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Napoleon und die Schweiz
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eBook397 Seiten3 Stunden

Napoleon und die Schweiz

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Über dieses E-Book

Zwischen 1798 und 1815 stand auf Messers Schneide, ob die Schweiz wie Venedig, Polen und Hunderte deutsche Länder unwiederbringlich von der europäischen Landkarte verschwinden sollte. Napoleon wirkte 1798 wesentlich daran mit, dass Frankreich die Schweiz angriff und eroberte. Die darauffolgenden Phasen der Helvetik, der Mediation und des Wiener Kongresses prägten die Schweiz nachhaltig. Insbesondere als Napoleon 1803 die Mediation stiftete und mit der Gründung von sechs neuen Kantonen die bürgerkriegsähnlichen Zustände beendete, schuf er eine wichtige Grundlage der modernen Schweiz. Napoleon und die Schweiz ist die erste Gesamtdarstellung zu Napoleon Bonapartes Wirken in der Schweiz. Dabei erläutert der Historiker und Napoleon-Experte Thomas Schuler anschaulich die Ursachen und Folgen der «Franzosenzeit» für die Schweiz und deren Position in Europa. Er eröffnet einen neuen Blick auf Napoleon, indem er sich auf Archiv- und Literaturrecherchen und auf Besuche an einschlägi-gen Schauplätzen stützt – nicht nur in der Schweiz und in Deutschland, sondern auch an der weissrussischen Beresina, wo Schweizer Soldaten für Napoleon kämpften. So verknüpft Schuler die spannende Schilderung der Ereignisse zwischen 1789 und 1815 mit unserer Gegenwart und macht deutlich, wie bedeutend Napoleon für die Schweiz war und wie viel aus dieser Zeit bis heute wirksam ist.
SpracheDeutsch
HerausgeberNZZ Libro
Erscheinungsdatum28. Nov. 2022
ISBN9783907291863
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    Buchvorschau

    Napoleon und die Schweiz - Thomas Schuler

    «Die Geschichte wird entscheiden, ob es für den Frieden der Welt nicht besser gewesen wäre, wenn weder Rousseau noch ich je geboren worden wären.»¹

    Napoleon

    Thomas Schuler

    Napoleon

    und die Schweiz

    NZZ Libro

    Die Rechtschreibung der zeitgenössischen Quellen wurde einer besseren Lesbarkeit halber der heutigen Rechtschreibung angepasst.

    Der Autor und der Verlag danken herzlich:

    Gedruckt mit Unterstützung der ULRICO HOEPLI-STIFTUNG, ZÜRICH

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

    Der Text des E-Books folgt der gedruckten 1. Auflage 2022 (ISBN 978-3-907291-85-6)

    © 2022 NZZ Libro, Schwabe Verlagsgruppe AG, Basel

    Lektorat: Regula Walser, Zürich

    Korrektorat: Sandro Malär, Wädenswil

    Umschlag: Grafik Weiss GmbH, Freiburg i. B.

    Gestaltung, Satz: Claudia Wild, Konstanz

    Datenkonvertierung: CPI books GmbH, Leck

    Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werks oder von Teilen dieses Werks ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts.

    ISBN Druckausgabe 978-3-907291-85-6

    ISBN E-Book 978-3-907291-86-3

    www.nzz-libro.ch

    NZZ Libro ist ein Imprint der Schwabe Verlagsgruppe AG.

    Inhalt

    Vorwort

    Tuilerien, 10. August 1792

    Kapitel I

    Die Schweiz am Vorabend des Überfalls

    Kapitel II

    Der Goldraub von Bern

    Kapitel III

    Das Massaker von Stans

    Peter von Matt:

    Die Wahrheit und die Bajonette

    Kapitel IV

    Das russische Bajonett hat die Alpen durchbrochen

    Kapitel V

    Napoleon am Grossen St. Bernhard

    Kapitel VI

    Die Helvetik

    Kapitel VII

    Die Mediation

    Kapitel VIII

    Die Schweiz im Europa Napoleons

    Kapitel IX

    Beresina

    Kapitel X

    Basel als Schauplatz der Weltgeschichte

    Kapitel XI

    Die Neuverteilung Europas

    Kapitel XII

    Die Schweiz nach Napoleon

    Anmerkungen

    Abbildungsverzeichnis

    Literaturverzeichnis

    Vorwort

    «Ein Menschenleben reicht nicht aus, um alles, was über ‹Napoleon und die Schweiz› geschrieben wurde, zu lesen», sagte während eines Treffens in Bern Jürg Stüssi-Lauterburg zu mir. Hinzu kommt, dass allein über Napoleon mehr als eine Million Bücher geschrieben wurden, was die Frage nach dem Wesentlichen in dieser schieren Masse an Quellen und Literatur zu keiner einfachen macht.

