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Die Revolte: Jacques Vingtras, Band 3
Die Revolte: Jacques Vingtras, Band 3
Die Revolte: Jacques Vingtras, Band 3
eBook349 Seiten4 Stunden

Die Revolte: Jacques Vingtras, Band 3

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Über dieses E-Book

Im dritten Band von Jacques Vingtras kommt es zum dramatischen Höhepunkt, sowohl im Leben unseres Romanhelden als auch im Frankreich des ausgehenden 19. Jahrhunderts:
Sein Leben lang hat Vingtras darauf gewartet, dass das Volk sich endlich an den bürgerlichen Unterdrückern rächt. Nun kommt es nach heftigen Unruhen zur Errichtung der Pariser Kommune von 1871, und wir erfahren von der Armee von Versailles, einer von Adolphe Thiers organisierten bewaffneten Einheit, die in Paris einmarschiert, vom Barrikadenkrieg, von den Querelen einer Volksregierung, in der Vingtras zu einem der einflussreichen Mitglieder aufsteigen wird, von der »Blutigen Maiwoche«, von zahlreichen Bränden und von Massakern an Geiseln. Und obwohl er glaubt, verloren zu sein, wird es Vingtras am Ende gelingen, dem Tod zu entkommen. Wie auch der Autor dieser nun endlich wieder vollständig vorliegenden Trilogie, Jules Vallès. Sein literarisches Werk machte ihn schlagartig zu einem der meistgelesenen Autoren Frankreichs.
SpracheDeutsch
HerausgeberMÄRZ Verlag
Erscheinungsdatum28. März 2023
ISBN9783755050216
Die Revolte: Jacques Vingtras, Band 3
Autor

Jules Vallès

Jules Vallès 1832 in Le Puy-en-Velay geboren, war Journalist, Romanschriftsteller sowie Sozial- und Literaturkritiker. Nach der Belagerung von Paris wurde er zum Mitglied der Pariser Kommune gewählt. 1871 ging er ins Exil nach London, um einem wegen der Teilnahme an den Aufständen ausgesprochenen Todesurteil zu entgehen. Als 1880 eine Amnestie erlassen wird, kehrt er zurück nach Paris und widmet sich vornehmlich seiner literarischen Arbeit. Als er fünf Jahre später stirbt, begleiten mehrere tausend Menschen den Leichenzug zum Friedhof.

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    Buchvorschau

    Die Revolte - Jules Vallès

    I

    Vielleicht bin ich wirklich ein Feigling, wie die Rotkappen und die Schwarzfüße unter dem Odéon gesagt haben! Jetzt bin ich seit Wochen Hilfslehrer und empfinde weder Kummer noch Schmerz. Ich bin nicht verärgert und schäme mich nicht.

    Im Gymnasium habe ich die Trockenbohnen¹ beleidigt; hier sind die Bohnen offensichtlich besser, denn ich verschlinge ganze Schüsseln voll, lecke und schlecke den Teller ab.

    In die vollkommene Stille des Refektoriums habe ich neulich, wie einst bei Richefeu, gerufen:

    »Kellner, noch eine Portion!«

    Alle haben sich umgedreht und gelacht.

    Ich habe auch gelacht – ich lege mir die Unbekümmertheit von Galeerensträflingen zu, den Zynismus von Gefangenen, ich richte mich in meinem Zuchthaus ein und tränke mein Herz mit einem Glas dünnen Weins – ich fange an, meinen Trog zu lieben!

    Wie lange habe ich gehungert!

    Ich habe mir so oft die Seiten gehalten, um den Hunger abzuwürgen, der in meinen Eingeweiden rumorte und nagte.

    Ich habe mir so viele Male den Bauch gerieben, ohne dass es auch nur einen Hoffnungsschimmer auf ein Abendessen gegeben hätte, dass ich jetzt meine ausgetrockneten Gedärme mit warmer Sauce schmiere, einem Bären gleich, der sich wollüstig unter Weintrauben räkelt.

    Es ist fast so genussvoll wie eine heilende Wunde, die noch juckt.

    Sicher ist, dass ich keine grünliche Haut und keine hohlen Augen mehr habe; oft hängt mir Ei im Bart.

    Früher habe ich diesen Bart nicht gekämmt; meine Finger haben ihn durchwühlt und zerrupft, während ich über meine Ohnmacht und mein Elend nachdachte.

