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Im Krieg auf dem Balkan: Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg
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Im Krieg auf dem Balkan: Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg
eBook525 Seiten5 Stunden

Im Krieg auf dem Balkan: Erinnerungen eines Soldaten an den Zweiten Weltkrieg

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Über dieses E-Book

Leopold Rosenmayr schildert in diesem Erfahrungsbericht sein Leben als 18-jähriger Dolmetscher der Deutschen Wehrmacht 1943 in Wien und von 1944 bis 1945 in Griechenland. Er schildert den Kampf zwischen Besatzern und Freiheitskämpfern/Partisanen ebenso wie den von ihm überwiegend zu Fuß zurückgelegten Rückzug durch Mazedonien, Bosnien, Serbien, Kroatien und Slowenien und die Turbulenzen im sowjetisch besetzten Wien der Nachkriegszeit. Das biografische Erleben wird zu einer besonderen Art von Zeitgeschichte gestaltet. Es entsteht der Beitrag eines Repräsentanten der ältesten Generation, der sich entschlossen hat, die jahrelange Konfrontation mit Gewalt, Verbrechen, Hass, Vernichtung und Schuld noch einmal nachzuerleben und niederzuschreiben. Damit will Rosenmayr heute einen Beitrag zur geschichtlichen Wahrheit des 20. Jahrhunderts leisten.
SpracheDeutsch
HerausgeberBöhlau Wien
Erscheinungsdatum16. Okt. 2012
ISBN9783205792659
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    Buchvorschau

    Im Krieg auf dem Balkan - Leopold Rosenmayr

    Teil I

    GRIECHENLAND

    [<<28||29>>]

    1. Abfahrt in den »Einsatz«

    »So spät kommst du !«, sagte meine Mutter, als ich in voller Uniform zur Tür hereinkam. Das war laut meinem Tagebuch am 8. März 1944. Ich antwortete nicht. »Du weißt doch, dass du morgen fährst«, setzte meine Mutter fort.

    »Ich weiß es«, sagte ich, betont nüchtern und irgendwie Gleichgültigkeit ausdrückend. Ich war damals gerade 19 Jahre alt geworden. Vielleicht war ich im Moment der fordernden Frage meiner Mutter auch dem Kommenden gegenüber gleichgültig. Mein Vater, selber Soldat, ja Offizier, und sie, sie wussten es, dass ich demnächst, wie der Ausdruck lautete, »in den Einsatz gehen« würde. Woher also die Aufregung?

    Bei meiner Mutter rührte sie mit größter Wahrscheinlichkeit daher, dass ich noch nichts gepackt hatte. Unvorbereitet in eine Situation zu gehen, das war für meine Mutter unerträglich. Dass ich meine Ausrüstung, die ich im Zimmer, das ich zusammen mit meinem Bruder bewohnte, noch nicht zusammengepackt hatte, und dies am Abend vor dem Beginn des Einsatzes am kommenden Vormittag, das konnte meine Mutter nicht verstehen oder gar akzeptieren. In ihrem Geschäft im selben Haus, in dem wir wohnten, musste am Abend immer wieder alles aufgeräumt werden – besonders die Stoffballen –, bevor sie abends das Geschäft verließ. Im Stillen gewann ich den Eindruck, dass sie an meinem Mangel an Vorbereitung mehr litt als daran, dass der Sohn, ihr Sohn, morgen ins Unbekannte und Unabschätzbare auf unbestimmte Zeit, nämlich in den Krieg, verschwinden würde.

