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Nur wir haben überlebt: Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente
Nur wir haben überlebt: Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente
Nur wir haben überlebt: Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente
eBook794 Seiten10 Stunden

Nur wir haben überlebt: Holocaust in der Ukraine - Zeugnisse und Dokumente

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Über dieses E-Book

Boris Zabarko, selbst Uberlebender des Ghettos von Schargorod hat 86 ergreifende und erschütternde Berichte von Uberlebenden der Ghettos in der Ukraine gesammelt. In jedem der Berichte schwingt die Trauer und Klage mit: "Nur wir haben überlebt".

Als Kinder oder Jugendliche wurden sie Zeugen, wie ihre Eltern, Geschwister und alle Familienangehörigen ermordet wurden. In ihren Berichten sagen sie: "Vielleicht erscheint dem einen oder anderen mein Bericht wie eine Aufzählung trockener Tatsachen, aber für mich sind das die Meilensteine meiner hungrigen, zertretenen Kindheit."
"Als ich ein Kind war, habe ich von einem Stück Brot und von der Freiheit geträumt. Ich träumte davon, eine echte Puppe im Arm zu halten. Aber mein Traum wurde nicht wahr."

Die Berichte enthalten Schilderungen der grausamen Morde. Sie zeugen aber auch vom übermächtigen Uberlebenswillen der Kinder. "Mutter hielt mich ganz fest, drückte mich an sich und sagte: Wenn wir sterben, dann zusammen, damit du nicht leiden musst. Aber ich riss mich los, sprang durchs Fenster in den Garten und entkam."

Der Leser erhält Informationen über die Schwierigkeiten der Flucht, des Untertauchens und der Rettung durch Menschen, die ihr Leben und das Leben ihrer Familien riskierten, um diese gejagten, gequälten und verzweifelten Juden zu retten, und sei es nur für eine Nacht. Die mahnende Erinnerung ist die Triebfeder für diese Zeitzeugenberichte.

"Möge meine Erzählung dem ewigen und leuchtenden Andenken an die unschuldigen Opfer dienen, die in den Gräbern ruhen. Natürlich lässt sich damit die tiefe Traurigkeit nicht heilen, die für immer in unserem Gedächtnis, in unseren Herzen wohnen wird."
SpracheDeutsch
HerausgeberDittrich Verlag
Erscheinungsdatum7. Dez. 2011
ISBN9783937717791
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    Buchvorschau

    Nur wir haben überlebt - Boris Zabarko

    HOLOCAUST

    Anapolski Njuma (geb. 1926)

    »WIR ÜBERLEBTEN DANK DER HILFE GUTER MENSCHEN – UKRAINER, POLEN ...«

    Nachdem wir die Prüfungen hinter uns hatten, kamen wir, eine Gruppe von zwanzigjungen im Altervon 13-15 Jahren, am 22. Juni 1941 bei Sonnenaufgang auf dem Schulhof zusammen, um von dort gemeinsam an den Strand zu gehen. Wir badeten und genossen das kühle saubere Wasser. Wir aßen mit Appetit unser Frühstück, das wie üblich aus Butterbroten, Eiern, grünen Zwiebeln und jungen Radieschen bestand. Anschließend zogen wir zum Fußballstadion. Kaum hatten wir den Ball ein paar Mal getreten, als wir Motorenlärm hörten. Mit lautem »Hurra« rannten wir auf die Straße und sahen zu unserer Begeisterung richtige Panzer und Lastwagen, in denen Rotarmisten saßen. Sie fuhren aus Richtung Nowograd-Wolynski nach Rowno.

    Es vergingen ein paar Tage und auf unser Städtchen gingen die ersten Bomben nieder, woraufhin die ersten Opfer des faschistischen Überfalls begraben wurden. Die Beisetzung fand auf dem alten jüdischen Friedhof mit den Totengebeten El male rachamim und Kaddisch statt. Zur gleichen Zeit fuhren die Panzer mit dem roten Stern zurück nach Osten in Richtung Nowograd-Wolynski.

    Wieder ein paar Tage später wurde Korez von den Nazis besetzt. Die Juden begriffen nicht sofort, was die Deutschen vorhatten, und verhielten sich am ersten Tag der Besetzung ihrer Stadt abwartend. Jedoch bereits am zweiten Tag begann das Neue: wir waren keine gleichberechtigten Menschen mehr. Alle Juden vom dreizehnten Lebensjahr an wurden gezwungen, auf Rücken und Brust gelbe sechszackige Sterne zu tragen. In die jüdischen Häuser drangen zusammen mit den Deutschen auch ukrainische Polizisten ein, sie brüllten: »Juden! Schweine! Shid!« und jagten die Bewohner ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht nach draußen, die einen auf den Marktplatz, die anderen zu einem Gebäude, wo sich Polizei und Stadtverwaltung befanden, wieder andere zur deutschen Kommandantur. Sie zwangen ihre Opfer mit Stockschlägen dazu, mit den Händen und ohne Besen oder Schaufel, Müll und Glasscherben aufzuheben. Es wurde ein Judenrat gebildet, der der ukrainischen Polizei und Stadtverwaltung unterstand und Befehl hatte, die Juden zur Arbeit zu schicken.

    Die Besatzer begannen, eine Fernmeldeleitung nach Berlin zu verlegen. Zum Ausheben der Gräben wurden Tausende Juden zusammengetrieben. Dutzende starben täglich an Hunger, Erschöpfung und den Folgen der erlittenen Misshandlungen. Am schwierigsten wurde es, als das Kabel durch den engen und tiefen Graben gezogen werden musste und jeder wusste, dass ihm ein Weg von vielen Kilometern bevorstand. Als die Bauern begannen, ihre Zuckerrüben zur Fabrik zu fahren, warfen sie uns unbemerkt einige zu. Die Menschen stürzten sich wie wild auf die verdreckten Früchte und aßen sie roh auf. Wenn die Wachen das sahen, verprügelten sie die Unglücklichen grausam und nicht selten zu Tode. Begraben oder genauer gesagt verscharrt wurden die Toten an Ort und Stelle, das heißt auf dem Feld.

    Erich Koch, der die Stadt Rowno zur Hauptstadt des Reichskommissariat Ukraine ernannt hatte, forderte von den örtlichen Kommandanturen eine beschleunigte Verlegung der Fernmeldeleitung. Da die kranken und entkräfteten Menschen nicht in der Lage waren, die ihnen auferlegte körperliche Schwerstarbeit rasch genug auszuführen, begannen die Nazis auch Frauen und Kinder, unter denen auch ich mich befand, zum Ausheben der Gräben abzukommandieren. Mein Vater und ich wurden von der Polizei mit Stockschlägen zur Arbeit angetrieben.