    Heute striegle und bürste ich ihn … ebenso meinen Haarschopf, und vergangenen Sonntag, als ich vor dem Spiegel die letzten Hüllen fallen ließ, habe ich mit verhaltenem Stolz meinen kleinen Schmerbauch betrachtet.

    Mein Vater war mannhafter, ich erinnere mich an den funkelnden Hass in seinen Augen, als er Studienaufseher war, obwohl er nicht Revolution spielte, nicht die Zeiten des Aufruhrs erlebt, nicht zu den Waffen gerufen hatte, nicht durch Aufstand und Duell geschult war!

    So weit ist es mit mir gekommen – in diesem Gymnasium habe ich die Ruhe eines Asyls, mein Armenbrot, meine Spitalsration gefunden.

    Einer von den Alten aus Farreyrolles, der Waterloo mitgemacht hatte, erzählte an Feierabenden, dass er am Abend der Schlacht, noch bevor sie beendet war, an einem Wirtshaus gleich hinter den heiligen Stellungen vorbeikam, sich über einen Holztisch fallen ließ, sein Gewehr wegwarf und sich weigerte weiterzugehen.

    Der Oberst beschimpfte ihn als Feigling.

    »Wenn Sie wollen, bin ich ein Feigling! Ich kenne keinen lieben Gott und keinen Kaiser mehr … Ich habe Durst und Hunger!«

    Und er hat seinem Leben im Speiseschrank des Wirtshauses nachgejagt, inmitten von Leichen; niemals hat er, wie er sagte, besser gespeist, das Fleisch war köstlich, der Wein frisch. Dann hat er sich ausgestreckt, sein Ranzen war die Schlummerrolle, und beim Donnern der Kanonen hat er donnernd geschnarcht.

    Mein Geist schläft fern von Kampf und Getöse ein; die Erinnerung an die Vergangenheit hallt in meinem Herzen nur noch nach wie im Ohr des Flüchtlings der Trommelwirbel, der sich allmählich entfernt und dann stirbt.

    Möbliertes Freiwild, das Jahre hindurch gezwungen war, das erstbeste Loch zum Schlafplatz zu nehmen und aus Angst vor Schlaflosigkeit oder der Wirtin nur zu dunkler Stunde hineinzukriechen; ein vom Land Entlaufener, der mehr Luft brauchte als andere, aber in den Hinterhöfen der Hotels nur üble Ausdünstungen einzuatmen bekam; ein Ausgehungerter, der sich nie satt aß, aber Heißhunger und Wolfszähne hatte – so sieht der Bursche aus, der sich eines Morgens vor Brot und Bett wiederfindet, vor einem sauberen Tischtuch, einem Schlaf ohne Wanzen, einem Erwachen ohne Gläubiger.

    Und Vingtras der Wilde hat keine Wut mehr im Herzen, dafür die Nase im Teller, eine Serviette mit Serviettenring und ein schönes Besteck aus Neusilber.

    Er sagt dir sogar das Benedictus her wie jedermann, mit gehörig demütiger Miene, an der die Autoritäten keinen Anstoß nehmen.

    Nach der Mahlzeit dankt er Gott (immer lateinisch), lässt die eine Hand auf den Rücken gleiten und eine Westenschnalle lockern, macht vorn einen Knopf auf und schlägt seinen Gehrock darüber zusammen – er hat ihn aus dem Schrank des Toten geholt und für sich zurechtschneidern lassen, ganz der Papa. Mit vollen Eingeweiden und fetten Lippen schlägt er dann mit der Klasse, die er leitet, den Weg zum Hof der Großen ein, von dem man wie von einer Schlossterrasse weit übers Land blickt.

    Von dieser Höhe kommt mir der Himmel zu gewissen Stunden wie ein zartes Seidenkleid vor, streichelt die Brise mir den Hals wie mit einem Flügelschlag.

    Ich habe nie zuvor so viel Sanftheit und Heiterkeit erlebt.

    Abends

    Das kleine Zimmer am Ende des Schlafsaals, wo die Studienaufseher in ihrer Freizeit arbeiten oder träumen können, geht auf Bäume und eine von Flüssen zerschnittene Landschaft hinaus.

    Mit dem Atem des Windes weht ein Geruch von Meer heran, der mir die Lippen salzt, die Augen erfrischt, das Herz besänftigt. Unter dem Ansturm meiner Gedanken zuckt dieses Herz nur wie der Fenstervorhang unter einem stärkeren Lufthauch.