    Aber auch dieser Eindruck beschäftigte mich kaum, weniger jedenfalls als die zu erwartenden Vorwürfe meines strengen Vaters, wenn er von seiner militärischen Dienststelle im Dritten Wiener Gemeindebezirk in der Metternichgasse in unsere Wohnung im 10. Bezirk heimkehren würde. Wir beide, er als Hauptmann der Reserve und ich als Wehrmachtsdolmetscher auf dem niedrigsten Dienstgrad als »Schütze«, hatten ganz unabhängig voneinander die sogenannte Heimschläfer-Bewilligung erhalten. Das bedeutete, dass wir nicht gezwungen waren, in einer Kaserne oder in einer Dienststelle zu nächtigen, sondern die Nacht zu Hause verbringen durften, allerdings am nächsten Morgen pünktlich zum Dienst zu erscheinen hatten. Meinem Vater war dieses Privileg als Adjutant eines wichtigen Generals erteilt worden, mir wegen der anstrengenden Arbeit [<<29||30>>] der Kontrolle von Texten in fremden Sprachen im Rahmen der damaligen »Auslands-Briefprüfstelle« (ABP). Nun war ich also in der genehmigten Nächtigungsstelle, nämlich der Wohnung der Eltern, eingetroffen, um das Marschgepäck ordnungsgemäß für den nächsten Morgen vorzubereiten.

    Warum war es so spät geworden? Die Dunkelheit war schon aufgezogen, und ich war müde. Ich war nicht nur müde, sondern auch von einer stumpfen Traurigkeit erfasst.

    Ich hatte alle praktischen Arbeiten in den Hintergrund gedrängt, weil ich mir die Zeit nahm, mich von Nina zu verabschieden. Ich fühlte in diesen Märztagen 1944, dass der Abschied von Nina etwas Endgültiges hatte. Ich würde sie nie mehr wiedersehen, noch jemals irgendetwas von ihr hören. Diese traurige Erwartung sollte sich bewähren. Ich habe von Nina Spouv nie mehr das Geringste erfahren, bis zum heutigen Tag nicht.

    »Warum bist du so spät gekommen?« – »Weil ich mich von Nina verabschieden musste.« Hätte ich das gesagt, wäre meine Mutter höchst erstaunt gewesen, denn sie wusste oder ahnte nichts von Nina.

    Die junge Frau, etwa altersgleich mit mir, dem damals Achtzehnjährigen, war vor einem halben Jahr meine Arbeitskollegin geworden. Wir saßen an derselben lang gestreckten Tafel, an der etwa 20 Personen das meist ziemlich eintönige Geschäft der kontrollweisen Brieflektüre zu verrichten hatten. Es war unsere Aufgabe, Briefsendungen zu prüfen, die von der Post als auffallende Stücke vorerst zurückgehalten, dann an uns, die Auslands-Briefprüfstelle, ABP, weitergeleitet worden waren. Die Poststücke wurden nach einer Prüfung auf Sprengstoff von den Prüferinnen und Prüfern vorsichtig geöffnet, in den verschiedenen Sprachen gelesen und je nach Befund meist als militärisch unerheblich klassifiziert, mit dem Siegel der amtlichen Kontrolle versehen und zur Weitersendung durch unsere Poststelle wieder verschlossen. Was immer als erheblich beurteilt wurde, z. B. Nachrichten über feindliche Militärtransporte oder Bewegungen feindlicher Truppen oder über zu befürchtende Angriffe von Partisanen und Freiheitskämpfern, musste der hierfür besonders qualifizierten Analyse-Stelle der ABP, allenfalls mit kurzen eigenen Vermerken, weitergeleitet werden.

    Unter 100 Briefen waren es jeweils ein bis zwei Briefe, die ich an die Analyse-Stelle im Hause weiterleitete. Die Mehrzahl der Briefe, die ich las, war in neugriechischer Sprache und dabei in der Umgangssprache, der Dimotiki, verfasst. Die am selben Tisch sitzende Nina war Dolmetscherin und qualifizierte Leserin für Russisch. Sie selber war Russin, Tochter eines sogenannten wolgadeutschen Vaters und einer russischen Mutter.

    [<<30||31>>] Die Wolgadeutschen hatten im Zweiten Weltkrieg, aufgewachsen als Sowjetbürger der unteren oder der mittleren sozialen Schichten, kein Problem damit, bei den sowjetischen Streitkräften Kriegsdienst im Kampf gegen die Deutsche Wehrmacht zu leisten. So war auch Ninas wolgadeutscher Vater sowjetischer Soldat geworden und diente in einer Einheit, die sich östlich der von den Deutschen nach schwersten Kämpfen eroberten Halbinsel Krim 1941/42 nach Osten zurückzog – wohin, das wusste natürlich die Familie nicht, und sie sprach auch nicht davon, wie mir Nina erklärte.