    Am vierten Tag der Besatzung der Stadt Korez erhielten 120 namentlich in einer speziellen Liste erfasste Juden den Befehl, sich bei der Stadtverwaltung zu melden. Was mit diesen Menschen geschah, weiß niemand. Keiner von ihnen kam jemals zurück, und lange Jahre hindurch galten sie als »vermisst«.

    Ich erinnere mich noch an einen schrecklichen Tag im Sommer des Jahres 1941. Es war ein ukrainischer religiöser Feiertag. An jenem Tag kamen SS-Männer und ukrainische Polizisten in unsere jüdische Straße gestürzt und ergriffen 350 Juden, ausschließlich Männer. Über das Schicksal dieser Männer war uns über lange Jahre hinweg ebenfalls nichts bekannt. In dem Zeitraum von Juni 1941 bis September 1942 starben rund 5 000 Juden der Stadt Korez an den Folgen grausamer Folterungen.

    Was ich hier beschreibe ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was ich erlebt und mit meinen eigenen Augen gesehen habe. Dreizehn- bis fünfzehnjährige Mädchen wurden vor den Augen ihrer Mütter vergewaltigt und vor den Augen von Kindern und Männern wurden Frauen und Mütter vergewaltigt. Babys wurden ihren Müttern weggerissen, in die Luft geworfen und als Zielscheiben benutzt. Das Gleiche tat man mit Kindern, die man an Pfählen festgebunden hatte. Betrunkene Faschisten stürzten ins Ghetto und erschossen jeden, der ihnen vor die Augen kam, wobei sie gewöhnlich auf den »Davidstern« zielten.

    Eines Tages wurden vor der großen schönen Synagoge alle Rabbiner zusammengetrieben. Sie wurden in Gruppen zu jeweils zwei bis drei Mann eingeteilt und dann zu den übrigen Synagogen getrieben. Dort wurden sie gezwungen, die Thorarollen und die heiligen Bücher auf die Straße zu tragen, mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Einige der Rabbiner weigerten sich diesen Befehl auszuführen. Sie wurden zu Tode geprügelt oder erschossen. Manche von ihnen starben an gebrochenem Herzen, da sie die Verhöhnungen und Quälereien nicht ertragen konnten. Diejenigen, die am Leben blieben, wurden vor dem Hintergrund der brennenden Thorarollen fotografiert. Die Peiniger zwangen diese unglücklichen Menschen, sich gegenseitig die Bärte zu scheren und in das Haupthaar ein Kreuz zu schneiden. Die große Synagoge brannte restlos aus, nachdem man ein Fass mit Benzin hineingerollt und angezündet hatte. Der reich verzierte Metallzaun, der die Synagoge umgab, wurde abgebrochen und die einzelnen Teile wurden dann um die Birkenkreuze auf den Gräbern gefallener Faschisten aufgestellt. Die Rabbiner, die alten Märtyrer des Ghettos, wurden vor Wasserfässer gespannt und dann tagelang gezwungen, die ukrainische Polizei, die Stadtverwaltung, die Kommandantur und das Krankenhaus, in dem verwundete deutsche Soldaten behandelt wurden, mit Wasser zu beliefern.

    Die für uns schlimmste Zeit war der Winter 1941/1942. Die Wände in den Wohnungen waren mit Eis bedeckt, die Menschen konnten sich monatelang nicht waschen und wurden von den Läusen aufgefressen. In einer einzigen Wohnung mussten mehrere Familien zusammen hausen, denn wir durften nur in solchen Häusern wohnen, die sich an einer zum Ghetto gehörenden Straße befanden. Wir verbrannten in unseren kleinen Öfen alles, was sich nur verbrennen ließ: Möbel, Kleidung und Dielenbretter. Aber sobald die Polizisten und die SS-Männer bemerkten, dass aus irgendeinem Kamin Rauch herauskam, drangen sie sofort in das Haus ein, jagten die vor Frost erstarrten Bewohner auf die Straße und zwangen sie, dort Schnee zu holen und damit das Feuer im Ofen zu löschen.

    Jede Nacht starben Dutzende von Menschen an der unerträglichen Kälte und vor Hunger. Die Toten blieben tagelang in Scheunen und vor der Haustür liegen und wurden nur allmählich auf den Friedhof gebracht, wo man sie immer zu mehreren in einem Grab bestattete. So schrecklich es auch war zu sterben, die noch Lebenden beneideten die Toten, da für sie alles Leid ein Ende gefunden hatte.

    Hübsche junge Mädchen von 18 bis 20 Jahren schmierten sich alles mögliche Zeug in ihre Gesichter und schoren sich die Köpfe kahl, um möglichst wenig attraktiv auszusehen und nicht vergewaltigt zu werden. Tag für Tag machten verschiedene Banden das Ghetto unsicher und forderten die Juden zur Herausgabe ihrer Wertgegenstände auf. Manchmal rissen sie sogar die Türklinken heraus.

    Die Zeit verging und über das Schicksal der ersten 120 von der Polizei deportierten Menschen sowie der 350 Internierten wurde nichts bekannt. Ich erinnere mich noch sehr gut an eine Gruppe, zu der Welwe Gilman, der dort ein Konfektionsgeschäft hatte, als das Gebiet noch polnisch war, dessen Sohn Sema, Iosl Kleiner, Pirkes, Sise Segal, seine Frau Pirl sowie mein Vater Birl Anapolski und ich gehörten. Wir trafen uns in der Scheune von Welwe Gilman und berieten, was wir tun sollten. Segal erzählte, dass ein Schuster, ein Sektenmitglied und Ukrainer, mit dem er vor dem Krieg geschäftlich zu tun hatte, einen Polizisten kenne. Dieser sei bereit, für Geld die notwendigen Informationen zu beschaffen. Es wurde beschlossen, diese Informationsquelle vor dem Judenrat geheim zu halten. Wir begannen, unsere Wertgegenstände zusammenzutragen. Ich wurde angewiesen, mich im Zentrum der Stadt in der Nähe zweier Märkte aufzuhalten, wo die deutschen Soldaten ihre Freizeit zu verbringen pflegten. Besonders sollte ich auf diejenigen achten, die an ihren Mützen einen Totenkopf trugen und auf ihren Uniformkragen die der Zahl 44 ähnlichen Buchstaben SS. Sobald ein Fahrzeug mit solchen Soldaten auftauchte, sollte ich durch die Schilgasse laufen und auf Jiddisch rufen: »In der Stadt sind fir und firzik«, damit sich die Bewohner rechtzeitig verstecken konnten.