    Ich vergesse meinen Beruf, ich vergesse die Lausejungs, die ich hüte … ich vergesse Kummer und Revolte.

    Ich drehe den Kopf nicht in die Richtung, wo Paris tobt, ich suche nicht am Horizont nach den rauchenden Stellen, wo sich wahrscheinlich das Schlachtfeld befindet – dort ganz hinten habe ich einen Weidenstrauch entdeckt und einen Obstgarten in voller Blüte, ich starre sie mit feuchtem Blick an, finde sie süßer.

    Ja, die vom Odéon hatten recht: Verdammter Feigling! Wenn ich aus dem Gymnasium trete, bin ich in stillen, verschlafenen Gassen, und mit hundert Schritten bin ich bei einem Flüsschen, an dem ich entlangschlendere, ohne viel zu denken, dösend verfolge ich Zweige und Grasbüschel, die die Strömung mit sich führt, zu unbekannten Abenteuern.

    Am Ende des Weges ist eine Gastwirtschaft mit einem Kranz von Äpfeln im Schild; für ein paar Sous trinke ich Cidre, der wunderschön golden ist und mir in den Kopf steigt.

    O ja! Verdammter Feigling!

    Man macht es mir aber auch nicht leicht …

    Ein bürgerlicher Zufall hat es so gefügt, dass dieses Gymnasium voller Licht und Luft ist; ein ehemaliges Kloster mit großen Gärten und großen Fenstern. Breit fällt das Licht in den Speisesaal und wenn die Fenster geöffnet sind, kommt das Rauschen der Blätter herein, und das Beben der vom Herbstrost schon mit warmer Bronze oder Kupfer überzogenen Natur.

    Bei den Gymnasiasten habe ich keinen Anstoß erregt, sie sind gewohnt, von Neulingen überwacht zu werden, die eben erst von der Schulbank aufgestanden sind, oder von alten, verknöcherten Hilfslehrern, dümmer als Stubenfeldwebel.

    Sie haben mich empfangen wie einen irregulären Offizier in Not, den der Tod des Vaters – eines regulären Haudegens – zufällig einberufen hat; im Übrigen umgibt mich der Nimbus des Parisers. Das genügt, damit diese Schar jugendlicher Gefangener mich nicht hasst.

    Auch meine Kollegen finden mich ganz in Ordnung, wenn auch zu nüchtern, da sie selbst ihre freien Stunden in ein kleines dunkles feuchtes Café einsperren, wo sie mit Biertrinken, Branntweinschlürfen, Pfeifeschmauchen ihre Zeit totschlagen.

    Ich trinke nicht und rauche nicht.

    Die Zeit, die mir gehört, verbringe ich am Ofen in meinem Studiensaal mit einem Buch in der Hand oder auch in der Philosophieklasse mit einem Heft auf den Knien. Der Lehrer ist der Schwiegersohn vom Direktor persönlich, und es schmeichelt ihm, wenn der großspurige Pariser mit dem schwarzen Bart wie ein Schüler auf einer Bank Platz nimmt und seiner Rede von den Fähigkeiten der Seele lauscht. Beim Bakkalaureat haben sie mir übel mitgespielt, bei der Promotion dürfen sie mich nicht wieder aufs Kreuz legen. Ich muss unbedingt wissen, wie viele man im Calvados nachzählen kann: sechs, sieben, acht … oder mehr, oder weniger!

    Und ich besuche den Unterricht regelmäßig, um über die Philosophie der Gegend auf dem Laufenden zu sein.

    15. Oktober

    Heute ist Vorlesungsbeginn in der philosophischen Fakultät, die Eröffnungsrede wird der Geschichtsprofessor halten.

    Aber den Professor, den habe ich doch schon gesehen!

    Er kam als Absolvent der École Normale ins Gymnasium Bonaparte und hielt die Rhetorikkurse ab, als ich Rhetorik belegt hatte. Das war 1849 – damals sprach er bei Gott kühn und revolutionär. Ich erinnere mich sogar, dass er mit Anatoly, dessen Bruder er kannte, ins Café ging und dass er den Kopf hob, als er mich am Nebentisch, wo wir diskutierten, auf Béranger schimpfen hörte.