    Der Vater stammte aus der Nähe von Rostow. Die Herkunftsfamilie des Vaters war schon seit über hundert Jahren dort ansässig gewesen. Er hatte erst als Kind in der Schule mühsam Russisch gelernt, war dann als Wagner Handwerker geworden, schließlich Automechaniker. Wegen seiner Genauigkeit und Verlässlichkeit war der Vater, wie auch sonst die Wolgadeutschen, als kleine Gruppe in Russland, für ihre technischen Kenntnisse und ihre Verlässlichkeit außerordentlich geschätzt worden.

    Nina erzählte mir von der schrecklichen Abschiedsszene, als ihr Vater mit seiner sowjetischen Einheit durch das Dorf in der Nähe von Mariapul, wo er zusammen mit der Familie gelebt hatte, nach Osten weiterziehen musste. Seine Einheit war auf der Flucht vor der massiv von Panzern unterstützten Infanterie der Deutschen Wehrmacht, die nach der Eroberung der Krim nach Osten an die Wolga drängte. Nina erzählte mir auch, wie sich die Angst vor den Soldaten der Wehrmacht im Dorf ausgebreitet hatte. Die Frauen, alle Russinnen, fürchteten, vergewaltigt zu werden.

    Was die deutschen Soldaten mit Sicherheit taten, das war, dass sie alles nach Nahrungsmittel durchstöberten, die Kartoffeln aus dem Keller holten, brieten und mit russischen Vokabeln Brot und Schmalz von der Zivilbevölkerung forderten. Wodka gab es ohnehin keinen mehr, den hatten die sowjetischen Soldaten schon ausgetrunken oder mitgenommen, ehe sie abgezogen waren. Aber die deutschen Soldaten gaben deutlich zu verstehen, dass sie die Eroberer waren. Sie hätten den Frauen zwar keine Gewalt angetan, sagte Nina, aber sie grob herumgestoßen, wenn sie von ihnen nichts zu essen bekamen, besonders das Fleisch nicht, das sie forderten.

    So sei auch sie, Nina, so gestoßen worden, dass sie zu Boden fiel. Da sei ihr auf Deutsch eine massive Verwünschung der Eroberer herausgerutscht. Aber ein junger deutscher Feldwebel, für das Verhalten der Gruppe der neuen Besatzer verantwortlich, die in ihrem Haus einquartiert worden war, hatte die zu seiner Überraschung deutsch gesprochenen Worte gehört. So setzte er auf Deutsch einige fragende Worte nach. Nina, so erzählte sie mir, sei von der sanften Art des [<<31||32>>] Feldwebels sehr beeindruckt gewesen, sodass sie ihm auch erzählte, wo und wie sie ihr Deutsch gelernt hatte, nämlich als Kind von ihrem Vater.

    Die Überraschung war perfekt, und daraus erwuchs, ganz unerwartet, wechselseitige Sympathie, gekoppelt mit großer Zurückhaltung beiderseits. Dazu kam dann, dass die Einheit, welcher der Feldwebel angehörte, nicht mit der Mehrheit der deutschen Truppe in Verfolgung der russischen Regimenter weiter nach Osten zog, sondern als kleine Einheit zur Streckensicherung der Bahn den Befehl zum Verbleiben in Mariapul erhielt. Nina habe es verstanden, zur deutschen Feldküche hinzu Nahrung so aufzubereiten, dass ihr die Herzen der Soldaten zuflogen. Natürlich war die mit Selbstverständlichkeit benützte gemeinsame deutsche Sprache ein Boden, auf dem die Sympathien gedeihen konnten.

    Zwischen Nina und dem Feldwebel gedieh mehr als dies, sodass er von der Verwaltung der Truppe schon nach kurzer Zeit die Erlaubnis erhielt, im nächsten Urlaub Nina mit sich zu nehmen, um sie in seiner Heimat, in Wien, auch zu heiraten. Das alles geschah und schien rosig zu sein, bis zu dem Moment, da der junge Feldwebel nach der Heirat und nach dem Urlaub in Wien, wieder zur Truppe zurückkehren musste. Nina ließ er bei der Schwiegermutter allein in der für sie fremden Stadt zurück.

