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Bücher schmücken ein Zimmer: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 10
Bücher schmücken ein Zimmer: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 10
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eBook328 Seiten4 Stunden

Bücher schmücken ein Zimmer: Ein Tanz zur Musik der Zeit – Band 10

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Über dieses E-Book

Der zwölfbändige Zyklus "Ein Tanz zur Musik der Zeit" —­ aufgrund­ seiner inhaltlichen­ wie formalen Gestaltung immer wieder mit Mar­cel Prousts "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit" verglichen —­ gilt­ als­ das­ Hauptwerk des­ britischen Schriftstellers Anthony Powell und gehört zu den bedeutendsten Romanwerken des 20. Jahrhunderts. Inspiriert von ­dem ­gleichnamigen Bild des französischen Barockmalers Nicolas Poussin, zeichnet der Zyklus ein facettenreiches Bild der englischen Upperclass vom Ende des Ersten Weltkriegs bis in die späten sechziger Jahre. Aus der Perspektive des mit typisch britischem Humor und Understatement ausgestatteten Ich­-Erzählers Jenkins — der durch so­ manche­ biografische­ Parallele­ wie­ Powells­ Alter ­Ego­ anmutet — bietet der "Tanz" eine Fülle von Figuren, Ereignissen, Beobachtungen und Erinnerungen, die einen einzigartigen und auf­schlussreichen Einblick geben in die Gedanken­welt der in England nach wie vor tonangebenden Gesellschaftsschicht mit ihren durchaus merkwürdigen Lebensgewohnheiten.
SpracheDeutsch
HerausgeberElfenbein Verlag
Erscheinungsdatum9. Mai 2017
ISBN9783941184855
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    Buchvorschau

    Bücher schmücken ein Zimmer - Anthony Powell

    (Druckausgabe)

    1

    Als ich mit vierzig zur Universität zurückkehrte, überkam mich sogleich wieder die ganze bedrückende Melancholie der studentischen Existenz. Während der Zug in den Bahnhof einfuhr, drängte sich mir, bevor noch das ört­liche Klima Zeit hatte, der Gesundheit zu schaden, ehe aka­demische Kontakte den Geist beunruhigen konnten, eine un­mittelbarere Niedergeschlagenheit auf, deren sehniger Griff mich mit einem Schlag in die Jugendzeit zurückversetzte. Symptome der Depression, die uns in allen Stätten unserer Jugend bedrohend begegnen, stellten sich jetzt, in dieser Zeit, ohnehin leicht ein, und ich nahm sie hin als verzögerte Folgen der letzten sechs Jahre. Es war seltsam, wie fern mir nun aber auch die jüngste Vergangenheit lag, wie die Armee jetzt in meinem Bewusstsein die gleiche stilisierte Form angenommen hatte wie – um einen anderen Triumphfries zu beschwören – die Legionäre auf der Trajanssäule, exerzierend, schwitzend bei ihrem antiken Drill, stumme Kolonnen bei ewiger Parade zu tonloser militärischer Musik. Dennoch, nicht alle Schatten aus jener Zeit waren gebannt. Nur eine Woche zuvor hatte der Schirm des Khaki-képi eines französischen Generals, der allzu plötzlich aus dem Winterdunst der Piccadilly aufgetaucht war, meine rechte Hand durch bedingten Reflex dazu veranlasst, zur Vorbereitung eines nicht länger angebrachten militärischen Grußes aus meiner Manteltasche zu zucken, der Geste eines Deserteurs ähnlich, der sich so fast selbst verraten hätte. Solche Bodensätze der Er­fahrung waren unvermeidlich.

