibt es Nachtisch für alle!

    Stella und sie räumten rasch die Teller und Schüsseln ab und stellten sie auf einen kleinen quadratischen Tisch in der Ecke neben der Herdseite. Dann bekam jeder eine kleine Schüssel mit Pudding vor sich hingestellt und einen Kaffeelöffel dazu gelegt. Und Stella stellte eine grosse Schüssel mit frisch gepflückten Süsskirschen auf den Tisch.

    „Zum Entsteinen der Kirschen hatten wir leider keine Zeit mehr!" sagte Herta dazu und lächelte freundlich. Alle wiegelten ab: Das sei doch überhaupt kein Problem! Das Essen habe ihnen doch genug Arbeit gemacht, nun würde es jeder akzeptieren, wenn man die Kirschkerne auf einen kleinen Teller  legte, von denen drei auf der Tischfläche verteilt wurden. Allerdings nicht in Reichweite von Claus Lühmann. Und deshalb machte der Grossvater fröhlich lachend den Anfang: Er spuckte einen Kirschkern längs über den Tisch, so dass er unmittelbar vor Marte auf dem Tisch aufprallte, dann aber doch seinen Weg auf ihren Rock fand.

    „Opa!" rief sie entrüstet, aber der hatte schon den zweiten Kirschkern im Mund frei gelegt und bedachte damit seine  Tochter Herta. Die protestierte gar nicht erst, sondern fand ihre älteste Tochter als geeignetes Ziel.

    Alle hatten dann einen diebischen Spass daran, sich an der Kirschkernschlacht zu beteiligen, die Opa Lühmann so fröhlich eingeleitet hatte. Aber alle wunderten sich über den alten Herrn, mit Ausnahme von Otto, der seinen Grossvater bereits von allen Seiten kennen gelernt hatte, denn Opa Lühmann galt als sehr ernster und besonnener Mann in der Familie. Er hatte als erstes erkannt, dass Herta mit vier Kindern Probleme haben würde, alle über die Jahre zu bringen und den Kindern auch noch eine Berufsausbildung zukommen zu lassen. Und Claus Lühmann war ein Realist: Was sollte wohl aus den Kindern seiner Tochter werden, wenn sie keine berufliche, keine handwerkliche Ausbildung erhielten. Er war stolz auf seine Enkelin Stella, dass die es wie ihre Mutter geschafft hatte, Meisterin ihres Handwerks zu werden. Und er war sich darüber klar, dass es die Jungs auch schaffen würden! Zu gut kannte er Otto, der mit seinem Sohn Hinrich auf Dreibeken gross geworden war! Er wusste, dass Otto einmal seinen Weg machen würde - wie alle Hansens.  Und wie er: Fröhlich und ein wenig Schabernack, wenn es angebracht schien.

    Nach einer Weile kehrte Ruhe ein: Es waren keine Kirschen mehr in der Schüssel! Jeder löffelte noch den Rest des Puddings aus seiner Schale, und dann lehnten sich alle gesättigt, fröhlich und zufrieden und fast schläfrig zurück.

    Nur Oma Lühmann meinte, jetzt sei es endlich Zeit, statt einer Mittagsstunde, zu der ohnehin keiner kommen würde, einen Gang in den Garten zu wagen und sich anzusehen, was ausser Unkraut dort noch wachse. Vielleicht fände sie ja auch noch angesätes oder gepflanztes Gemüse oder Kartoffeln dort. Der Ton zwischen allen war locker und heiter. Darum folgten sie auch Carlas Aufruf, ausgenommen Stella und Marte, die in der Küche für Ordnung sorgen sollten.

    Mutter Herta hatte es so bestimmt.

                                                                *

    So fanden sich fast alle im Garten wieder, um zu begutachten, was denn so auf dem Stück Land wuchs, das Herta und ihrer Familie zur Bewirtschaftung zur Verfügung stand, wie weit es gediehen war und versuchten, zu kommentieren, was sie dort sahen. Fast alle, denn Marte und Stella waren in der Küche geblieben, weil sie dort aufräumen und abwaschen sollten, wie Mutter Herta es  angeordnet hatte. Erst danach durften sie zu den anderen stossen, aber Mutter hatte schon wieder etwas für sie zu tun! Doch diesmal schritt ihr Vater Claus ein!