    Fest steht, dass ohne den räuberischen französischen Überfall von 1798 die festgefahrenen Strukturen der Schweiz des Ancien Régime noch sehr lange nicht aufgebrochen worden wären. Durch die von Napoleon gestiftete Mediation von 1803 wurden die Grundlagen für die Entwicklung eines modernen, föderalistischen Staatswesens – ohne Untertanen – geschaffen. Im Jahr 1806 hätte Napoleon die Eidgenossenschaft um ein Haar an das verbündete Baden gegeben, die dann, wie Venedig und Hunderte deutscher Einzelstaaten, als eigenständiges Land unwiderruflich aufgehört hätte zu bestehen.

    Wegweisend für die aussenpolitische Zukunft der Schweiz war die auf dem Wiener Kongress von den Grossmächten auferlegte Neutralität, die in der langfristigen Konsequenz dazu führte, dass die Schweiz von den Stürmen zweier Weltkriege im 20. Jahrhundert nahezu unberührt blieb und zu dem kulturell vielfältigen und prosperierenden Land wurde, das sie heute ist.

    Neben der Darstellung dieser historisch dramatischen Ereignisse war es dem Autor ein Anliegen, einen tieferen Blick auf die Geschichte zu werfen im Sinne dessen, was die Schweizer Psychoanalytikerin und Mitarbeiterin von C. G. Jung, Marie-Louise von Franz, wie folgt formulierte:

    «Man könnte sagen, das was wir in der Schule als Geschichtsprozess lernen, das Kommen und Gehen von Kulturen und Nationen, die alle im Staub der Finsternis und im Todeswasser der Vergänglichkeit vergehen, dass darunter noch ein weiterer Strom des Geschehens ist. Ein allmählicher, ganz langsam sich über die Jahrhunderte erstreckender Bewusstwerdungsprozess der Menschheit. Und um den geht es.»

    Ob Marie-Louise von Franz damit dasselbe meinte, wozu Friedrich Schiller, der Autor des Wilhelm Tell, aufgefordert hatte, dass es bei der Beschäftigung mit Geschichte darum gehe, «sich als Mensch auszubilden», lässt sich nicht eindeutig sagen. Unumstritten aber ist, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft im menschlichen Geist immer im Jetzt stattfinden.

    Dafür, dass dieses Buch auf diese Weise geschrieben werden konnte, muss ich meinem Freund Matthias Hasenauer danken, der mich auf den Schutzheiligen der Schweiz, Niklaus von Flüe, aufmerksam gemacht hat. Herausfordernd stellte er sich immer dazwischen, wenn ich versucht war, Geschichte, und damit meine ich auch meine eigene, auf die einfache Aneinanderreihung von Fakten zu beschränken, anstatt dem Raum zu geben, was uns alle, die ganze Menschheit trägt. In gleicher Weise möchte ich meiner Frau Monika Natalie, meiner Mutter Elisabeth und meiner Schwiegermutter Eva danken, ohne deren enorme zeitliche und finanzielle Unterstützung die Entstehung dieses Buches nicht möglich gewesen wäre. Mein weiterer Dank gilt von Herzen Nikolaus Fürst Blücher von Wahlstatt, dem Schriftsteller Peter von Matt sowie den Schweizer Historikern Jürg Stüssi-Lauterburg, Christian Schweizer und Peter Steiner aus Stans, die mir über manchen Alpenpass geholfen haben.

    Tuilerien, 10. August 1792

    Abb

    Abb. 1: Der Sturm auf die Tuilerien von Jean Duplessis-Bertaux, Öl auf Leinwand, 1793. Das Werk entstand bereits wenige Monate nach dem blutigen Geschehen im August 1792. Napoleon war als 22-jähriger, unbekannter Offizier zufällig Augenzeuge des Massakers.