    Er hatte mich bemerkt, ohne meinen Namen zu behalten; aber er erinnerte sich an die Situation, und als ich ihn beim Verlassen der Vorlesung ansprach, erkannte er mich sofort.

    »Und wie geht es Ihnen? Ich habe gehört, man hätte Sie deportiert, oder Sie wären im Duell umgekommen.«

    Ich gestehe ihm, wie sehr ich hier in allem untergegangen bin, in mein Geschick ergeben, froh über die Ordnung, zufrieden, dass ich lebe, die Hand am Korkenzieher über der Cidreflasche oder am Löffel voll Trockenbohnen, die Augen auf der Strömung des Flusses.

    »Teufel, Teufel!«, hat er gesagt, wie ein Arzt, der böse Dinge hört. »Besuchen Sie mich doch, dann können wir plaudern. Es würde mich freuen, ab und zu aus diesem Milieu von Dummköpfen und Halunken herauszukommen!«

    Mit einer Handbewegung wies er auf die Gruppe der Honoratioren und seiner Kollegen.

    Er, ein honorabler Geschichtsprofessor, spricht so!

    Ah! Warum ist er mir über den Weg gelaufen!

    Ich lebte ruhig, ich ruhte mich wunderbar aus; er hat mir wieder Feuer unterm Hintern gemacht, und wenn ich sonntags beim Nachtisch eine Schnalle aufmache und mich gegen Gefühle wappne, schüttelt er mich:

    »Sie wenigstens werden nicht zum Bürger werden und Fett ansetzen! Lieber sollen Sie mich wegen meines Verdienstkreuzes vom Juni beleidigen.«

    Ich habe ihn tatsächlich beim ersten Mal, als ich zu ihm ging, wegen der Dekoration beleidigt und bin dann zur Tür gegangen.

    Er hat mich zurückgehalten.

    »Ich war zwanzig Jahre … ich war mit dem ganzen Haufen von der École Normale zusammen … Ich hatte keine Ahnung von der Bedeutung des Aufstands und habe mich auf Cavaignacs Seite geschlagen, den ich für einen Republikaner hielt, und als Erster bin ich ins Pantheon eingedrungen, wo die Arbeiter sich verbarrikadiert hatten. Sie haben mich mit der Nachricht in die Kammer geschickt, und dort haben Sie mir Ihr Band ins Knopfloch geflochten. Aber ich schwöre Ihnen, weit davon entfernt, jemanden zu töten, habe ich mehreren Mitkämpfern unter eigener Lebensgefahr das Leben gerettet. Kommen Sie, bleiben Sie da! Sie wissen doch selbst, wie man sich ändern kann, da Sie gestehen, dass Sie nicht mehr derselbe sind …«

    Er hat mir die Hand hingestreckt, ich habe sie genommen, und wir waren Freunde.

    Ich wurde auch der Günstling seines weißhaarigen Kollegen, des Vaters Machar, der sich in der Provinz vergraben hat, nachdem sein Ruhm in Paris erloschen war.

    »Welcher von Ihnen ist Vingtras?«, hat er die Studienaufseher gefragt, die sich zur zweiten Vorlesung des Jahres versammelt hatten.

    Ich trete aus der Gruppe.

    »Wo kommen Sie her? Wo sind Sie zur Schule gegangen? … Da unten? Ich hätte gewettet, dass Sie sie zumindest abgeschlossen haben!«

    Und er ließ mich meine Abhandlung, meine Schulaufgabe, laut vorlesen.

    »Sie sind ein Schriftsteller, Herr Vingtras!«

    Ohne Vorwarnung hat er mir das an den Kopf geknallt, und beim Hinausgehen hat er mich bis zur Tür begleitet. Ich habe ihm meine Geschichte erzählt.

    »Tja«, hat er kopfschüttelnd gesagt, »wenn es nur nach dem Kameraden Lancin und mir ginge, dann hätten Sie im August Ihren Doktor. Aber halten Sie überhaupt so lange durch? Wird der Inspektor Sie behalten? Sie sehen aus wie ein Mann – und er braucht Hunde, die kuschen …«

    »Ich mache mich klein, ich bin entschlossen, feige zu sein!«

    »Vielleicht, aber man sieht Ihnen an, dass Sie es nicht sind, und das Pack spürt Ihre Verachtung.«

    Er behielt recht, der alte Meister! Es hat mir nichts genützt, dass ich so tat, als ob ich schliefe, Bauch ansetzte und das Benedictus hersagte!