    Die Schwiegermutter sah ihre Aufgabe darin, Nina auf Schritt und Tritt zu bewachen. Sie befürchtete, dass die anziehende und fremdartige junge Frau sich nicht aus eigener Kraft gegen das ungestüme männliche Werben in Wien würde behaupten können. Die intensive Sorge und Bewachung durch die Schwiegermutter trieb Nina dazu, durch eine berufliche Arbeit Distanz von ihr zu suchen. Aufgrund ihrer Sprachkenntnisse wurde sie, nach sorgfältigen Prüfungen und Nachforschungen über ihre Herkunft, schließlich in die Auslands-Briefprüfstelle aufgenommen und konnte sich dort rasch auch gut bewähren.

    An einem der langen Tische mit meist über zehn Leserinnen und Lesern auf jeder Seite kam Nina zu sitzen. Sie hatte dort schon einen Platz einer Brief-Prüferin gefunden, als ich, geprüfter Dolmetscher und Soldat, als Neuankömmling dem Tisch zugeordnet wurde, an dem sich auch Ninas Platz befand.

    Der Tischvorsitzende war ein betagter weißbärtiger ukrainischer Geistlicher der orthodoxen Kirche. Er war mit seiner Familie noch vor Kriegsbeginn aus der Ukraine nach Westen geflohen. Er strahlte sehr viel Ruhe für alle seine meist um Jahrzehnte jüngeren Untergebenen durch Bestimmtheit, aber auch väterliches Verständnis aus. Manchmal wandte man sich auch um Entscheidungshilfe an ihn, ob man eine Zeile oder ein Wort eines Briefes zur Spezialprüfung in die Analyse-Stelle der ABP weiterleiten sollte oder nicht. Der alte Priester hieß Hornykiewicz. Er war ein nicht nur in Religionsfragen hochgebildeter Mann, [<<32||33>>] sondern auch eine Persönlichkeit, die sich mit einer Mischung von menschlicher Einfühlung und strenger Autorität in dem Kulturgemisch seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, den prüfenden Leserinnen und Lesern durchzusetzen verstand. Man vertraute ihm.

    Im Saal, dem größten Raum der früheren österreichischen Produktenbörse in der Taborstraße, waren meist auch sogenannte Aufsichtsoffiziere tätig. Als Wehrmachtsangehörige trugen sie volle Uniform und waren bewaffnet. Die jungen, aber nicht voll kriegstauglichen Offiziere waren eindrucksvoll und konnten sich bei der multinationalen weiblichen Belegschaft großer Beliebtheit erfreuen. Der mir persönlich am nächsten stehende Aufsichtsoffizier war ein älterer Hauptmann, ein Reserveoffizier aus dem Ersten Weltkrieg der ehemaligen österreichisch-ungarischen k. u. k. Armee namens Wotke. Er hatte nunmehr keine im engeren Sinn militärische Rolle zu spielen, sondern die einer hochrangigen sprachkundigen Aufsichtsperson.

    Der Zufall wollte es, dass dieser Offizier im Zivilleben Professor für Latein und Griechisch am Elisabeth-Gymnasium im 4. Wiener Gemeindebezirk gewesen war. Ich hatte ihn dort als Schüler in einer seiner Klassen erlebt. In seiner zivilen Zeit hatte Hauptmann Wotke als Gymnasialprofessor jährlich in den Ferien Schülergruppen nach Griechenland geführt, um ihnen auf diesen Gruppenreisen die bedeutenden Denkmäler der antiken Baukunst und der Skulpturen nahezubringen. Für diese seine Tätigkeit als pädagogischer Reiseführer erwarb er sich auf der Basis des ihm vertrauten Altgriechisch, das er in der Schule unterrichtete, gute Kenntnisse des Neugriechischen. So konnte er sich im vollen Sinn als Reise-Verantwortlicher bewähren, Kontakte in Griechenland herstellen und die Schüler auf ihre von ihm begleitete Kulturreise schon gegen Ende des Schuljahres vorbereiten. Prof. Wotke vermochte seinen Schülern zum Kulturstudium auch Einblicke ins historische griechische Alltagsleben und besonders in den Sportbetrieb der historischen Zeit der Antike zu geben. So genoss er bei den Jungen hohes Ansehen.