    „Nun lass doch die beiden wenigstens ein paar Minuten mit uns durch den Garten gehen! sagte er, „Wir müssen zwar rechtzeitig wieder los, um noch im Hellen nach Hause zu kommen, aber auf die paar Minuten wird es doch wirklich nicht  ankommen! Und ich freue mich, meine Enkelinnen einmal so munter wieder zu   sehen und in die Armen nehmen zu können!

    Er wandte sich ab von Otto, mit dem er gerade gesprochen hatte, und ging zu den beiden Schwestern, seinen Enkelinnen, um sie einmal zu umarmen. Die liessen es sich gern gefallen, denn sie wussten, dass diese Herzlichkeit offen und ehrlich und ohne Hintergedanken war. Und es war eine Ausnahme! Es war schliesslich ihr Grossvater, der sie in die Arme nahm! Ein Mann, der für seine Nüchternheit bekannt war, von dem man nur selten einmal Gefühlsausbrüche bemerkt hatte - ausgenommen vorhin in der Küche während der Kirschkernschlacht. Da hatte er sich einmal von einer ganz anderen Seite gezeigt, von einer Seite, die sie noch nicht kannten, aber die ihn besonders liebenswert machte. Und so wirkte er nun auch auf sie. Längst nicht mehr als die gefürchtete Respektsperson, die er sonst war.

    „Na? fragte er sie direkt, „Gute Freunde in Sicht?

    Beide schüttelten den Kopf.

    „Du bist nicht mehr ganz jung! sagte ihr Grossvater zu Stella, „Du wirst wählerisch! Und das ist nicht gut für dich!

    „Für mich stand bisher mein Beruf im Vordergrund, sagte Stella darauf, „Nun, wo ich meine Meisterprüfung abgelegt habe, kann ich mich auch selbst ernähren, ohne auf einen Mann angewiesen zu sein.

    „Du würdest ihn aber auch nicht abweisen ..."

    „Nein, wenn er mir gefällt, dann würde ich ihn auch nehmen!" erklärte Stella sehr offen.

    „Das beruhigt mich! sagte Claus Lühmann, „Denn mit dir könnte ich ja vielleicht noch Uropa werden!

    „Wenn du keine anderen Probleme hast!" sagte nun Marte ganz offen. Sie mochte ihren Grossvater. Er war einfach, direkt und geradeaus. Sie bedauerte nur, nicht häufiger Kontakt zu ihm zu haben. Er war wie ein guter Freund, dem man sich anvertrauen konnte.

    „Aber du hast sicher einen festen Freund!" wandte sich der Grossvater ihr zu.

    „Leider auch noch Fehlanzeige! sagte Marte dazu, „Aber wenn du Wert darauf legst, werde ich mich zukünftig darum bemühen!

    „Hol´ dir bloss nicht so einen von diesen Nazis!" warnte Opa Lühmann.

    „Hast du etwas gegen die?" wollte Marte nun wissen.

    Aber ihr Grossvater blockte ab: „Sicher sind sehr viele von ihnen ehrbare Männer, denen man mit Achtung begegnen muss."

    „Aber es gibt auch andere?" provozierte Marte ihn nun.

    „Wie in jeder Gruppierung und jedem Verein! sagte er, „Deshalb habe ich mich mein Leben lang dagegen gewehrt, einen Posten in einem Verein oder gar in einer politischen Partei zu übernehmen. Mit Erfolg, wie ich nun feststellen darf.

    „Und du würdest auch keinen Posten übernehmen, wenn man ihn dir antragen würde?"

    „Nun bin ich zu alt dafür, Marte! Mir trägt heute keiner mehr einen Posten an - und ich bin froh und glücklich darüber! sagte er, „Was soll ich als Rentner schon bewirken? Jetzt, wo alles nach einem neuen Deutschland ruft! Das ist nur etwas für die jungen Leute ...

                                                                    *

    Ludwig hatte zu ihnen aufgeschlossen und deshalb auch einiges mitgehört. Er war offen für alle Verwandten, die sich für das Engagement in einem Verein oder in einer Partei interessierten, aber das waren nur wenige. Die meisten bewunderten die Blumen, die zum Überfluss in Hertas Garten blühten, obwohl Herta es fast allein  geschafft hatte, auch Gemüse und Kartoffeln anzupflanzen.

    „Du bist politisch nicht mehr aktiv?" fragte Ludwig seinen Grossvater.

    „Ich war es nie!" sagte der.