    In der Zwischenzeit hatte ich in einem Versuch, so etwas wie eine persönliche Identität zurückzugewinnen, wie immer verschwommen sie auch sein mochte, überkommene Strukturen meiner Existenz mühsam zusammengestückelt. Selbst wenn es sich – wie einige vermuteten – nur um eine vorübergehende Pause in den Militäraktionen handelte, so war diese deshalb nicht weniger willkommen, obwohl es jetzt an der Stimmung der Zeit nach dem früheren Konflikt – wie sie von dem Liedfetzen zusammengefasst wurde, den Ted Jeavons gerne summte, wenn er in schlechter Form war – völlig fehlte:

    »Après la guerre,

    Kommen nur schöne Tage daher.«

    Das nahm mir allerdings nicht die Vorfreude darauf, mich in den folgenden paar Wochen in gewisse Briefe und Dokumente zu vertiefen, die hier in den Bibliotheken lagerten. Die Einsamkeit würde nach den Gedrängtheiten während der Kriegszeit ein Luxus sein, archaische Folianten eine beruhigende Droge. Nach dem Krieg verspürte ich einerseits ein leidenschaftliches Verlangen, ganz viel Arbeit auf mich zu nehmen, aber andererseits auch den Wunsch, nie mehr wieder irgendetwas zu tun. Es war dies ein Geisteszustand, den Robert Burton – über den ich ein Buch zu schreiben gedachte – sehr wohl verstanden hätte. Unentschlossenheit fand er interessant als eine der Myriaden Formen der Melancholie, obwohl er sich natürlich hauptsächlich mit »einem chronischen und anhaltenden Leiden, einem festsitzenden Körpersaft« befasste und nicht mit einer bloß vor­übergehenden Depression oder nervösen Unruhe. Dennoch, der Nachkriegsmelancholie hätte er vielleicht in seinem großen Werk doch ein kurzes Unterkapitel gewidmet:

    DIE ANATOMIE DER MELANCHOLIE

    Was sie ist, mit all ihren Arten, Ursachen, Symptomen,

    Anzeichen und mehreren Heilmitteln gegen sie. In drei Hauptabteilungen mit mehreren Unterabteilungen, Kapiteln und Unterkapiteln philosophisch, medizinisch und historisch offengelegt und seziert von Democritus Junior. Mit einem satirischen Vorwort, das in die folgende Abhandlung einführt. Anno Dom. 1622

    Die Titelseite zeigte nicht nur ein Porträt von Burton selbst mit Halskrause und Scheitelkäppchen, sondern auch Figuren, die sein Thema illustrierten: Liebeswahnsinn, Hypochondrie, religiöse Melancholie. Die Embleme der Eifersucht und der Einsamkeit waren ebenfalls dort abgebildet, zusammen mit jenen beiden wirkungsvollsten Heilmitteln gegen Melancholie und Wahnsinn, Borretsch und Nieswurz. Burton war lange schon einer meiner Lieblingsautoren gewesen. Eine Studie über ihn würde eine Abwechslung zum Schreiben von Romanen bedeuten. Das Buch sollte den Titel »Borretsch und Nieswurz« tragen.

    Als die trostlose Umgebung des Bahnhof den Gebäuden der Colleges wich, wandten sich meine vielleicht banalen, doch ausgesprochen burtonesquen Tagträume der relativ großen Anzahl von Personen zu, die ich in einem früheren Stadium meines Lebens sowohl hier als auch anderswo ziemlich gut gekannt hatte, die aber jetzt entweder tot oder übergeschnappt waren oder sich in Existenzformen zurückgezogen hatten, die zu teilen sie – oder ich – keinen Wunsch verspürten. Es besteht die Wahrscheinlichkeit, dass auch ohne kosmische Umwälzungen nach der halben Lebensstrecke eine gewisse Umorientierung stattzufinden hat – eine These, die durch die Autobiografien bestätigt wurde, die nun in Mengen eintrafen (jeweils drei oder vier in regelmäßigen Abständen), um in einer der Wochenzeitschriften rezensiert zu werden. In diesem Augenblick beschwerten mehrere dieser Bände meine Tasche. Ihnen würde ich mich in den Pausen während meiner Beschäftigung mit dem siebzehnten Jahrhundert widmen müssen: »In Lethe nicht gereinigt« … »Ein Börsenmakler in Sandalen« … »Ein lang­samer Starter« … »Nie gerastet, nie gerostet« … – Chroniken in­dividueller Schicksale, im Großen und Ganzen nur wenig fesselnd, außer insofern, als jedes Menschen individuelle Geschichte ihre fesselnden Aspekte hat, obwohl der wesentliche Wendepunkt von den meisten Autobiografen gewöhnlich entweder ausgelassen oder verschleiert wird.