    Als ich nach einer elementaren Einführungsprüfung ins Neugriechische von der Dolmetscherkompanie in der Wiener Roßauer-Kaserne in die Auslands-Briefprüfstelle (ABP) abkommandiert wurde, traf ich zur größten Überraschung meinen ehemaligen Gymnasialprofessor als Aufsichtsoffizier dort wieder. Als er mich sah, verlangte er sofort von mir, ihn in sein Dienstzimmer zu begleiten. Dort forderte er mich auf, durch intensives Weiterstudium des Neugriechischen eine höhere Qualifikation zu erlangen und auch eine Prüfung darüber abzulegen. Er werde mir täglich Aufgaben geben, die ich nach Dienstschluss zu bewältigen und ihm am jeweils folgenden Tag vorzulegen hätte. Das würde mich [<<33||34>>] bestimmt befähigen, einen höheren Qualifikationsgrad durch eine Prüfung bei den Lehrern der Dolmetscherkompanie Wien zu erreichen. Dies könnte mir auch einen besseren Posten im Einsatz in Griechenland bringen. Damit begann ein merkwürdiges, aber sehr schönes dienstliches Verhältnis zwischen uns beiden, welches sich nach dem Krieg, den wir beide überlebten, im Studium von Geschichte und Kultur der Antike fortsetzen sollte.

    Der Hauptmann kam jeden Morgen bald nach Arbeitsbeginn zu meinem Tisch, um meine Aufgaben von mir abzuholen. Ich hatte natürlich stramm vor ihm zu stehen und die Blätter zu überreichen. Dabei sprach ich ihn nach der Regel stets mit »Herr Hauptmann« an, während er mich, so wie früher in der Schule, bei meinem wienerisch zurechtgestutzten Vornamen »Poldi« nannte. Dank der Regelmäßigkeit der Aufgaben und der vom Hauptmann mir gegenüber entfalteten Pädagogik kam ich tatsächlich gut voran. Ich machte dank seiner Hilfe und Kontrolle Fortschritte im Neugriechischen.

    Das Studium, das ich nun zusätzlich zu meiner Lese-Arbeit am Tisch der ABP zu leisten hatte, hinderte mich jedoch nicht, die Menschen, vor allem diejenigen, die am selben Tisch arbeiteten, kennenzulernen. Darunter war auch eine Frau mittleren Alters, die als Garderobefrau am Burgtheater gearbeitet hatte. Die Wartezeit zwischen der Entgegennahme der Kleider des Publikums vor der Vorstellung und deren Ausfolgung an das Publikum nach der Vorstellung, hatte sie täglich benutzt, um Japanisch zu lernen. Nun war sie ein begehrtes Mitglied der Briefprüfung geworden, auch für die Kolleginnen und Kollegen, denen sie viel aus der japanischen Kultur und Geschichte zu erzählen wusste. Bei den männlichen Mitgliedern des Prüfpersonals, Zivilisten wie Soldaten, war allerdings eine junge Polin besonders beliebt, die neben ihrer Arbeit als Prüferin auch eine Tanzausbildung absolvierte. Sie bewegte sich auch in den Pausen von einem Tisch zum anderen geradezu schwebend. Und überall erntete sie anerkennende Bewunderung.