    Unsere Gruppe traf sich erneut, als alle Wertgegenstände zusammengetragen worden waren. Es handelte sich um Goldmünzen, die noch unter dem Zaren geprägt worden waren, Ringe, Löffel und Kerzenleuchter. Den Nachnamen des Mannes, für den all das bestimmt war, kannte niemand. Nachdem der Polizist das Geschenk entgegengenommen hatte, teilte er uns mit, dass alle 120 Juden, deren Namen auf der ersten Liste gestanden hatten, noch am Tag ihrer Deportation zwei Kilometer von Korez entfernt, in der Nähe des Dorfes Schitnja, erschossen worden waren. Ihr Grab hatten sie selbst ausheben müssen. Auf der Liste hatten die Intellektuellen und Gebildeten der Stadt gestanden, zu denen sowohl Zionisten als auch Kommunisten gehörten. Die Deutschen und die ukrainische Polizei hatten befürchtet, diese Personen könnten die Gemeinde der 5 000 im Ghetto der Stadt Korez lebenden Juden zum Kampf gegen die Besatzung aufstacheln und sich zu Führern einer Widerstandsbewegung machen.

    Wir erfuhren, dass das gleiche tragische Schicksal auch jene 350 Juden ereilt hatte. Man hatte sie bei Straßenbauarbeiten eingesetzt, wo sie im Verlauf von zwei Monaten in Gruppen zu 20 bis 30 Mann erschossen worden waren. Ihre Leichen ruhen in fünf von ihnen selbst ausgehobenen Gräbern, die sich etwa 10 km von Korez entfernt auf der Straße nach Nowograd-Wolynski befinden.

    Es begann das zweite Jahr der so genannten »neuen Ordnung«. Im Sommer 1942, am Tag vor Schawuot waren früh am Morgen Schreie, Weinen und Schüsse zu hören. Alle Juden wurden mit Peitschen, Knüppeln und Gewehrkolben aus ihren Häusern auf die Straße und zur ukrainischen Stadtverwaltung getrieben, die sich in der Staromonastyrskaja (zu deutsch Altklosterstraße) befand. Unter den Betroffenen waren auch meine Eltern, zusammen mit ihren Schwiegertöchtern und Enkeln, dem sechs Monate alten Scheisel und der drei Jahre alten Goldel. Die Väter der Kinder waren an der Front. Neben ihnen stand auch ich, der ich damals gerade mal 15 Jahre alt war. Die meisten Männer trugen wie mein Vater ihren Tales und beteten mit zum Himmel erhobenen Händen das »Schema Israel«.

    Wir wurden in Kolonnen zu 150, 200 und 300 Menschen aufgestellt und von SS-Männern mit Hunden und von Polizisten, die aus Shitomir gekommen waren, bewacht. Besonders schrecklich wurde es, wenn Eltern und Kinder getrennt und auf verschiedene Kolonnen verteilt wurden. Die Menschen schrien und weinten ... Frauen verloren das Bewusstsein und viele von ihnen fielen von Schmerz gelähmt zu Boden und starben an Herzattacken. Diejenigen, die liegen blieben, starben unter den Füßen derer, die von den SS-Männern angetrieben, über sie hinwegmarschierten.

    Am Straßenrand standen vier Pferdefuhrwerke, auf die wurden die Leichen wie Brennholz geworfen. Dieser Zug folgte den Kolonnen. Der Weg der Unglücklichen führte in Richtung eines Waldes, der acht Kilometer von Korez entfernt in der Nähe des Dorfes Kosak gelegen war. Dort hatte man bereits Gräber vorbereitet. All dies geschah vor meinen Augen und noch heute schrecke ich nachts hoch, wenn mir im Traum jene grauenvollen Bilder erscheinen.

    Als man uns zur Stadtverwaltung getrieben hatte und in Kolonnen aufstellte, bemerkte ich etwa 200 mir bekannte junge jüdische Mädchen und Jungen. Sie saßen etwas abseits von der Stelle, an der unsere Kolonne stand. Mir kam der Gedanke, dass man sie für irgendwelche Arbeiten zurückbehalten hatte. Es gelang mir, mich unbemerkt aus der Kolonne zu entfernen, die wohl jeden Augenblick ihren Weg in den Tod würde antreten müssen, und zu der Gruppe junger Leute hinüberzukriechen. Ein paar Mädchen setzten sich sofort auf mich und deckten mich mit ihren Röcken zu. So blieb ich vier Stunden lang liegen. Während dieser Zeit wurden alle Kolonnen abgeführt, die, wie später bekannt wurde, 2 500 Juden umfasst hatten. Erst danach wurden die jungen Leute nach Hause gelassen. Unterwegs begegneten wir Pferdefuhrwerken, mit denen die Kleider der Ermordeten in den Hof der Stadtverwaltung gebracht wurden.

    Während der Nacht sammelten sich im Ghetto rund 2 000 Leute, denen es auf irgendeine Weise gelungen war, dem Tod noch einmal zu entkommen. Später erfuhren wir, dass die Exekution unserer Angehörigen und Nachbarn gegen vier Uhr beendet war.

    Am nächsten Tag musste eine Gruppe von dreißig Leuten, zu denen auch ich gehörte, in Begleitung von Mitgliedern des Judenrates und einigen ukrainischen Polizisten, mit Schaufeln in der Hand zu der Stelle marschieren, an der unsere Lieben den Tod gefunden hatten. Bereits am Waldrand, etwa 20 Meter von der Straße entfernt, erblickten wir Körper von Toten. Es waren 22 Leichen. Darunter befanden sich auch Kinder, denen die Köpfe durchschossen worden waren. Offensichtlich hatten die Unglücklichen versucht, aus der Kolonne zu fliehen. Neben dem Ort ihres Todes auf einer Waldlichtung lagen Kinderwagen, Spielsachen, Schühchen, Strümpfchen, Patronenhülsen, Zigarettenkippen und Schnapsflaschen herum. Überall waren Blutspuren und in den nicht zugeschütteten Gräbern lagen die Erschossenen in ihrem eigenen Blut, das unter der brennenden Sonne rasch verdunstete. Dorthin trugen wir die 22 Leichen. Wir schritten die Gräber ab, um sie zu messen und stellten fest, dass sie zwanzig Meter breit und zwanzig Meter lang waren. Dann wurde das Kaddisch gebetet und wir zogen erschöpft wieder nach Hause. Gegen Sonnenuntergang kamen wir im Ghetto an, ohne so recht glauben zu können, dass wir dem Schicksal derer, die in den schrecklichen Gräben lagen, entkommen waren.

    Nachdem die ersten zweieinhalbtausend Ghettohäftlinge erschossen worden waren, waren noch 2 000 übrig. Die Schikanen, der Hunger und die Entbehrungen gingen weiter, aber all das war nichts verglichen mit dem Leid, das unsere Familien und Freunde ereilt hatte. Wir wurden wie zuvor zu Sklavenarbeiten gezwungen. Nach den Erschießungen gab es keine einzige Familie, die nicht eines ihrer Mitglieder verloren hatte. Die alten Menschen, die das Massaker am Schawuot überlebt hatten, wurden fast alle getötet. Nach der ersten Aktion konnten wir noch die Festtage Rosch Haschana und Jom Kippur begehen. Zum Gebet an diesen Tagen versammelten wir uns in der Wohnung von Jukel Sawodnik, der zusammen mit den ersten 120 Deportierten erschossen worden war. Am ersten Tag des Jom Kippur starben während des Gebetes acht Frauen an Entkräftung und vor Gram. Wir trugen sie ins Nachbarzimmer hinüber und setzten unsere Gebete fort.