    Die Universitätsbonzen, der Direktor und der Anstaltsgeistliche des Gymnasiums, haben beschlossen, dass ich fliege. Mein Stachelbart, mein klares Auge, das Klacken meiner Absätze, wie weich ich auch auftrete, beleidigen ihr kahles Kinn, ihren trüben Blick, ihre über die Fliesen schlurrenden Sohlen.

    Da sie mir nicht vorwerfen konnten, unkorrekt oder ein Säufer zu sein, sind diese Jesuiten auf eine geniale Idee gekommen!

    Heimlich haben sie eine Verschwörung gegen mich angezettelt.

    Mitternacht

    Der Schlafsaal, wo ich bei Kerzenlicht büffelte, wurde zum Agitationsfeld der Verschwörer.

    Er leistet mit seiner klösterlichen Konstruktion dem Aufruhr Vorschub. Jeder Bruder hatte einst eine zum Himmel offene Zelle, jeder Schüler hat heute das gleiche Glück, sodass niemand im Innern der Verschläge gesehen werden kann; der Studienaufseher hört die Geräusche, kann aber keine Bewegungen erkennen.

    Eines schönen Abends gab es Aufruhr zwischen den Holzwänden: Es wurde gegen die Verschläge geklopft, es wurde gepfiffen, gegrunzt, geschrien, und so komisch, dass ich Lust bekam mitzumachen.

    Ich habe also auch geklopft, gepfiffen, gegrunzt und mit schriller Stimme geschrien:

    Nieder mit dem Hilfslehrer!

    Zum ersten Mal, seit ich hier bin, fühle ich mich lebendig.

    Da stehe ich, im Hemde, mitten in der Zelle, schlage mit der Kerze gegen den Nachttopf, mache Hahn und Schweine nach, und kreische andauernd: Nieder mit dem Hilfslehrer!

    Die Tür wird aufgestoßen …

    Der Direktor persönlich. Er ist offenbar verblüfft, mich mit wehendem Banner barfuß auf den Fliesen stehen zu sehen, mein Nachtgeschirr in der einen Hand, meinen Kerzenhalter in der andern, und er stammelt verstört:

    »Hö … hö … hören Sie denn nicht?«

    »???«

    »Diese Revolte … dieses Geschrei! …«

    »Geschrei? … Revolte? …«

    Ich habe mir die Augen gerieben und eine verdutzte, wirre Miene aufgesetzt … Ah! Er sah sehr gut, worum es ging, und weiß wie das Porzellan des Nachttopfs ist er davongegangen. Im Schlafsaal wird es keine Revolte mehr geben; keine Sorge!

    Ich lege mich wieder hin, untröstlich, dass der Radau vorbei ist.

    Aber ich sehe wohl, dass es mit mir aus ist. Ich werde mir noch diesen oder jenen Luxus leisten, bevor sie mich hinauswerfen.

    Die Gelegenheit kommt.

    Der Rhetoriklehrer wird krank. Es ist üblich, dass der Studienaufseher den Lehrer vertritt, wenn dieser ausnahmsweise verhindert oder abwesend ist.

    Ich werde also heute Abend den Unterricht abhalten, auf seinen Stuhl steigen.

    Da bin ich.

    Die Schüler warten mit der Spannung, die jedes ungewohnte Ereignis erzeugt. Wie werde ich mich aus der Sache ziehen, ich, der Schönredner, der Favorit der Fakultät, der Pariser?

    Ich fange an.

    »Meine Herren,

    der Zufall will es, dass ich Ihren ehrenwerten Lehrer, Herrn Jacquau, vertrete. Ich erlaube mir aber, über das anzuwendende Unterrichtssystem nicht seiner Meinung zu sein. Meine Meinung ist, dass nichts, nichts von dem gelernt werden sollte, was die Universität Ihnen nahelegt. (Unruhe von der Mitte her.) Ich glaube, Ihrer Zukunft besser zu dienen, wenn ich Ihnen rate, Domino, Dame oder Karten zu spielen, die Jüngeren dürfen den Fliegen Papier in den Hintern bohren.« (Bewegung in entgegengesetzter Richtung.)