    Schweissnass standen die rotuniformierten Schweizer Leibgardisten auf den Steintreppen der Tuilerien und feuerten auf den fanatisch anstürmenden Pöbel.² Schwere Kanonen donnerten auf den prächtigen, unter Katharina von Medici erbauten Königspalast, Fenster zerbarsten, schwarze Rauchschwaden drangen hervor. Danton hatte 80 000 Patronen unter den Angreifern austeilen lassen, die zusätzlich zu ihren Gewehren mit Piken, Äxten, Messern und Bratspiessen bewaffnet waren. Die 700 tapferen Schweizer Gardisten³ verteidigten die Tuilerien, ihrem Eid getreu, Saal für Saal. Als einigen Dutzend von ihnen in den oberen Stockwerken die Munition ausging, wurden sie ergriffen und lebendig aus den Fenstern geworfen.⁴

    Da sich der französische König Ludwig XVI. in den Schutz der Nationalversammlung begeben hatte, verteidigten die Schweizer ein leeres Gebäude und starben für ein steinernes Symbol der dem Untergang geweihten Königsherrschaft. Ein Symbol, das der König aber gar nicht verteidigt sehen wollte. Als der Kanonendonner zur Nationalversammlung herüberdrang, unterzeichnete er ängstlich einen Befehl, der die Garde zur sofortigen Einstellung aller Kampfhandlungen und zum Rückzug in die Kasernen aufforderte. Ohne es zu ahnen, hatte Ludwig XVI. damit das Todesurteil seiner Garde unterschrieben.

    Der Befehl erreichte die Offiziere an der östlichen Seite der Tuilerien nahe des Louvre. Obwohl 200 Mann das Feuer unverzüglich einstellten, wurden sie von den Angreifern weiter beschossen und zum Teil an Ort und Stelle massakriert. Da der Befehl nicht auf die andere Seite der Tuilerien vorgedrungen war, wurde der Kampf um Leben und Tod dort fortgesetzt. In den königlichen Gärten erlagen die Schweizer der tausendfachen Übermacht, wurden mit Knüppeln erschlagen, niedergestochen oder erschossen. In einem kollektiven Blutrausch wurden ihre Leichen in Stücke gehauen, die abgehackten Köpfe und Körperteile auf Piken gesteckt und wie Trophäen durch die Strassen getragen. Ein junger Artillerieleutnant in Zivil, der in diesen Augenblicken über die Rue des Petits Champs in Richtung der Tuilerien unterwegs war, berichtete, wie ihm «ein Haufen zerlumpter Kerle entgegen [kam], die einen auf eine Spitze aufgespiessten Kopf vor sich hertrugen. Da sie mich einigermassen anständig gekleidet sahen und wohl einen Herrn in mir vermuteten, kamen sie auf mich zu, um mich ‹Vive la Nation› rufen zu lassen. Wie man sich denken kann, fiel mir das nicht schwer.»

    Der Augenzeuge war der zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannte Napoleon Bonaparte. Nach dem Massaker wagte sich der 22-Jährige in die verwüsteten Gärten der Tuilerien, wo die verstümmelten und enthaupteten Leichen Hunderter Schweizer Gardisten ein Bild des Grauens boten.

    «Niemals», erinnerte sich Napoleon, «hat mir später eins meiner Schlachtfelder auch nur annähernd den Eindruck so vieler Leichen gemacht, wie es mir hier bei der Menge toter Schweizer der Fall zu sein schien.»

    Kapitel I

    Die Schweiz am Vorabend des Überfalls

    «Von freien Vätern erzeugt, sollen wir freie Söhne sein.»

    Stäfner Memorial, 1794

    Die Schweiz des Ancien Régime

    Die Heimat der beim Tuileriensturm in Paris niedergemetzelten Schweizer Garden war ein loser Staatenbund aus 13 Kantonen.⁸ Im Ausland wurde das Geburtsland von Wilhelm Tell oft als romantisch verklärter Hort der Freiheit wahrgenommen. In Wirklichkeit wurden die insgesamt 1,6 Millionen Schweizer von kleinen Oberschichten regiert und war Freiheit die Teilhabe weniger an der Herrschaft über viele Unfreie. Geistige Grundlage dieses Gesellschaftssystems bildete, wie im übrigen Europa, die von Menschen geschaffene Idee einer «gottgewollten Ordnung». An oberster Stelle stand die Geistlichkeit. Was die Bischöfe, Priester und Pfarrer von den Kanzeln predigten, das bestimmte weitgehend, was die Menschen dachten und taten. Neben der geistlichen Macht waren die beiden grossen Kirchen aber auch Inhaber erheblichen weltlichen Besitzes.