    So vergingen noch einige Monate, bis wir am Vortag von Sukkes erfuhren, dass in demselben Wald unweit des Dorfes Kosak erneut Gräber ausgehoben wurden. Auf welche Weise diese Nachricht zu uns gelangte, weiß ich nicht, denn die Gruppe, die von dem namentlich nicht bekannten Polizisten informiert worden war und zu der auch mein Vater gehört hatte, war erschossen worden. Wir beschlossen, aus dem Ghetto zu fliehen. Wir waren fünf Freunde, die das Leben im Ghetto fest zusammengeschweißt hatte. Awrum Golender, Awrum Lerner, Muma Esterman, Jankel Milrud und ich, Njuma Anapolski. Wir schlichen heimlich in der Nacht durch die ganze Stadt und gingen dann in Richtung Nowograd-Wolynski weiter. Wir gingen durch den Wald, den wir als Stadtkinder noch nie richtig gesehen hatten. Wir gingen immer der Nase nach und wenn es dunkel wurde, schliefen wir dort, wo wir gerade waren.

    Mehrere Tage waren wir unterwegs und gingen auf versteckten Wegen, da wir Angst hatten, von jemandem gesehen zu werden. Unseren Durst stillten wir mit feuchtem Moos. Als Nahrung dienten uns verschiedene Pflanzen und mitunter auch schwarze Beeren. Plötzlich standen wir am Waldrand und erstarrten vor Schreck, denn vor uns waren Bauern bei der Kartoffelernte. Wir versteckten uns, warteten, bis es Nacht wurde und stürzten uns dann im Schutz der Dunkelheit auf die Kartoffeln. Mit kleinen Ästen machten wir Löcher, gruben die Kartoffeln mit unseren Händen aus und verzehrten sie roh an Ort und Stelle. Unsere Odyssee dauerte noch viele Tage. Wir irrten durch die Wälder, ohne zu wissen, wohin. Wir bemühten uns, niemandem vor die Augen zu kommen und vermieden es, in die Nähe von Ortschaften oder Gehöften zu gelangen.

    Dann aber kam der Herbst mit Regen, nassem Schnee und Nachtfrost. Die tagsüber nass gewordene Kleidung gefror des Nachts. Eines Tages legten wir uns von Hunger und Kälte zu Tode erschöpft, eng aneinander geschmiegt unter dichten Kiefern nieder. Dort blieben wir lange Zeit liegen und keiner von uns wusste, ob der, der neben ihm lag, noch lebte oder schon tot war. Plötzlich tauchten neben uns drei Männer mit Äxten in den Händen und Säcken über den Schultern auf. Bis heute weiß ich nicht, woher wir die Kraft nahmen aufzuspringen und alle Angst vergessend, den Unbekannten entgegenzustürzen und um Hilfe zu flehen. Wir begannen ihnen die Füße zu küssen und sagten immer wieder: »Onkelchen, um Gottes willen, tötet uns nicht ...« Die Bauern begannen beruhigend auf uns einzureden und baten uns, wir mögen doch mit Schreien aufhören. Als wir uns wieder ein bisschen beruhigt hatten, zogen die Unbekannten aus ihren Säcken Plinsen, Pellkartoffeln und Milch hervor und boten uns diese Schätze an. Wir stürzten uns wie wahnsinnig auf diese köstlichen Dinge. Die Männer betrachteten uns schweigend. Es war deutlich zu sehen, dass unser Anblick sie erschütterte. Sie schlugen uns vor, mit ihnen zu gehen, aber da ergriff uns erneut furchtbare Angst. Da wir jedoch um die Ausweglosigkeit unserer Lage wussten, gingen wir mit ihnen. Sie führten uns tief in den Wald hinein, zeigten uns, wie man eine Erdhütte baut, die Schutz gegen Regen und Schnee bot und machten in der Hütte ein Feuer an. Sie rieten uns, als Brennmaterial nur Birkenzweige zu benutzen, da feuchtes Birkenholz beim Brennen keinen Rauch erzeugt. Sie zeigten uns, woran man Birken erkennt und wie man mit Hilfe von Kienspänen Feuer anmacht. Sie überließen uns ein Stück Eisen, einen Feuerstein und trockenes Moos. Wir sollten nicht ins Dorf gehen, da das wegen des Dorfältesten und der Polizei zu gefährlich sei. Sie gaben uns eine Axt, zwei Messer, ihre Säcke und gingen.

    Zum ersten Mal in den zwei Monaten unserer Wanderung konnten wir uns aufwärmen, satt essen und, was das Wichtigste war, wieder ein wenig Lebensfreude und neuen Glauben an das Gute im Menschen schöpfen.

    Dann kam der Winter mit grimmigen Frösten und heftigen Schneefällen. Der Hunger wurde immer schlimmer. Eines Tages erblickten wir im Schnee Spuren von Pferdeschlitten. Wir berieten uns kurz und beschlossen, es zu wagen der Spur nachzugehen. Als wir etwa zehn Kilometer gegangen waren, hörten wir plötzlich Hundegebell und dann tauchten niedrige Hütten vor uns auf. Was sollten wir tun? Erneut beschlossen wir, es darauf ankommen zu lassen und klopften an der ersten Hütte an. Drinnen wohnten ein Mann und eine Frau, die begannen sich hastig zu bekreuzigen, als sie uns erblickten. Dann aber, als ihnen klar wurde, dass wir keine Gespenster waren, sondern zu Tode erschöpfte junge Burschen, baten sie uns hereinzukommen. Ihre beiden acht und zehn Jahre alten Töchter schickten sie zum Wache halten auf die Straße, damit wir vor ungebetenen Gästen rechtzeitig gewarnt würden.

    Wie diese Leute hießen, wussten wir nicht. Ich erinnere mich nur, wie einmal der Name Pjotr erwähnt wurde. Bei diesen prächtigen Menschen konnten wir uns aufwärmen und uns an Kartoffeln mit saurer Milch satt essen. Als wir gingen und diesen prächtigen ukrainischen Bauern voller Dankbarkeit die Hände küssten, bemerkte Awrum Golender an der Tür einen Trog gefüllt mit gehäckseltem Stroh, das mit gekochten Kartoffeln vermischt war, Futter für die Schweine. Wir baten, uns ein wenig von diesem Futter zu geben. Auf diese Weise hatten wir wieder für ein paar Tage zu essen.

    Ein anderes Mal wurden wir beim Überqueren einer Flussbrücke von zwei Männern mit Gewehren und weißen Armbinden angehalten. Es waren Polizisten. Im nächsten Augenblick warfen sich ein paar Frauen auf diese Männer und schrien uns zu: »Lauft weg!« Wir stürzten davon und blieben erst stehen, als wir am Waldrand angekommen waren.