    Doch fast alle offenbarten, wenn auch nicht in jedem Fall explizit, eine ähnliche Neuorientierung im Alter von etwa Mitte vierzig; und deren Beschreibungen bestärkten ganz allgemein die Anzeichen, die sich bereits fühlbar angesammelt hatten, dass Freundschaften, wenn überhaupt ein Bedürfnis nach einer Form von ihnen, wie sie in der Vergangenheit existiert hatten, bestand, an diesem Meilenstein größtenteils neu geschlossen werden mussten. Diese Umstellung mochte die Beständigkeit und sogar die Qualität verbessern, sie führte aber gewiss zu einem Verlust an Intimität, zumindest an jener Art von Intimität, die so tröstlich in der Jugend ist, obwohl vielleicht zu verletzlich, um der stetig wachsenden Selbstgewissheit späterer Jahre widerstehen zu können.

    Ich wohnte in meinem alten College. Das Gebäude sah noch genauso aus wie früher. Nur ein einziger Pförtner hatte Dienst in dem Häuschen. Es war ein unvertrautes Gesicht. Nachdem er lange die Liste studiert hatte, wies er auf einen entfernten Treppeneingang zu den mir zugewiesenen Zimmern. Die traditionelle Atmosphäre, in prekärer Balance zwischen einem lax geführten Internat und einem zwielichtigen, auch Schlafgelegenheiten bietenden Club, neigte sich jetzt entschieden der des ersteren Typs von Institution zu. Die Zimmer, eiskalt wie in alten Zeiten, gehörten augenscheinlich einem ziemlich karg lebenden jungen Mann, dessen einziges Bild eine ungerahmte Fotografie einer Hockeymannschaft war. Sie stand wellig auf dem Kaminsims. Auf dem Bücherregal eine Menge wirtschaftswissenschaftlicher Werke, die begrenzt wurde von St. John Clarkes »Aus Staub du bist«, einem ziemlich abstrusen Roman über die Französische Revolution, den kritisch neu zu bewerten vielleicht ein Vergnügen sein würde. Ich ging hinüber ins Schlafzimmer. Hier tat sich eine Krise auf. Das Bett war unbezogen. Nur eine düster stimmende, fleckige blaugraue Matratze lag, dreifach gefaltet, auf den rostigen Drahtspiralen des Rahmens. Zurück zum Pförtnerhäuschen, wo ich einer fundamentalen Diskussion über die unvorstellbaren Schwierigkeiten ausgesetzt wurde, dem Mangel an Bettzeug zu dieser Stunde abzuhelfen. Später dann versammelten sich einige Zombie-ähnliche Gestalten im Speisesaal, um ein angemessen Zombie-gedeihliches Mahl einzunehmen.

    Dies war der Anfang einer Reihe von Tagen, die durch die Routine bestimmt waren. Tagsüber arbeitete ich in der Bibliothek, und abends wertete ich meine Notizen aus. Die Monotonie wirkte beruhigend. Man glich sich unmittelbar jenen anderen trüben, körperlosen, unnahbaren, auf ihr jeweils eigenes rätselhaftes Interessensgebiet konzentrierten Wesen an, die in der vorlesungsfreien Zeit durch die kopfsteingepflasterten Gassen und gotischen Torbögen einer Universität huschen. Es war das, was Burton selbst »ein stilles, im Sitzen verbrachtes, einsames, privates Leben« nannte, und unter der Woche war es genau das Richtige für mich. An den Wochenenden fuhr ich zurück nach London. Einmal kam Killick, einst ein kräftig gebauter, Rugby spielender Philosophieprofessor an meinem College, mit einem Stoß Bücher unter dem Arm ächzend und mit hochrotem Kopf die Straße heraufgeeilt, und ich sprach ihn an. Ich erklärte ihm, wer ich sei. Killick lud mich geistesabwesend zum Abendessen ein. Als ich in der darauffolgenden Woche zu ihm ging, wurde mir mitgeteilt, dass Professor Killick nach Manchester gefahren sei, um dort zwei Vorträge zu halten. Dieses Versehen überraschte mich kaum. In einer Stadt der Schatten war es nur zwangsläufig, dass auch Verabredungen etwas Fragwürdiges anhaftete.