    „Und du könntest dir auch nicht vorstellen, noch einmal aktiv zu werden?" fragte Ludwig fast provokativ. Vielleicht konnte er ja seinen  Grossvater überzeugen.

    „Ich bin inzwischen mehr als siebzig Jahre alt, sagte Grossvater Lühmann jedoch, „das Radfahren fällt mir inzwischen schwer, das Laufen noch mehr. Irgendwann schlägt für mich die Stunde, die meinen Abtritt von dieser Welt bedeutet. Warum soll ich mich noch mit Dingen belasten, deren Lösung einzig und allein eure Aufgabe ist?

    „Ich hatte eben den Eindruck, dass du nur gegen die Nationalsozialisten eingestellt bist", provozierte Ludwig nun ganz bewusst seinen Grossvater.

    Doch der reagierte gelassen: „Wenn du versuchst, mich in eine bestimmte Richtung zu drängen, dann wird es dir nicht gelingen, Ludwig. Ich bin nicht für die Nazis, aber ich bin auch nicht gegen sie. Noch haben sie nicht gezeigt, dass sie mehr können, als nur grosse Reden zu schwingen und Kommunisten zu verprügeln, und etwas mehr muss ich doch abwarten, wenn ich mir ein Urteil erlauben soll - oder?"

    „Wenn wir erst einmal an der Macht sind ..."

    „Du bist in die Partei eingetreten?!" fragte  Opa Lühmann erstaunt.

    „Wäre das etwa so verwunderlich?"

    „Nein, aber normal ist es auch nicht! Jedenfalls nicht in unserer Familie. Wir haben uns bisher aus der Politik herausgehalten und nur unsere Antworten gegeben, wenn wir direkt danach gefragt wurden. Das  haben wir schon zu Kaisers Zeiten so gemacht, als es noch relativ ruhig war in der Politik, und das werden wir wohl auch in diesen wirren Zeiten so durchhalten. Ich hatte übrigens auch von deinem Vater nicht den Eindruck, dass es ihn in die Politik gedrängt hätte."

    Ludwig hatte ihn ja nie kennen gelernt. Ihn verband nichts mit seinem Vater. Deshalb lenkte er ab.

    „Wie geht es deinem Sohn auf dem Hof?" fragte er scheinbar interessiert, obwohl er Hinrich kaum kannte. Er hatte ihn bisher  gerade zweimal gesehen und nur wenig Gelegenheit gehabt, einmal mit ihm  zu sprechen. Sie hatten wie Fremde beieinander gestanden, hatten einander mit Du angeredet, weil es sich innerhalb einer Familie wohl so gehörte, aber das war es dann auch gewesen! Woher sollte er ihn kennen? Otto kannte seinen Vetter Hinrich Lühmann dagegen recht gut: Er hatte einige Jahre gemeinsam mit ihm gespielt, die Schule besucht und gemeinsam mit ihm gearbeitet, wenn es der Hof erforderte, solange er auf dem Hof gewesen war.

    Otto hatte das Gespräch teilweise mitgehört und war nun an der Antwort von Claus Lühmann interessiert. Auch er wüsste gern, wie Hinni mit seinen Aufgaben als Chef auf dem Hof  zurecht kam.

    Aber Claus Lühmann wiegelte ab: „Hinrich macht seine Sache sehr gut! Ich wüsste nicht, was ich besser machen könnte. Aber wirtschaftlich ist der Hof nicht mehr vernünftig zu betreiben! Die Politik der Republik hat die Landwirtschaft zugrunde gerichtet. Sie hat uns so nach und nach alles genommen, was von Wert für den Hof war. Und nun steht Hinrich fast mit dem Rücken an der Wand."

    „Und genau das ist es, was wir ändern wollen! erwiderte Ludwig eifrig, „Wir werden diese Ungerechtigkeiten beseitigen, wir werden Deutschland aus der Reparationszange befreien. Wir werden Arbeitsplätze schaffen für alle ...

    „Das brauchst du aber Geld! unterbrach Claus Lühmann ungerührt seinen Enkel, „Geld, dass es in Deutschland nicht gibt! Und noch eine Währungsreform und noch eine Wirtschaftskrise wird Deutschland wirtschaftlich nicht bewältigen! Die letzte ist ja noch nicht einmal überstanden! Wir stehen immer noch in einer schweren wirtschaftlichen Depression, und das wird sich so rasch nicht ändern!