    Beim zweiten Stand der weltlichen Macht gab es in einzelnen Kantonen starke Unterschiede. Während in den Städten Bern, Luzern, Solothurn und Freiburg ein elitärer Kreis von Patrizierfamilien das politische Zepter fest in den Händen hielt,⁹ regierten in Basel, Schaffhausen und Zürich die Zünfte. Auch in den Landkantonen Appenzell, Glarus, Schwyz, Unterwalden und Uri war das politische Geschehen von wenigen Familien beherrscht. Auf der untersten Stufe der sozialen Leiter standen die Bewohner der Untertanengebiete.¹⁰

    Da die «gottgewollte Ordnung» den ersten beiden Ständen ein Leben mit erheblichen Privilegien ermöglichte, hatten sie an der Aufrechterhaltung des Systems das grösste Interesse. Als es in den Jahrzehnten vor der Französischen Revolution in fast jedem Kanton zu Aufständen kam, wurden diese allesamt brutal niedergeschlagen und endeten zumeist mit Hinrichtungen.¹¹ In Zürich beispielsweise wurde 1780 der Pfarrer Johann Heinrich Waser öffentlich enthauptet, nur weil er Unterlagen, die Vetternwirtschaft belegten, weitergegeben hatte. Im restlichen Europa wurde die Hinrichtung des 38-jährigen Pfarrers zu Recht als Justizskandal wahrgenommen. Auch wenn es den Obrigkeiten mit Gewalt noch lange gelang, die Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten, so zeigten die Ereignisse klar, dass zahlreiche Schweizer mit den herrschenden Zuständen unzufrieden waren.

    Abb

    Abb. 2: Die Struktur der Eidgenossenschaft im 18. Jahrhundert

    Im 18. Jahrhundert liess vor allem die Geistesbewegung der Aufklärung die Zustimmung zu dieser «gottgewollten Ordnung» zusehends bröckeln. Einer ihrer wichtigsten Vertreter war der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau. In seinem 1762 erschienenen Werk Der Gesellschaftsvertrag schrieb er: «Da[ss] kein Mensch von Natur aus Herrschaft über seinesgleichen ausübt und Stärke keinerlei Recht erzeugt (…).»¹²

    Der Genfer entwarf die grossartige Vision, dass alle Menschen von Natur aus frei seien und daher zwischen ihnen eine natürliche politische und rechtliche Gleichheit bestehe. Einzig und allein dem Gemeinwillen stehe es zu, Gesetze zu erlassen; alle politische Macht müsse mit dem Ziel des Wohles aller vom Volk ausgehen. Da diese revolutionäre These die «gottgewollte Ordnung» und somit die herrschenden Eliten infrage stellte, wurde Rousseaus Werk in Frankreich, den Niederlanden, in Genf und Bern augenblicklich verboten. In Genf erschien es den Machthabern gar so gefährlich, dass es durch den Henker öffentlich verbrannt wurde (!).¹³ Rousseau musste, um der Verhaftung zu entgehen, über das Waadtland nach Neuenburg fliehen, von wo aus er in seinen Briefen aus den Bergen das Vorgehen der Bücherverbrennung kritisierte.

    Als Napoleon im August 1800 in Ermenonville das leere Grab Rousseaus besuchte, dessen Leichnam 1794 triumphal in den Pariser Invalidendom überführt worden war, sagte er zum Eigentümer des Anwesens, Graf Cécile Stanislas Xavier de Girardin: «Es wäre für den Frieden Frankreichs besser gewesen, wenn dieser Mensch nie existiert hätte.» De Girardin erwiderte: «Warum sagen Sie das, Bürger Konsul? Er hat der Französischen Revolution den Weg geebnet.» Als der Graf weiter ausführte, dass diese ihm doch nur zum Vorteil gereicht habe, sagte Napoleon: «Die Geschichte wird entscheiden, ob es für den Frieden der Welt nicht besser gewesen wäre, wenn weder Rousseau noch ich je geboren worden wären.»