    Gleichzeitig lag etwas ganz anderes, etwas völlig Fassbares und keineswegs Fragwürdiges vor mir, etwas, das nicht länger aufgeschoben werden durfte, auch wenn ein unterschwelliger Widerwille, die Sache anzugehen, mich daran hindern mochte, den Sprung zu tun. Eine moralische Verpflichtung war abzuleisten. Im Laufe der Zeit wurde der hypnotische Zwang, Sillery einen Besuch abzustatten, immer stärker; die Abneigung dagegen – das war natürlich ein viel zu gewichtiges, ja das völlig falsche Wort – nahm kaum ab, während der Magnetismus Sillerys selbst an Kraft gewann. Vorgeblich so nebenbei eingeholte Erkundigungen ergaben, dass Sillery, obwohl er schon seit längerem von allen administrativen Pflichten in seinem eigenen College entbunden war, seine alte Wohnung behalten hatte, wo er gerne, ja sogar begierig, wie man sagte, Besucher mit den soweit wie möglich traditionellen Elementen der Willkommensheißung empfing.

    Nach zwanzig Jahren Sillerys Wohnzimmer zu betreten be­deutete, eine verhältnismäßig tiefe Schneise durch die vielfältigen Schichten der Zeit zu schlagen. Als ich durch die Tür trat, erinnerte der leichte Wäscheschrankgeruch wieder an das Aroma des Gebäcks, das auf jenen Teegesellschaften angeboten worden war, dehydrierte ihr unbestimmt sandiger Geschmack erneut meinen Gaumen. Die für Sillerys abendliche Vorstellung entworfenen Requisiten waren fast völlig unverändert geblieben. Die abgewetzten Bezüge der urzeitlich ungefederten Sessel fristeten hier immer noch ihre prekäre Existenz; die seit langem ausgefransten weiten Löcher in dem Teppich vor der Tür bargen jetzt eine nur unwesentlich größere Gefahr für den unachtsam Eintretenden. Wie man vielleicht erwarten konnte, hatte sich die Zahl der gerahmten Fotografien schwungvoller junger Männer beträchtlich erhöht; mehrere der Neuankömmlinge waren in Uniform, einer trug einen Turban, zwei oder drei waren Amerikaner.

    In diesem Zimmer, vor diesem Hintergrund, hatten Sillerys Intrigen, wenn man sie denn so nennen konnte, ein halbes Jahrhundert lang Gestalt angenommen. Tausend verschiedene studentische Verhaltensweisen hatten sich hier bußfertig dargestellt. Junge Menschen: vor Verlegenheit Stumme, in ihrem Exhibitionismus Atemlose, vor Nervosität Stotternde, vor Dünkel Sprachlose; solche aus großartigen Kreisen, die robust Muskulösen, die primitiv Uninformierten, die blassen Geschlechtslosen – alle und jeder waren auf Geheiß des Zirkusdirektors Sillery gehorsam durch den Reifen gesprungen; alle und jeder hatten sich der prüfenden Flamme dieses brennenden, feurigen Schmelzofens adoleszenter Erfahrung ausgesetzt. Solche Gedanken drängten sich mir erst auf, als ich schon einige Minuten in diesem Zimmer verbracht hatte. Im Augenblick meiner Ankunft nahm ich zunächst nichts weiter wahr als die Tatsache, dass ein anderer Gast bereits eingetroffen war, dem Sillery gerade unter viel Gelächter und mit mimischen Gesten eine Anekdote erzählte. Jedwedes unmittelbare Wort meinerseits wurde sofort abgeschnitten, denn Sillery, als ob er stets auf der Hut vor einem möglichen Attentat sei, sprang von seinem Stuhl und stürmte auf mich zu, bereit, sich den Angreifer zu packen.