    Aber der Hunger war stärker als die Angst, und so gingen wir trotz der Gefahr zuweilen in ein Dorf hinein, in der Hoffnung, dass gute Menschen uns helfen würden. Und wirklich trafen wir immer jemanden, bei dem wir zu essen bekamen und uns aufwärmen konnten. Selbst Kinder halfen mit, uns zu schützen. Die Jahre vergingen und es tut mir heute sehr Leid, dass ich weder die Namen jener Dörfer noch die Namen unserer Retter kenne, aber ich bin sicher, dass Gott zu diesen Menschen gütig und wohlwollend sein wird. Sie halfen uns auf unserer Flucht und warnten uns vor Gefahren durch Dorfälteste und Polizisten. Sie rieten uns, ans andere Ufer des Flusses Slutsch zu gehen, sie zeigten uns, wie man sich im Wald zurechtfindet, wie man Feuer macht und erklärten uns, welches Holz man dazu am besten verwendete. Sie sagten uns, wir sollten niemals Espenholz nehmen, da dieses starke Funken erzeuge.

    So legten wir hunderte von Kilometern zurück und erreichten im Frühjahr 1943 endlich jenen Wald im Bezirk Beresnowo, wohin zu gehen uns gute Menschen aus den Dörfern Storoshew, Ustje, Biltschaki und Mischakowo (diese Namen habe ich erst im Nachhinein in Erfahrung gebracht) geraten hatten. Aber auch dort gab es für uns keine Ruhe. Im Umkreis befanden sich polnische Dörfer, in denen die Deutschen gnadenlos brandschatzten und ganze Familien abschlachteten. Auch die Polen flohen in die Wälder.

    Zahlreiche Juden, die der Erschießung im Ghetto entgangen waren, wurden in den Wäldern aufgegriffen. Wer ein Handwerk beherrschte, etwa Schmiede, Schneider oder Schuster, musste zuerst eine Zeit lang arbeiten und wurde dann erschossen.

    In diesem Wald stießen wir auf Partisanen der Schitow-Gruppe. Sie nahmen uns zwar auf, gaben uns aber keine Waffen, sondern schickten uns zum Vieh hüten. Dann brach Typhus aus, und von der ganzen Gruppe blieb nur Muma Esterman verschont. Bis zum Ende des Krieges kämpfte Muma Esterman mit der Waffe in der Hand gegen den Faschismus. Nach Kriegsende machte er sich auf die Suche nach den Verbrechern, an deren Händen das Blut unserer Eltern und anderer Märtyrer klebte, die im Ghetto von Korez umgekommen waren.

    Wir aber, die wir ebenfalls alle an Typhus erkrankt waren, überlebten im Wald in einer Erdhütte. Im Umkreis von acht bis zehn Kilometern von unserer Hütte, lagen Dörfer, deren Namen ich mir gemerkt habe. Lewatschi, Siwki, Kosjarnik, Motschuljanka und das Gehöft Saizy.

    An diesen Orten trafen wir Landsleute, die ebenfalls aus dem Ghetto in Korez geflohen waren. Asril, Malka, Gersch, Liniki, Silik und Moische Charif, Vater und Tochter Gljusman und andere Juden. Außerdem waren da noch etwa zwanzig Personen aus dem Ghetto in Selischtsche, dem heutigen Sosnowka, und aus Beresnowo. Auch sie lebten in Erdhütten.

    In den umliegenden Dörfern lebten Polen, die ihre Kartoffeln und Milch mit uns teilten und wir halfen ihnen bei der Arbeit. Wir zerrieben Korn mit Mühlsteinen, zerkleinerten Hirse im Mörser und holten Holz aus dem Wald. Diese Arbeiten waren für uns nicht leicht – wir waren 15 Jahre alt – aber sie hielten uns am Leben.

    So überlebten wir dank dieser guten Menschen – Ukrainer und Polen. Ich verneige mich tief vor unseren Rettern, den bekannten ebenso wie vor denen, deren Namen ich nicht kenne.

    Sie ließen uns in ihre Hütten und gaben uns zu essen. Sie erlaubten uns, dass wir uns bei ihnen aufwärmten, trockneten und manchmal auch wuschen. All das vor den Augen ihrer neugierigen Nachbarn und Familienangehörigen. Sie riskierten, dass man sie an den Dorfältesten oder die Polizei verraten könnte, denn in allen Dörfern waren an Zäunen und Kirchentüren Plakate angebracht, auf denen davor gewarnt wurde, Juden zu verstecken oder ihnen zu helfen. In solchen Fällen würde man ihre Familien erschießen und die Häuser niederbrennen, während es für die Auslieferung eines Juden eine Belohnung, eine Kuh, Salz oder Geld gebe. In allen Dörfern gab es solche anständigen und guten Menschen, die sich von derartigen Drohungen nicht abschrecken ließen. Was wir, wo immer wir heute auch leben mögen, gerne bezeugen. Wir werden sie ebenso wenig vergessen, wie wir unsere Peiniger vergessen, die Leid und Elend über das jüdische Volk gebracht haben.

    Ja, keinen von denen, die uns unser Schicksal erleichtert und uns vor dem Hungertod und vor Erfrierung gerettet haben, werden wir jemals vergessen. Ich denke, dass Straßen in Israel die Namen von Gerechten tragen sollten, aber ganze Dörfer, in denen Juden Zuflucht fanden, verdienen eine noch viel größere Ehre als einzelne Personen, weil dort in Gemeinschaftsarbeit Hunderte von Juden gerettet wurden. Ich werde nicht müde, meinen Enkeln davon zu erzählen, wie Kinder in ihrem Alter unseretwegen im Frost Wache hielten und nachdem wir gegangen waren, mit den Hunden durch den Schnee rannten, sich im Schnee rollten, um auf diese Weise unsere Spuren zu verwischen.

    Aber das Schicksal war ihnen nicht wohlgesonnen. Im Herbst 1943 wurden diese Dörfer von »Strafkommandos« überfallen. Sie brannten die Häuser zusammen mit den darin eingeschlossenen Bewohnern nieder. Wenn es irgendjemandem gelungen sein sollte zu entkommen und sich zu retten, dann wünsche ich ihm im Namen meiner ganzen Familie und aller geretteten Juden von ganzem Herzen Gesundheit, Glück und Wohlergehen.

    Wir waren stark entkräftet. Um die Schmerzen zu lindern, die von Verletzungen und Läusen herrührten, rieben wir uns gegenseitig den Rücken mit Schnee ein, fertigten uns Schuhwerk aus Baumrinde und wenn wir einen Toten fanden, zogen wir ihm die Kleider aus.