    Der Nachbar des Vesuv

    Als der französische König Ludwig XVI. für das Jahr 1789 die Generalstände einberief, um einen Ausweg aus der katastrophalen Finanzlage zu finden, ahnte er nicht, dass dies eine Jahrtausendzäsur auslösen sollte. Als sich der dritte Stand zur alleinigen Nationalversammlung erklärte und die Feudalrechte und die Leibeigenschaft abschaffte, wurde in einem der mächtigsten Länder Europas die «gottgewollte Ordnung» zur Geschichte. Am 26. August 1789 rief die Nationalversammlung die Menschenrechte aus, womit sich manifestierte, was Rousseau gefordert hatte: die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz, mit Ausnahme der Frauen. Wie eine nicht aufzuhaltende Sturzflut brandeten die Ideen der Französischen Revolution über die Grenzen; ein Umstand, der einen österreichischen Diplomaten 1797 gegenüber einem eidgenössischen Gesandten zu der Äusserung veranlasste, die Schweiz sei der «Nachbar des Vesuv».¹⁴ In der Eidgenossenschaft verstärkte der Einfluss der Französischen Revolution die ohnehin bereits vorhandenen Spannungen, auch in den Eliten.¹⁵

    Die bahnbrechenden Ereignisse im Nachbarland wurden in allen Gesellschaftsschichten der Eidgenossenschaft kontrovers diskutiert und fanden lebhafte Resonanz in Salon- und Freimaurergesprächen, in Zeitungen und Pamphleten. Grundlegend war, dass es diesmal Mitglieder in den einzelnen Kantonsregierungen gab, die die Reformen durchaus befürworteten.¹⁶

    Als liberal gesinnte Bürger in der Waadt und in Genf am 14. Juli 1791 den Jahrestag des Sturms auf die Bastille feierten,¹⁷ schickte die Berner Patrizierregierung 2400 Soldaten in die Rhonestadt. In Stäfa forderten 1794 Reformwillige unter Berufung auf urkundlich verbriefte Rechte eine Verfassung, die rechtliche Gleichstellung von Stadt- und Landbewohnern sowie die Aufhebung der Feudallasten. In einem Memorandum verkündeten die Verfasser:

    «Von freien Vätern erzeugt, sollen wir freie Söhne sein. Dafür redet die Geschichte, dafür zeugen die Urkunden, (…) als solche respektiert uns jene Nation, die gegenwärtig auf dem politischen Schauplatz die Rolle im Grossen spielt, die (…) unsere Väter im Kleinen spielten.»¹⁸

    Auch Zürich schickte Soldaten nach Stäfa, liess die Wortführer festnehmen und unter Folter verhören. Nur der Einspruch berühmter Männer wie des Pädagogen Johann Heinrich Pestalozzi verhinderte die Vollstreckung der Todesurteile und bewirkte deren Umwandlung in lebenslange Haftstrafen.¹⁹ Als Machtdemonstration wurde die Hinrichtung allerdings durch Heben und Senken des Henkerschwerts über dem Haupt des Textilfabrikanten Johann Jakob Bodmer symbolisch vollzogen.²⁰ Als zusätzliche Strafe liess der Zürcher Rat in Stäfa den Brotverkauf und die Armenunterstützung verbieten.

    Unter den Reformwilligen führten die bitteren Erfahrungen, die in der zeitgenössischen Publizistik grossen Niederschlag fanden, zu einer geistigen Radikalisierung und zur Überzeugung, dass Veränderungen mit friedlichen Mitteln nicht zu erreichen waren.²¹ Paul Usteri, der spätere Leiter der Neuen Zürcher Zeitung, konstatierte, dass es «moralisch unmöglich [sei], dass von unseren bestehenden Regierungen aus vernünftige und nötige Reformationen ausgehen».²²