    »Timothy? … Mike? … Cedric? …«

    »Nick …«

    »Carteret-Owen? … Jelf … Kniveton? …«

    »Jenkins – wie geht es Ihnen, Sillers?«

    »Sie sind also den ganzen Weg von New South Wales hierhergekommen, Nick?«

    »Ich …«

    »Nein, natürlich, Sie sind schließlich doch zum Direktor dieser Schule ernannt worden, Nick?«

    »Es ist …«

    »Ich sehe, Sie haben sich noch nicht ganz von dieser Kopfwunde erholt …«

    Die Frage der Identifikation wurde schließlich mit Hilfe des anderen Besuchers geklärt, der sich als Short erwies, ein früherer Student an Sillerys College, ein Jahr über mir. Short war nicht nur ein großer Fan von Sillerys Teegesellschaften gewesen, er hatte auch energisch Sillerys Ruf als – in Shorts eigenen Worten – »eine Kraft im Land« verbreitet. Wir hatten einander als Studenten gekannt und so etwas wie eine Bekanntschaft während meiner Frühzeit in London aufrechterhalten, waren dann aber in verschiedene Welten gedriftet. Ich hatte seinen Namen zuletzt während des Krieges gehört, als er im Kabinettsbüro arbeitete, mit dem meine Abteilung im Kriegsministerium gelegentlich zu tun hatte, war ihm jedoch nie per­sönlich begegnet. Er war wahrscheinlich vorübergehend von seinem eigenen Ministerium dorthin versetzt worden, denn nach der Universität war er in eine andere Abteilung des öffentlichen Dienstes eingetreten.

    Wie der Anzug, den er trug, hatte Shorts Betragen, obwohl jetzt eine Spur gewichtiger, autoritärer, denselben bewusst zugeknöpften Charakter beibehalten. Diese milde, höfliche Art verbarg eine Menge an stiller, mit einem gehörigen Maß an Boshaftigkeit gemischter Sturheit. Obwohl er stets eine hohe Position eingenommen hatte, jetzt fast der oberste Chef war, stammte er doch von den gleichen bürokratischen Vorfahren ab wie ein einfacher Stammesangehöriger wie Blackhead, der Prototyp der gesamten Rasse der fonctionnaires, und Short mochte, anthropologisch gesprochen, durchaus, wenn gereizt, auf die gleiche atavistische Obstruktionspolitik zurückfallen.

    Auch Sillery, sein Schnurrbart eine Spur struppiger und gelb, die blaue, weiß gepunktete Schleife im Zustand drohender Auflösung, hatte sich kaum verändert. Vielleicht bildete ich es mir nur ein, aber sein Körper und sein Gesicht waren geschrumpft, was ihm stärker als früher ein affenartiges Aussehen gab; allerdings nicht das eines gewöhnlichen Affen, eher das von Brue­ghels Antwerpen-Affen (die Pennistone bewundert hatte) als das der kuscheligen Bewohner in Douaniers »Tropiques«, denen Soper, der Verpflegungsoffizier der Division, geähnelt hatte. Selbst der real existierende Monkey, Maisky, das gestorbene Haustier der Jeavons', kam nicht an Sillerys umwerfende, affenartige Gewieftheit heran. Dieser Eindruck einer Seelenwanderung war so stark, dass er im Begriff zu sein schien, auf das Bücherregal zu springen, die Fotografien gutaussehender junger Männer und den Stapel von Briefen (der oberste an den Innenminister adressiert) bei der Landung zurück auf dem Tisch durcheinanderwirbelnd. Er schien bei blühender Gesundheit. Niemand hatte je mit Sicherheit sagen können, wie alt Sillery war. In den Nachschlagewerken wurde sein Geburtsjahr nie angegeben. Er war wahrscheinlich noch unter achtzig.