    »Meine Herren, ich bitte um Ruhe! Um Demosthenes und Vergil auswendig zu lernen, braucht man nicht nachzudenken, aber um achtzig oder fünfhundert zu erreichen oder dem König Schach zu bieten oder Fliegen zu pfählen, ohne ihnen weh zu tun, dafür ist ein ruhiger Geist vonnöten, und dem unschuldigen Insekt gegenüber, das Ihre Neugier, meine Herren, ausforscht, wenn ich mich so ausdrücken darf, sind Sie zur Sammlung verpflichtet.« (Lang anhaltende Erregung.)

    »Schließlich wünsche ich, dass die Zeit, die wir zusammen verbringen werden, keine verlorene Zeit ist.«

    Vorhang!

    Am selben Abend habe ich meine Entlassung erhalten.

    II

    Da stehe ich von Neuem auf dem Pariser Pflaster, mit vierzig Francs in der Tasche, überworfen mit allen Fakultäten Frankreichs und Navarras¹.

    Wohin mit mir? Ich bin nicht mehr der gleiche Mann: Acht Monate Provinz haben mich verändert.

    Zehn Jahre lang habe ich gelebt wie der Säufer, der sich vor dem Zusammenbruch am Morgen nach dem Besäufnis fürchtet, der dem Vieh immer wieder ins Fell greift, sich auf den Weißwein stürzt, sobald er wach ist, immer eine Flasche in Reichweite seiner zitternden Hände hat. Ich besoff mich an meinen Reden.

    Und die Beherztheit zahlte sich meistens nicht aus!

    Sogar die, denen ich ein bisschen Freundlichkeit als Almosen zuwarf, um meine Qual zu überdecken oder die ihre zu zerstreuen, verstanden mich weder, noch dankten sie es mir, sie schimpften mich einen Auvergnaten und groben Kerl. Lausig im Geist und flau von Gemüt wie sie waren, sahen sie nicht, dass ich unsere Schmerzen mit Ironie überdeckte, wie man eine Pappnase über ein Krebsgeschwür stülpen mag, dass meine Gefühle mir die Eingeweide zerfraßen, während ich auf unser gemeinsames Elend mit Kalauern einschlug, so wie man in einem stickigen Raum mit der Faust eine Scheibe einschlägt, um Luft zu bekommen!

    Es war der Mühe nicht wert, sich da wieder einzureihen!

    Was habe ich gemacht, seit ich aus der Provinz zurückgekommen bin? … Ich weiß es nicht mehr. Ich habe gelebt wie ein Tier, wie dort auch, nur ohne Weide und Streu. Soll ich ins Grab hinabsinken und mich immer nur gegen das Leben verteidigt haben, ohne aus dem Schatten getreten zu sein, wenigstens eine Schlacht in der Sonne geschlagen zu haben?

    Lass sie doch Verrat schreien, wenn sie wollen!

    Ich werde versuchen, acht Stunden am Tag zu verkaufen, für ein sicheres Brot und einen heiteren Geist.

    Schließlich ist Arnould², der ein Ehrenmann ist, bei der Stadt arriviert. Ich habe neulich Lisette getroffen, sie hat es mir erzählt.

    Mein Stellengesuch muss nun befürwortet werden … Noch ein Schwur, den ich mit Füßen trete!

    Egal!

    Ich war meineidig, als ich Hilfslehrer wurde, und meineidig werde ich wieder sein, wenn ich Leute, die am 2. Dezember versucht haben, uns umzubringen, um ihre Unterschrift anbettele.

    Elender! Statt Terrain zu gewinnen, habe ich Terrain verloren, und meine Haare fangen an, weiß zu werden!

    Es ist getan! – Ein Gardegeneral, ein Bibliothekar in den Tuilerien, ein ehemaliger Direktor meines Vaters, sie haben mich alle drei mit ein paar Zeilen empfohlen.

    Und das hat genügt. In einem Bürgermeisteramt am Ende der Welt, das aussieht wie eine Baracke, haben sie mich für hundert Francs im Monat zur Aushilfskraft ernannt. Ich laufe hin, steige die Treppen hinauf und frage nach dem Bürovorsteher.

    Ein Herr mit Brille und einem kleinen Buckel empfängt mich: »Ist in Ordnung. Sie machen die Geburten.«

    Er begleitet mich zum Meldebüro und vertraut mich einem Angestellten an, der mich von oben bis unten misst, mir bedeutet, ich möge mich setzen und mich fragt, ob ich eine schöne Schrift (!!) habe …

    »Es geht.«

    »Lassen Sie mal sehen.«

    Ich tauche die Feder ins Tintenfass, ich tauche sie zu tief ein, beim Herausziehen mache ich auf eine Seite des Registers, das der Mann vor sich liegen hat, einen enormen Klecks.