    Krieg

    Frankreich erklärte Österreich am 20. April 1792 den Krieg. Das Habsburgerreich, das dem revolutionären Land zuvor gedroht hatte, verbündete sich daraufhin mit halb Europa, insbesondere mit Preussen, zur I. Koalition; 1793 wurde vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zusätzlich der Reichskrieg ausgerufen. Nach Ausbruch der Feindseligkeiten besetzten französische Truppen die nördlichen, zu Österreich gehörenden Gebiete des Fürstbistums Basel. Als eine eilig einberufene Tagsatzung in Frauenfeld (14.–30. Mai 1792) feierlich die Neutralität der Schweiz erklärte, wurde diese zunächst von beiden Konfliktparteien respektiert.²³ Die Armeen der I. Koalition sammelten sich im Rheinland zum Angriff auf Frankreich. In Koblenz erliess der Herzog von Braunschweig als Oberbefehlshaber der Alliierten am 25. Juli 1792 einen Aufruf an die Pariser Bevölkerung und drohte «eine beispiellose und für alle Zeiten denkwürdige Rache» an, falls der französischen Königsfamilie Gewalt angetan werde.²⁴ Der in einer Pariser Zeitung veröffentlichte Aufruf war Öl in das Feuer eines archaischen Hexenkessels. Den Revolutionären galt die ausländische Einmischung als Beweis, dass Ludwig XVI. mit den feindlichen Mächten gemeinsame Sache machte. Eine unheilvolle Kettenreaktion löste das Massaker an den Schweizer Garden beim Tuileriensturm aus und führte am 22. September 1792 zur Abschaffung des Königtums. Ludwig XVI. und seine Familie wurden im Temple eingekerkert und Frankreich wurde zur Republik erklärt. Ein Revolutionstribunal verurteilte die 246 beim Tuileriensturm gefangenen Schweizer Gardisten zum Tod und die Erste Französische Republik beging ihre Taufe mit dem Blut von Unschuldigen: In einem kollektiven Gewaltausbruch wurden die Gardisten zusammen mit anderen Gefangenen in den Gefängnissen brutal umgebracht. Die willkürliche Ermordung der Landsleute löste in der Schweiz blankes Entsetzen und Fassungslosigkeit aus. «Ich weiss kein Beispiel in der Geschichte», sagte der Zürcher Pfarrer und Philosoph Johann Caspar Lavater bei einer Predigt in der St. Peterskirche im Oktober 1792, «wo mit so satanischer Kaltblütigkeit leidenschaftlicher und regelloser gegräuelt worden sei, als in diesen Tagen in Paris gegräuelt wird.»²⁵ Dessen ungeachtet erklärte eine ausserordentlich einberufene Tagsatzung in Aarau neuerlich die Neutralität. Die vielfach zu findende Angabe, ein Antrag zum Eintritt der Schweiz in den Krieg sei vonseiten Berns gestellt worden, gehört in das Reich der französischen Propaganda.²⁶

    In Paris nahmen indessen unerbittlich die Ereignisse ihren Lauf, die die Schweizer Garden nicht hatten verhindern können.

    König und Schweizer in einem Grab

    Langsam rollte am Morgen des 21. Januar 1793 die Kutsche mit Ludwig XVI. über das Kopfsteinpflaster der von 20 000 Menschen gesäumten Place de la Révolution. Der König bestieg von Henkersknechten begleitet die Treppen der tiefrot gestrichenen Guillotine.²⁷ An das Volk gewandt sagte er: «Volk! Ich sterbe unschuldig! Ich vergebe denen, die meinen Tod herbeigeführt haben …»²⁸

    Trommelwirbel der Nationalgarde setzte ein und übertönte die weiteren Worte. Der todgeweihte Monarch wurde auf dem Rücken gefesselt, auf der horizontal kippbaren Vorrichtung festgezurrt und sein Nacken zwischen den beiden halbkreisförmigen Holzbrettern eingekeilt. Mit ruhiger Hand löste der Henker Charles-Henri Sanson den Hebel der Guillotine, die mit tödlicher Präzision senkrecht herabsauste und in Bruchteilen von Sekunden den Kopf vom Rumpf trennte.²⁹ Als ein Henkersgehilfe das bluttriefende Haupt aus dem Korb zog und es dem Volk entgegenhielt, erscholl über den weiträumigen Platz der zehntausendfache Ruf: «Vive la Nation! (…) Vive la République!»³⁰