    Im Februar 1944 wurden unsere Wälder und die Stadt Korez von der Roten Armee befreit. Mit noch nicht ganz 18 Jahren kamen wir an die Front. Zum ersten Mal seit vielen Jahren konnten wir uns in einer Banja, einem Badehaus, waschen und eine saubere Soldatenuniform und Schuhe anziehen. Wir bekamen wohlschmeckenden Kascha mit Salz und Brot, dessen Geschmack wir schon fast vergessen hatten, tranken süßen Tee, aber die größte Freude für uns war: Wir bekamen ein Maschinengewehr und zogen in den Kampf.

    Dieser erste Kampf wurde für mich und meine Freunde zu einem unvergesslichen Erlebnis. Bis jetzt waren wir hilflose und gejagte Burschen gewesen. Aber nun war der glückliche Augenblick gekommen, in dem ich meine erste Salve gegen unsere Peiniger abfeuern und ihnen zeigen konnte, dass sie mich nicht kleingekriegt hatten.

    Nach zahlreichen Kämpfen an der zweiten baltischen Front in den Reihen der 379. Rigaer Division wurde mein Freund Jankel Milrud beim Angriff auf Riga tödlich verwundet und starb auf dem Schlachtfeld. Im darauf folgenden Gefecht wurde ein weiterer meiner Freunde aus dem Ghetto, Awrum Golender, schwer verwundet (er lebt heute in Israel in der Stadt Aschdod). Danach kam die Reihe an mich. Nach einer schweren Verwundung musste mir ein Arm amputiert werden. Mein dritter Freund aus dem Ghetto, Muma Esterman (er lebt in Israel in der Stadt Rischon Lezion) kämpfte noch viele Jahre hindurch in den Reihen der Truppen des Innenministeriums. Der vierte von uns, Awrum Lerner, ging nach Eretz Israel noch vor dessen Unabhängigkeit und kämpfte in vielen Kriegen für Israels Unabhängigkeit.

    Es ist mir nicht möglich, alles, was ich erlebt habe, aufzuschreiben, denn, kaum habe ich eine Erinnerung beendet, kommen mir schon wieder neue Erinnerungen. Einmal hatte ich zusammen mit meinen Freunden gegen das Verbot der Deutschen das Ghetto verlassen. Wir wurden sofort von der Wache ergriffen und in eine Polizeizelle gesperrt. Dort mussten wir bis zu den Knien in mit Blut vermischtem Wasser stehen. Der ukrainische Polizeimeister Mitka Sawerucha, ein grausamer Mann und dessen Untergebene verprügelten uns schrecklich. Aber zwei Tage später geschah ein Wunder, wir wurden freigelassen.

    Nachdem man mich im Jahre 1945 aufgrund meiner Verwundung aus der Armee entlassen hatte, fuhr ich nach Korez. In der Schilgasse, wo sich das Ghetto befunden hatte, war kein einziges Haus unbeschädigt geblieben. Ein paar jüdische Familien, die sich in den Wäldern versteckt gehalten oder in der Armee gedient hatten, kehrten ebenfalls nach Korez zurück. In den ersten Tagen fanden sich etwa zehn Personen zusammen und wir gingen nach Kosak zu den Gräbern unserer Verwandten und Freunde. Das Bild, das sich uns dort bot, war deprimierend. Alles ringsum war mit Steppengras bewachsen und der Begräbnisplatz war kaum noch zu erkennen. Etwas besser sah es in Schitnja aus, wo man einen bescheidenen Grabstein aufgestellt hatte mit der Aufschrift »Hier wurden von den Faschisten 120 sowjetische Bürger erschossen«. Ein Hinweis darauf, dass es sich bei diesen Bürgern um Juden gehandelt hatte, fehlte jedoch, und das Grab der erschossenen 350 konnten wir ebenfalls nicht finden.

    Die zurückgekehrten Juden begannen zu arbeiten. Unter ihnen waren Kommunisten und solche, die leitende Posten innehatten, aber alle fürchteten sich, des Zionismus beschuldigt zu werden und ließen die jüdischen Gräber unbeachtet, zumal es zu jener Zeit weder in Babi Jar noch in Sossenki Denkmäler gab. Jedoch unsere Zehner-Gruppe ließ sich nicht daran hindern, die Gräber zu pflegen und versammelte sich alljährlich an Schawuot und Sukkes, um gemeinsam das Kaddisch zu beten.

    Die ersten beiden Denkmäler für die Korezer Juden wurden im Jahre 1991 von dem Geld errichtet, das Awrum Schichman der Gemeinde vermacht hatte. Im Jahre 1992 kam die in Kanada lebende Fanja Wedro nach Korez, eine hochherzige Frau, die zusammen mit uns das Elend des Korezer Ghettos durchlebt hatte. Wir trafen uns und fuhren zusammen in das Dorf Suchowolja, das hinter Korez in Richtung Nowograd-Wolynski, das heißt bereits auf Shitomirer Gebiet liegt. Dort fanden wir auf einer Gesamtfläche von 300 Quadratmetern fünf Grabhügel, die in einem Abstand von zwei bis drei Metern errichtet worden waren.

    Wir ließen unseren Tränen freien Lauf und als wir uns wieder gefasst hatten, setzten wir uns, um zu besprechen, was weiter zu tun sei. Fanja sagte: »Ich fahre zurück nach Kanada und spreche mit meinem Mann. Vielleicht kann man hier eine Gedenkstätte errichten.«

    Einige Zeit später kam die Nachricht, dass das Ehepaar Wedro bereit war, auf eigene Kosten, in Suchowolja ein Denkmal errichten zu lassen. Mit dem Bau wurde ein trefflicher Mann, der Spezialist Ilja Kuperschmidt beauftragt.

    Im Jahre 1992 begegnete mir ein 82-jähriger aus Korez stammender Mann. Seinen Nachnamen nannte er ebenso wenig wie das Dorf, aus dem er gekommen war. Er erzählte mir Folgendes: »Von 1941 bis 1944 war ich bei der ukrainischen Polizei in Korez tätig und habe an Erschießungen von Juden aus dem Korezer Ghetto teilgenommen. Ich selbst habe nicht geschossen. Unsere Einheit umstellte in der Nähe des Ortes einen Wald, in dem die Aktion stattfand. Die Menschen wurden ohne Rücksicht auf Alter und Geschlecht in Kolonnen dorthin getrieben, wobei man mit Stöcken, Peitschen und Gewehrkolben auf sie einschlug. Man zwang sie, sich nackt auszuziehen. Die Kleidung wurde auf Fuhrwerke geladen und die Menschen wurden weiter ins Innere des Waldes hineingetrieben. Dort hatte man auf einer Lichtung zwei große Gruben mit einer Tiefe von etwa drei Metern ausgehoben. In jede dieser Gruben mussten acht Personen hineinsteigen, sich niederlegen und erschießen lassen, wobei die Mörder in der einen Hand eine Zigarette oder ein Butterbrot, und in der anderen ein Gewehr oder eine Pistole hielten. Einige der Opfer lebten noch, als sich die nächsten acht zum Tode Bestimmten auf sie legen mussten. Es gab auch welche, die unaufgefordert zu der Grube liefen, um nicht sehen zu müssen, was geschah. Sie wollten alles möglichst schnell hinter sich bringen. Wenn die Polizei sie dabei sah, wurden sie unter grausamen Schlägen dazu gezwungen, zu den Wartenden zurückzukehren. Die Kinder wurden ihren Müttern weggerissen und lebend in den Graben geworfen. Das Schreien und Weinen der vielen Menschen, die dieser grausigen Aktion zum Opfer fielen, war noch in weiter Ferne zu hören.