    „Ihr unterschätzt uns! erwiderte Ludwig leidenschaftlich,  denn nun konnte er endlich über die Partei reden, ihre Vorzüge herauskehren und davon reden, dass sich alles ändern würde, „Wenn wir erst einmal an der Macht sind, wird Deutschland aufblühen und zu neuen Ufern drängen!

    „Das wäre sicher wünschenswert ..." begann Claus, aber Otto unterbrach ihn.

    „Schlägerei auf offener Strasse ist für mich kein Ausdruck von guter Politik! sagte er heftiger, als er eigentlich wollte, „Und wenn die NSDAP ihre Macht mit offener Gewalt durchsetzen will, hat das mit Recht und Ordnung nach meiner Auffassung nichts zu tun!

    Ludwig fihr zu ihm herum.

    „Wir werden die nächste Wahl haushoch gewinnen! Dann brauchen wir die leidigen Strassenschlachten nicht mehr!" versprach Ludwig.

    „Ihr hättet sie auch vorher nicht gebraucht!" erwiderte Otto.

    „Und wie hätten wir uns Gehör verschaffen sollen? Durch Reden im Parlament etwa? provozierte Ludwig dagegen, „Was dort geredet wird, ist doch schon nicht mehr wahr, bevor ein Satz zu Ende gesprochen ist! Dem Parlament glaubt doch niemand mehr! Da haben die Nazis absolut Recht: Das Parlament ist zu einer Quasselbude verkommen!

    „Wer die Demokratie als Staatsform ernst nimmt, muss sich auch gefallen lassen, dass im Parlament Äusserungen fallen, die mehr als unbequem sind!" schloss Claus Lühmann die Diskussion ab. Die beiden Enkel schwiegen erstaunt dazu, aber jeder von ihnen stand auf einer anderen Seite. Das wussten sie nun - und jeder zog seine Schlüsse daraus.

    Sie alle hatten Hertas Garten bewundert, aber auch kritisiert, und Herta hatte einige gute Ratschläge von den Frauen erhalten, die sie im nächsten Frühjahr berücksichtigen würde. Aber die Beete mit Blumen zu verschönern, war eine nachahmenswerte Idee, Herta würde sie fortsetzen. Und wer genau hinsah und auch etwas von den Pflanzen verstand, erkannte bald, dass Herta die Blumen nicht nur wegen der Schönheit der Beete gesetzt hatte. Sie wollte damit auch bewirken, dass die Gemüsepflanzen nicht von Schädlingen befallen wurden, was normalerweise antsnad, wenn das Gemüse auf den Beeten stand. Deshalb hatte sie auch genau und bewusst ausgewählt, welche Blumen sie zu welchem Gemüse gesetzt hatte.

    2.

    Stella und Marte riefen zum Kaffee, und unterbrachen damit alle Diskussionen und Gespräche über Landwirtschaft und Gemüseaufzucht. Der Garten, die Besichtigung, die Erläuterungen, und die Beschreibung der einzelnen Pflanzen hatte viel mehr Zeit gekostet, als allen bewusst geworden war.

     Die beiden Schwestern hatten sich nach dem Gespräch mit ihrem Grossvater wieder in die Küche begeben, um die Kuchen für den Nachmittagskaffee vorzubereiten. Sie wussten, dass dieser Kreis deutlich grösser werden würde als zum Mit-tagessen, denn nun kamen einige Gäste aus der Nachbarschaft hinzu, Frauen mit denen Herta auch sonst Kontakte pflegte, die Herta heute zu ihrem Geburtstag gratulierten, ein kleines Geschenk abgaben und dafür auch erwarteten, an der Kaffeetafel teilnehmen zu dürfen. Für alle war im Wohnzimmer gedeckt, das Mutter Herta von allem befreit hatte, was nach Schneiderwerkstatt aussah, und dennoch war kaum Platz für alle. Es war noch enger als am Mittagstisch. Aber der Stimmung tat das keinen Abbruch, im Gegenteil: Zum Kuchenessen brauchte man ja auch nicht soviel Platz wie für den Mittagstisch. Man brauchte ja nur diee Kuchengabel, wenn vorhanden, oder einen kleinen Löffel, mit denen man sich mundgerechte Portionen vom Tortenstück oder vom Plattenkuchen abnahm, im Gegensatz zum Mittagstisch, an dem man mit Messern und Gabeln ass und deshalb für beide Ellenbogen Platz brauchte.