    Ganz anders benahm sich die junge Russin Nina, die sich in den Pausen kaum von ihrem Arbeitstisch entfernte. Die stille Person gefiel mir. Es dauerte eine Zeit, bis ich den Mut fasste, sie in einer Arbeitspause anzusprechen. In gewisser Weise war sie das Gegenteil zu der Polin, die man gar nicht anzusprechen brauchte, da sie dies ohnehin schon von sich aus tat. Die Polin war schon während des Kriegs in ihrer Heimat im Jahre 1939 gemeinsam mit ihrer Schwester nach Österreich geflohen. Sie hatte sich auch zuerst als Schneiderin durchgebracht, ehe sie nach der Ablegung von Sprachprüfungen Aufnahme als Brief-Prüferin der ABP fand. Sie schwärmte besonders für einen jungen Kameraden, der an meinem Tisch arbeitete, ja sie belagerte ihn geradezu mit ihrer tänzerisch [<<34||35>>] ausgedrückten Sympathie, die er aber nicht in der von ihr erwarteten Weise erwiderte.

    In dieser Welt also traf ich Nina. Sie war wesentlich kleiner und keineswegs so beweglich wie die Polin. Nina sprach fließend Deutsch, ohne die geringsten grammatikalischen Fehler. Ein kaum spürbarer russischer Akzent trug noch zum Charme ihrer fantasievollen sprachlichen Ausdrucksweise bei.

    Ich wollte mehr von ihrem Leben wissen, und in einer Arbeitspause fragte ich sie einmal, ob ich sie auch außerhalb der ABP bei Gelegenheit treffen dürfe. Sie sagte, dass dies für sie schwierig sei und dass sie darüber nachdenken müsse. Als ich ihr das zweite Mal meine Bitte vortrug, sagte sie mir, dass ihre Schwiegermutter es ihr verboten habe, außerhalb der ABP Menschen zu treffen.

    Schließlich kam es, nach Vorsichtsmaßnahmen, doch zu einem langen Gespräch zwischen ihr und mir in einem kleinen Café in der Inneren Stadt. Sie berichtete von ihrem Leben in Russland und von dem enormen und schwierigen Wechsel ihres Lebens durch ihre Heirat des Feldwebels und ihre Übersiedlung nach Wien. Ich glaubte zu fühlen, dass sie über ihre Entscheidung, einem vor kurzem noch fremden Mann voll und ganz in dessen Welt gefolgt zu sein, doch nicht eigentlich glücklich war. Dazu kam die Angst vor der Schwiegermutter, die Nina wie eine Gefangene beaufsichtigte. Nina suchte mir zu erklären, wie es ihr nur unter größten Vorsichtsmaßnahmen gelungen war, sich mit mir zu treffen. Ein ganzes Gebäude von Lügen hatte sie errichten müssen, um diese Zusammenkunft zu ermöglichen.

    Ich fragte mich schließlich selber, warum sie es getan hatte. Sie fühlte sich offensichtlich so alleingelassen, dass sie einen Menschen kurzfristig an sich heranließ, von dem sie glaubte, sich ihm gefahrlos mitteilen zu können. Und was an mir lag, so hätte ich ja alles getan, um ihr keine neue Last aufzuerlegen. Mich verwunderte allerdings Ninas so rasch gefasstes Vertrauen mir gegenüber.

    Ich unternahm alles in meiner Macht Stehende, um eine in mir sich entwickelnde, gleichsam natürliche Zuneigung ihr gegenüber zu verbergen. Aber sie musste diese Zuneigung, die ohne äußere Zeichen blieb, irgendwie gefühlt haben. Denn es kam doch immer wieder zu heimlichen Treffen in einem Park oder in einer der damaligen Stadtbahnstationen, mit kontrollierenden Blicken links und rechts, ob ihr nicht doch die Schwiegermutter bis hierher gefolgt war.

    Wir blieben unentdeckt. Aber was wäre denn zu entdecken gewesen? Es gab keine Zärtlichkeiten im öffentlichen Raum und auch sonst nirgendwo. Ein einziges Mal, kurz nachdem sie ihre Befindlichkeit durch ausbleibende Feldpostbriefe ihres Mannes, ihre volle eigene Ungewissheit über seine und ihre Zukunft und die quälende Neugier der Schwiegermutter wieder beschrieben hatte, verabschiedete [<<35||36>>] sie sich bei der Einfahrt des Zuges von mir. Da umarmte ich sie wortlos für einen Augenblick, um meine Anteilnahme und Zuneigung auszudrücken. Sie stieg in den Zug ein und

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