    In der Wildnis von Kosak befinden sich drei nebeneinander liegende Grabstätten, die jeweils 20 × 30 m groß sind. Sie bergen die Überreste von 4 500 Ghettohäftlingen, die von den deutschen Nazis und ihren Helfershelfern erschossen und zum Teil lebend begraben wurden. 50 Jahre lang war diese Stelle unsichtbar gewesen. Man hatte dort Roggen gesät. Als wir uns daran machten, die Gräber wieder herzustellen, wurde dort erstmals weder geackert noch gesät.

    Nachdem ich mit der Korezer Vereinigung in Israel zahlreiche Briefe gewechselt hatte und aus vielen Ländern, in denen die Kinder der Opfer heute leben, genügend Gelder eingegangen waren, konnten alle Gräber im Jahre 1994 in einen ordentlichen Zustand gebracht werden. Jedes Grab erhielt einen Gedenkstein und auf dem Feld, wo man 50 Jahre lang Roggen gesät hatte, wurde eine acht Meter hohe Menorah aufgestellt.

    Zur Einweihung der Gedenkstätte erschien das kleine Häuflein derer, die jene Hölle überlebt hatten sowie die in Amerika, Kanada und Israel lebenden Kinder und Enkelkinder der Opfer. Unter den Klängen der israelischen Nationalhymne und den Gebeten Kaddisch und El male rachamim gingen die Flaggen der Ukraine und Israels auf Halbmast und die Bänder an den Denkmälern wurden zerschnitten. Alle sahen ein Denkmal mit einem Davidstern, Zeichen der Trauer und der Achtung jenen 4 500 Juden gegenüber, die an diesem Ort den Märtyrertod gestorben waren.

    Axelrod (Dax) Klara (geb. 1935)

    »DIE ERINNERUNG AN DIESE MENSCHEN WÄRMT MEIN HERZ ...«

    Ich wurde am 29. Januar 1935 in einem Dorf mit dem Namen Gorocholino geboren. Es liegt im Bezirk Bogorodtschansk, der zum Verwaltungsgebiet Stanislaw (Iwano-Frankowsk) gehört. Mein Vater Juda Mendelewitsch Dax und meine Mutter Chana Abramowna Dax arbeiteten in der Landwirtschaft. Nachdem unser Dorf von den Deutschen besetzt worden war, blieben wir noch einige Zeit dort. Dann aber beschlossen meine Eltern nach Stanislaw, zur Familie meines Vaters überzusiedeln. Sie glaubten, dass es in der Stadt für uns weniger gefährlich sein würde, seit es auf dem Dorf üblich geworden war, in der Nacht an jüdischen Häusern die Fenster einzuschlagen und anschließend die Wohnungen auszurauben.

    Jedoch bereits wenige Tage nach unserer Ankunft in Stanislaw wurden wir zusammen mit unseren Verwandten und einigen Tausend anderen Juden aus der Stadt sowie aus den umliegenden Dörfern und Bezirken in das Stanislawer Ghetto gebracht, wo wir bis zum Jahr 1943 lebten.

    Die Lebensbedingungen im Ghetto waren schrecklich und von Kälte, Hunger und Krankheiten geprägt. Ich hatte nicht genug zu essen, nichts Warmes anzuziehen und große Angst. Und so war ich wie viele andere Kinder fast die ganze Zeit über krank. Ich konnte kaum laufen, bekam schlechte Augen, wurde immer schwächer.

    Mein Vater und meine Mutter wurden oft zu verschiedenen Arbeiten gezwungen. Sie mussten die Straßen kehren sowie Fahrwege instand setzen und bauen. Jeder Tag verging unter Todesangst. Die Ghettobewohner und besonders die Kinder starben an Hunger und Entbehrungen. Die Schwachen und Kranken wurden in Gruppen auf das Gelände des jüdischen Friedhofs transportiert, wo man Gräben ausgehoben hatte. Dort wurden sie dann erschossen. Die meisten unserer Verwandten, insgesamt 52 Personen fanden im Ghetto den Tod.

    Das Leben im Ghetto wurde von Tag zu Tag schwerer. Täglich trieben die Deutschen große Gruppen von Menschen zusammen und erschossen sie. Mein Vater wurde oft während der Arbeit verprügelt, weil er aufgrund seines schlechten Gesundheitszustandes die geforderte Norm nicht erfüllen konnte. Meine Eltern begriffen, dass auch wir keine Chance haben würden, wenn es uns nicht gelänge, aus dem Ghetto herauszukommen.

    Da mein Vater einen der Polizisten kannte, die das Ghetto bewachten, konnten wir unter großen Schwierigkeiten dieser Hölle entfliehen. Als wir aber draußen waren, wussten wir nicht, wo wir hin sollten, da rings um uns die Gefahr lauerte. Wir beschlossen, in der Nacht zu unserem Dorf zurückzukehren und warteten im Wald auf den Einbruch der Dunkelheit. Noch vor dem Morgengrauen erreichten wir das Haus des Priesters Iossif Michailowitsch Petrasch. Meine Eltern glaubten, dass man sich auf ihn am ehesten verlassen könne. Vor dem Krieg hatte mein Vater sich gut mit ihm verstanden und wusste daher, wie ehrlich und anständig er war. Der Priester nahm uns freundlich auf und freute sich, dass wir am Leben waren. Er brachte uns in einem separaten Zimmer unter und schloss es ab, da nicht einmal seine Haushälterin merken sollte, dass wir da waren, und sie die Nachricht darüber womöglich im ganzen Dorf verbreitete. Das wäre nämlich für ihn und seine Familie, die uns ebenfalls half, zu gefährlich gewesen. Die Familie Petrasch ging ein großes Risiko ein, denn im Dorf befand sich eine deutsche Garnison. Als sich in dem Gebäude direkt neben dem Haus des Priesters ein deutscher Offizier niederließ, wurde es für uns noch gefährlicher. Da rief der Priester den Küster, dem er vertraute, erzählte ihm von uns und bat ihn, uns zu einem im Wald gelegenen Gehöft zu bringen.