    Das ursprüngliche Wohnzimmer war etwa vier mal viereinhalb Meter gross, hatte zwei Fenster, die zur Strasse hin gingen, gegenüber den Fenstern war der Eingang von Flur aus, und nach links gab es einen Zugang zum Schlafzimmer. Dort stand auch eine Art Vertiko und - dem Eingang am nächsten - ein Kohleofen, der im Winter, auch mit Holz beheizt, für eine ausreichende Wärme im Zimmer sorgte. Rechts das Sofa mit der geschwungenen Rückenlehne, darüber ein Gemälde, Landschaft mit Hirsch, das niemand für echt oder gar wertvoll hielt. Jeder nahm Platz, wo noch einer frei war, eine Sitzordnung gab es nicht.

    Politik war nicht das Gesprächsthema unter den Gästen. Sie wurde eher zur Nebensache erklärt. Daran wollte man offenbar auch nichts ändern.

    Auch nicht das Bekenntnis von Ludwig, sich nun der NSDAP zugewandt zu haben, weil er darin die neue Kraft in Deutschland sah, die das Reich endlich aus der noch immer bestehenden Not herausführen würde. Ihm wurde nicht widersprochen, wahrscheinlich einerseits, damit man sich den leckeren Kuchen widmen konnte, aber andererseits wohl auch, weil viele der Gäste mit dieser neuen Partei sympathisierten, deren Parolen sehr eingängig waren, und die auch berechtigte Hoffnungen unter den Wählern weckten. Wenn es doch Gegner gab, und das vielleicht unter Hertas Gästen, wollte man an dem Thema nicht gerührt haben. Der Zulauf zu dieser noch neuen Partei schien enorm, so dass sie vorübergehend einen Aufnahmestopp verhängen musste, um mit den Problemen aus der Zustimmung nicht organisatorisch überfordert zu werden. Doch: Das Ergebnis der letzten Reichstagswahl war eher ernüchternd gewesen. Die Anhänger der Partei hatten mit einem überwältigenden Ergebnis für die NSDAP gerechnet, aber sie  hatte nicht einmal ein Drittel der für den Reichstag abgegebenen Stimmen gewinnen können.

    Die Partei war ja noch jung in der Öffentlichkeit, sie hatte noch nichts weiter vorzuweisen als Versprechungen ihres Vorsitzenden Adolf Hitler einerseits, und andererseits das Schicksal einiger erschlagener oder erschossener Gegner, die während der Demonstrationen der Partei zu Gegenaktionen aufgerufen hatten. Eines der furchtbaren Ergebnisse dieser Demonstrationen war der Blutsonntag von Altona gewesen, bei dem 18 Menschen ihr Leben verloren hatten. Das Ereignis hatte Empörung im gesamten Reich ausgelöst, die Schuld trugen natürlich die Nationalsozialisten, obwohl die SA und ihre Helfer sich vor der Eskalation zurückgezogen hatten, was aber weitgehend unbekannt geblieben war. Die Berichterstattung in den Zeitungen hatte nicht wahrheitsgemäss berichtet. Noch war die Presse links  gerichtet, und die Propaganda der Linken verhinderte, dass die Wahrheit veröffentlicht werden konnte. Dem gedruckten Wort glaubten die meisten Menschen ohnehin mehr als den Versprechungen der Redner.

    Aber die Gäste sprachen nicht darüber. Sie wollten Aufruhr und selbst Missstimmungen untereinander vermeiden. Zu politischen Diskussionen war man nicht hergekommen, sondern zu Hertas Geburtstag! Und den galt es zu feiern.  Ob Herta wohl auch noch einen Schnaps für jeden hatte, damit man auf ein gutes Jahr für sie anstossen konnte?

    Herta hatte nicht! Und ihr Etat liess es nicht zu, Schnaps, Bier oder Wein zu kaufen. Es reichte ohnehin kaum zum Überleben!

    Otto hatte mit seiner Akkordkolonne dem Geschehen am Blutsonntag in Altona zugesehen,  ohne sich zu beteiligen, und als die Stimmung sich zugunsten der Demonstranten auf der sozialistischen Seite näherte, und als die Nazis dagegen Waffen einsetzten, hatte Otto seine Männer zum Rückzug aufgefordert. Sie waren verschont geblieben, wo andere ihr Leben liessen, dank Ottos vernünftiger Einstellung. Sie hatten alle gesehen, wozu Menschen gegen Menschen in der

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1