    »Setzen Sie sich, Nick, setzen Sie sich. Leonard und ich sprachen gerade über einen alten Freund – Bill Truscott. Erinnern Sie sich an Bill? Ganz gewiss doch. Er war natürlich ein winziges bisschen älter als Sie beide…« Sillery hatte sich nun perfekt in der chronologischen Reihenfolge zurechtgefunden … »aber nicht sehr viel. Diese Unterschiede gleichen sich aus in dem Sand der Zeit. Das tun sie wirklich. War ein vielversprechender junger Mann, Bill. Der über-, über-, übernächste Premierminister. Wir alle dachten das. Hat keinen Zweck, es zu leugnen, nicht wahr, Leonard?«

    Short lächelte eine moderate persönliche Beipflichtung, die allerdings nicht eine Sekunde lang als sein Ministerium in irgendeiner Weise festlegend interpretiert werden konnte.

    »Hat auch einige kompetente Gedichte geschrieben«, sagte Sillery. »Selbst wenn sie etwas leicht Epigonenhaftes hatten. Mark Members hat immer über den Dichter Bill gespottet, obwohl er ihn als einen ›kommenden Mann‹ respektierte. Rupert Brooke in brabbelnder und A. E. Housman in kumpelhafter Höchstform, pflegte Mark zu sagen. Mark ist immer so streng. Das hab ich ihm auch gesagt, als er neulich hier war und eine Rede vor der Studentischen Gesellschaft gehalten hat. Wissen Sie, Marks Haar ist jetzt schneeweiß geworden. Ich frag mich, was die Ursache dafür war; er hat doch immer so sehr auf sich achtgegeben. Steht ihm aber gut. Gibt ihm genau jenes Fluidum der Distinguiertheit, das man braucht, wenn man die Jugend hinter sich hat – und niemand hat mehr daraus gemacht, ein berufsmäßig junger Mann zu sein, als Mark, als alles noch gut lief. Er hat von seinem alten Freund – unserem Freund – J. G. Quiggin erzählt. J. G. hat die Schriftstellerei aufgegeben, höre ich. Vielleicht ein weiser Entschluss. Ein literarischer Kaiserschnitt für sein lange im Entstehen begriffenes Kind, ›Nicht-abgebrochene Brücken‹, war fast unvermeidlich. Ich hatte oft befürchtet, es käme verfrüht als mickrig-winselnder kleiner Artikel in einem Magazin zur Welt. Jetzt wird J. G. literarische Werke fördern, statt sie selbst zu schreiben. Kurz gesagt, er wird Verleger.«

    »Das habe ich auch gehört«, sagte Short. »Er gründet eine neue Firma mit Namen Quiggin & Craggs.«

    »Wenn ich daran denke, dass ich einmal zusammen mit Howard Craggs in Komitees gesessen habe und wir über Waffenembargos für Bolivien und Paraguay diskutierten«, sagte Sillery. »Klingt jetzt wie ein Embargo auf Waffen für die alten Griechen und Trojaner. Dennoch, ich hab neulich in einer Zeitung einen guten Brief von Craggs über die Notwendigkeit gelesen, dass Sozialisten und Kommunisten ein gemeinsames Programm für den Wiederaufbau Europas zustande bringen.«

    »Craggs war während des Krieges zeitweilig im öffentlichen Dienst«, sagte Short. »Rationierung von Papier, glaube ich. Etwas dieser Art.«