    In der Nacht kam der Küster zusammen mit seinem Sohn auf Pferden und lud die Lebensmittel auf, die der Priester ihm für uns und seine Familie mitgegeben hatte. Noch in der Nacht erreichten wir das Gehöft. Der Bauer hob zusammen mit meinem Vater unter der Scheune eine Grube aus, in der wir uns einige Zeit lang versteckt hielten. Einmal am Tag bekamen wir etwas zu essen. Als unser Wohltäter dann aber auch für sich selbst nichts mehr zu essen hatte, aßen wir nur noch eine dünne Suppe aus Kartoffelschalen. Als uns auch die ausgegangen war, machte sich unser Vater zusammen mit unserem Gastgeber mitten in der Nacht auf den Weg zu Iossif Michailowitsch, der ihnen dann etwas zu essen gab.

    Infolge des Aufenthalts in der dunklen Grube begann ich zu erblinden. Meine Eltern machten sich große Sorgen um mich und beschlossen, Iossif Michailowitsch um Rat zu fragen. Sie entschieden, dass ich in ein anderes Dorf gehen sollte, wo mich niemand kannte, um mich dort als Hirtenmädchen zu verdingen. Die Frau des Priesters zog mir eine ukrainische Tracht an und Iossif Michailowitsch erklärte mir ganz genau, wie ich zu gehen hatte, um in das Nachbardorf Fitkiw zu gelangen. Es war Frühling, kurz vor Ostern.

    Zu jener Zeit gab es viele Kinder, die über die Dörfer zogen, um sich eine Arbeit zu suchen. Ich war sehr klein und sehr geschwächt. Einen ganzen Tag lang ging ich von Haus zu Haus und bat, man möge mir erlauben, das Vieh zu hüten. Erst gegen Abend, als ich schon völlig verzweifelt war und mit Schrecken daran dachte, dass ich nun wieder durch den Wald zurück ins Dorf gehen müsse, ging ich zu einem Haus, begann zu weinen und flehte die Bewohner an, sie mögen mich bei sich behalten. Zu dieser Familie gehörte ein fünfzehnjähriges Mädchen, mit dem ich mich später anfreundete. Hier war ich an der frischen Luft und auch mit dem Essen wurde es besser, da ich Milch und Gemüse bekam. In dieser Familie blieb ich etwa acht Monate.

    Danach nahm mich ein junges Mädchen bei sich auf, dessen Mutter gestorben war. Das Mädchen hieß Paraskowja Semjonowna Dutschak. Sie war damals siebzehn Jahre alt. Sie sagte zu mir: »Du bist eine Waise und ich bin eine Waise. Lass uns also zusammen leben.« Sie war zu mir wie eine Schwester. Schließlich war ich noch ein Kind, stand ohne mütterliche Fürsorge da und wusste nicht, ob meine Eltern überhaupt noch am Leben waren.

    Nach der Befreiung von Stanislaw durch die Sowjetarmee suchte mich mein Vater und fand mich auch. Meine Mutter war umgekommen.

    Bei der Erinnerung an diese Menschen und ihre edle Gesinnung wird mir noch heute warm ums Herz. In jenen schweren Zeiten war nicht jeder bereit, sein Leben und das Leben seiner Angehörigen aufs Spiel zu setzen, um jemanden zu retten. Die freundschaftlichen Bindungen zwischen unseren Familien sind noch heute sehr stark. Wir helfen einander, wo immer wir können und denken oft an das, was wir durchgemacht haben.

    Basowski Grigori (geb. 1927)

    »AN DIESEM TAG BESCHLOSSEN DIE DEUTSCHEN,

    DAS GANZE LAGER ZU VERNICHTEN ...«

    Mein Name ist Grigori Solomonowitsch Basowski. Ich wurde im Jahre 1927 im Dorf Schenderowka geboren. Es liegt in dem zum Verwaltungsgebiet Tscherkassy gehörenden Bezirk Korsun-Schewtschenkowski. Im Jahre 1938 starb mein Vater und noch vor dem Krieg heiratete meine Mutter Fischel Kaminski, der in der Kleinstadt Olschany, dem damaligen Bezirkszentrum lebte. Wir übersiedelten nach dort.

    In der zweiten Hälfte des Monats Juli 1941 wurde unsere Stadt von den Deutschen besetzt. In einer ersten Aktion wurden sämtliche jüdischen Männer erschossen, darunter auch mein Stiefvater. Die gesamte übrige jüdische Bevölkerung wurde ins Ghetto getrieben. Unser Besitz, unsere Kleidung und unser Haus wurden beschlagnahmt. Das Ghetto, das ein ganzes Stadtviertel einnahm, wurde von Deutschen und einheimischen Polizisten bewacht. Das Ghetto zu verlassen war uns nicht erlaubt.

    Wir wurden gezwungen, vom frühen Morgen bis in den späten Abend zu arbeiten. Zu essen gab es nichts, dafür quälten sie uns auf jede nur erdenkliche Art. Kranke und schwache Menschen wurden erschossen. So lebten wir oder genauer gesagt existierten wir bis zum Frühjahr 1942. Im Mai 1942 wurden wir zusammengetrieben, in einer Kolonne aufgestellt und in Marsch gesetzt. Wohin es ging, wussten wir nicht. Gegen Abend kamen wir in einer Stadt mit Namen Swenigorodka an. Dort wurden wir über Nacht ins Gefängnis gesperrt. Am Morgen des nächsten Tages begann dann die Selektion. Auf die eine Seite kamen Frauen, junge Mädchen und Jugendliche, darunter auch meine Mutter und ich. Auf die andere Seite die Alten und die kleinen Kinder. Den Müttern wurden ihre Kinder weggerissen und den Alten zugeworfen. Weinen, Jammern und Stöhnen war überall zu hören.

    Wir wurden in ein Konzentrationslager getrieben. Der Ort, zu dem es gehörte, hieß Smeltschenzy und lag im Bezirk Lyssjanka. Einige Zeit später wurden meine Mutter und ich in den Ort Nemorosh verlegt, der zum Bezirk Swenigorodka gehörte. Beide Lager befanden sich am Rand einer sich im Bau befindlichen Fernstraße. Alle übrigen Juden, Kinder und Alte, wurden aus der Stadt herausgebracht und erschossen.

    Wie unser Konzentrationslager aussah? Es war eine frühere Kolchose, die vom übrigen Ort mit Stacheldraht abgetrennt war. Wir wurden im Schweinestall untergebracht und mussten auf dem nackten Boden schlafen. Wir arbeiteten beim Straßenbau und in einem Steinbruch vom frühen Morgen bis zum späten Abend. Zu essen gab es nur einmal am Tag etwas. Ein bisschen dünne Suppe und 100 g Hirsebrot. Diejenigen, die nicht mehr arbeiten konnten, wurden in bestimmten Zeitabständen aussortiert und erschossen. Nach der Rückkehr von der Arbeit wurden wir rund um den Schweinestall gejagt und mit Gummiknüppeln verprügelt. Nach jeder Erschießung wurden die Kleider der Toten ins Lager gebracht und uns

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