    Er fuchtelt in heftiger Verzweiflung herum.

    »Ausgerechnet auf den Namen! … Jetzt müssen wir zurückfragen!«

    Er wirft sich ans Fenster, lehnt sich weit hinaus, rudert mit den Armen, stößt Schreie aus.

    Ruft er um Hilfe? Fühlt er einen Schlaganfall nahen? Will er mich verhaften lassen?

    Wer antwortet ihm? Ein Arzt, ein Kommissar?

    Nein. Ein Kohlenhändler, ein Weinhändler und eine Hebamme stürzen fünf Sekunden später erschreckt ins Büro: »Was ist los?«

    »Los ist, dass dieser Herr sich damit einführt, dass er eine Sauerei in meinem Buch veranstaltet, und dass Sie jetzt am Rand unterschreiben müssen, damit das Kind einen bürgerlichen Status hat.«

    Er dreht sich wütend zu mir um.

    »Hören Sie? Einen bür-ger-li-chen Sta-tus! Wissen Sie wenigstens, was das ist?«

    »Ja, ich habe Jura studiert.«

    »Das hätte ich mir denken können!«

    Und er feixt.

    »Diese Akademiker sind alle so … der Tod für jedes Register!«

    Erneutes Gewimmer und das Geräusch von derben Schuhen, wieder eine Hebamme, ein Kohlenhändler und ein Weinhändler.

    Mein Kollege wirft mich ins Feld.

    »Vernehmen Sie die Klientin.«

    Wie soll ich das machen? Was soll ich sagen?

    »Sie kommen wegen eines Kindes? …«

    Er zuckt mit den Schultern und sieht aus, als wollte er die Flinte ins Korn werfen.

    »Warum zum Teufel sollte sie wohl sonst kommen? …

    Vielleicht sind Sie wenigstens in der Lage, etwas festzustellen! Verschaffen Sie sich Klarheit über das Geschlecht.«

    »Klarheit über das Geschlecht! … und wie?«

    Er rückt die Brille zurecht und betrachtet mich verstört; er scheint sich zu fragen, ob ich womöglich etwas zurückgeblieben und so übertrieben schamhaft bin, dass ich den Unterschied zwischen Buben und Mädchen nicht kenne.

    Ich gebe durch Zeichen zu verstehen, dass ich schon Bescheid weiß.

    Er seufzt erleichtert auf und sagt zur Wöchnerin: »Wickeln Sie das Kind aus. Sie, mein Herr, sehen nach. Aber von da hinten können Sie ja nichts sehen, so treten Sie doch näher!« »Es ist ein Junge.«

    »Ich glaube Ihnen!«, sagt der Vater, bläht sich auf und zwinkert dem Kohlenhändler zu.

    Jetzt bin ich also Amme, oder doch nahe daran.

    Ich muss höflichkeitshalber ein bisschen beim Auspacken aus den Windeln helfen, Nadeln fortnehmen, das Balg freiwickeln und leise unterm Kinn kraulen, wenn es zu sehr brüllt.

    Glücklicherweise habe ich in der Pension Entêtard Routine gekriegt, und meine zarte Hand wird hier im Viertel so berühmt wie meine Gewandtheit, mit der ich die Hemdchen in die Höschen steckte. Ich schieße den Vogel ab!

    Meine Kollegen sind keine Leuchten, aber sie sind auch nicht bösartig. In ihnen arbeitet nicht diese gallige, kummervolle Hefe, die in den ewig eifersüchtigen, angstgehetzten, kontrollierten Akademikern gärt.

    Sie lassen mich meine Unterlegenheit nicht allzu grausam fühlen; mein Mitarbeiter hat nach zwei Tagen aufgehört, zu grimassieren und zu brummeln.

    »Alles in allem, was hat man Ihnen eigentlich im Gymnasium beigebracht? Latein? Damit können Sie die Messe lesen! Lernen Sie mal lieber Grundstriche und Haarstriche machen.«

    Und er erteilt mir Ratschläge, wie man die Schwänze bei langen und die Bäuche bei runden Buchstaben hinbekommt. Wir

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