    Ein Bürger tauchte seine Hand in das Blut des Königs und sprenkelte es wie Weihwasser über die Köpfe der Menge.³¹ Im Blutrausch patriotischer Gefühle begann ein euphorisches Volksfest mit Gesang und Tanz, wobei die rote Lache unter der Guillotine zum Gegenstand kultähnlicher Handlungen wurde. Männer tauchten ihre Säbel in das Blut oder rieben es sich in die Schnurrbärte. Frauen «wollten Königsblut auf ihren Fingern (…), einige füllten die Scheiden damit (…). Die Kleider des Delinquenten wurden in die ersinnlich kleinsten Fetzen geteilt, die Haare des Catogans³² büschelweise und sehr teuer verkauft».³³

    Anschliessend wurde der Leichnam des Geköpften zum nahe gelegenen Friedhof Madeleine gebracht und in das 12 Fuss tiefe Massengrab seiner massakrierten Schweizer Garde geworfen.

    Napoleon und Rousseau

    Der junge Artillerieoffizier Napoleon studierte die erschütternden Ereignisse seiner Zeit gründlich. Am Tag der Hinrichtung von König Ludwig XVI. hielt er sich in Korsika auf³⁴ und notierte in seinen später erscheinenden Memoiren, in denen er über sich selbst stets in der 3. Person schrieb: «Eingehend beschäftige er sich mit der Geschichte der französischen Monarchie, um die Ursachen kennenzulernen, die den Sturz des Königtums herbeigeführt hatten. Die damals erschienenen Sammlungen geheimer Memoiren über die Regierung Ludwigs XIV. und Ludwigs XV. (…), wurden von dem Oberleutnant ebenso gründlich studiert und exzerpiert wie die Reise des Engländers Cox durch die Schweiz.»³⁵

    Tatsächlich war Napoleon Bonaparte bereits als Schüler an der Militärschule hochbelesen,³⁶ wobei sein besonderes Interesse antiken Tragödien, klassischen Dramen und der Geschichte galt. Schwärmerische Bewunderung hegte der Offiziersanwärter für Alexander den Grossen, Julius Cäsar und Jean-Jacques Rousseau. Diese Verehrung reichte so weit, dass er 1791 eine Dissertation über Rousseau verfasste, die dann unbeachtet im Archiv der Lyoner Akademie verstaubte. Nachdem Napoleon Augenzeuge des Massakers an den Schweizer Gardisten beim Tuileriensturm geworden war und 16 500 Menschen während der Schreckensherrschaft teilweise willkürlich guillotiniert worden waren, verwandelte sich seine «unbedingte Vergötterung Rousseaus in kritisches Studium». In seinen Memoiren liest dies sich wie folgt: «Im allgemeinen huldigte er auch jetzt noch den Idealen des Genfer Philosophen, doch suchte er die allzu extremen Theorien des Naturapostels auf eine realere, praktisch leichter zu verwirklichende Formel zu bringen.»³⁷

    Jahre später, als Napoleon zum mächtigsten Mann Europas aufstiegen war, legte ihm der französische Aussenminister Charles-Maurice de Talleyrand eines Tages überraschend das vergilbte Heft mit seiner Dissertation auf den Tisch. Der Kaiser nahm das Manuskript und warf es, ohne dass der intrigante Minister es hätte verhindern können, in den offenen Kamin mit den Worten: «Ah, das ist nur eine Schülerarbeit.» Der entsetzte Talleyrand versuchte das Werk dem Feuer zu entreissen, «ausser sich, dass er nicht vorher eine Abschrift hatte anfertigen lassen». Später erzählte Napoleon auf St. Helena seinem englischen Arzt Barry O’Meara über den Vorfall: «Ich aber war recht froh, weil die Abhandlung voll republikanischer Ideen war und einen überspannten Drang nach Freiheit verriet, der durch die lebhafte Philosophie noch verstärkt wurde. Die Stimmung der Zeit hatte mich allzu sehr begeistert; was in dem Aufsatz gesagt war, passte aber nicht für die Praxis.»³⁸

    Abb

    Abb. 3: Jean-Jacques Rousseau (1712 – 1778) von Allan Ramsay, Öl auf Leinwand, 1766. Rousseau übte mit seiner Philosophie grossen Einfluss auf Napoleon aus.

    Abb

    Abb. 4: Napoleon in seinem Arbeitszimmer von Paul Delaroche, Öl auf Leinwand, 1838. Napoleon war als junger Offizier ein grosser Bewunderer Rousseaus.

    Der Sonderfrieden von

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