    »Das war zu der Zeit, als Quiggin sich als vorübergehender Geschäftsführer bei Boggis & Stone nützlich gemacht hat«, sagte Sillery. »Ich vermute, das erklärt, warum J. G. sich jetzt wie ein Partisan kleidet, wie ein Mann direkt aus einem Maquis: karierte Hemden, Lederjacken, Halbstiefel. ›Also, Quiggin war immer schon in der vordersten Front der Widerstandsbewegung gegen Neueinkäufe, wenn es um Kleidung ging.‹ Das war Brightmans Kommentar. ›Auch wenn karg er lebt’ und in Reserv’ sich hielt während des Krieges – zumindest hielt er sich zu dieser Zeit in Reserv’.‹ Wir alle finden Brightmans ziemlich grausamen Witz sehr vergnüglich. Nebenbei bemerkt, Brightman und ich sind jetzt dicke Kumpels; alles vergeben und vergessen. Außerdem, ich vermute, J. G. schränkt der Man­gel an Kleiderbezugsmarken ein. Einem wie mir macht das ja nichts aus. Ich trage immer noch den Anzug, den ich mir vor der Sintflut gekauft habe, für den Lunch mit Premier­minister Asquith in der Downing Street, aber das war auch ein gutes Stück Stoff, muss ich sagen, nicht wie diese alten Sachen von der Stange, die wir alle von Quiggin so gut kennen. Die mussten ja unter den Belastungen während des Krieges auseinanderfallen. Aber warum nicht Halbstiefel, mein Gott? Ich wäre froh, wenn ich im Winter hier selbst ein Paar hätte.«

    Sillery hielt inne. Er schien zu fühlen, dass er sich erlaubt hatte, ein wenig zu unzusammenhängend daherzureden, sich aber gleichzeitig nicht mehr erinnern konnte, was genau das Thema gewesen war. Wie ein Zauberkünstler, der bei seinem Geplauder für einen besonderen Trick den Faden verloren hat, musste er zum Anfang zurückkehren.

    »Wir sprachen über Bill Truscott und seine Gedichte. Ich nehme an, er hat jetzt der Muse den Rücken gekehrt. Aber man weiß ja nie. Man kann diese Gewohnheit nur schwer aufgeben. Könnt ihr euch vorstellen, dass ich selbst mal ein schmales Bändchen veröffentlicht habe, als ich ein junger Mann war? Wusstet ihr das, ihr beiden? Ließe den Einfluss von Coventry Patmore erkennen, behaupteten die Kritiker. Ich vermute, die meisten von uns halten sich in diesem Alter für Dichter. Schadet ja nichts. Also, das wäre vielleicht gar kein so schlechter Job für Bill bei der Staatlichen Kohlenbehörde, wenn die Dinge sich so entwickeln, wie Sie es vorhersagen, Leonard. Wenn Bill einmal gut und fest eingeführt ist, sollte er dort eine sichere Lebensstellung haben.«

    Wieder erlaubte uns Short, auf seine höfliche Beipflichtung zu schließen, ohne allerdings offizielles Ermessen oder zu­sätzliches Beweismaterial, das in der Folgezeit zu Tage treten könnte, zu präjudizieren.

    »Aber welche geheimnisvolle Mission bringt Sie denn zu unseren akademischen Altären, Nick? Wir wissen nicht einmal, was Sie heutzutage so treiben. Schreiben Sie wieder diese Romane? Ich vermute, ja. Früher habe ich so einiges von Ihren Aktivitäten gehört, als Sie noch ein tapferer Offizier waren und sich um diese Ausländer kümmerten. Sie wissen doch, welches Interesse ich an alten Freunden nehme. Leonard und ich sprachen gerade über den armen Prinzen Theodoric, der uns einst hier alle möglichen Wohltaten zu erweisen beabsichtigte, Stipendien stiften und was nicht noch alles. Donners-Brebner sollte kooperieren, denn Sir Magnus Donners hatte Geschäftsinteressen in jener Gegend. Doch leider lebt der gute Prinz jetzt im Exil und Sir Magnus ist heimgegangen zu seinen Vätern. Die Universität wird von diesen wundervollen Stiftungen nie etwas sehen. Aber wir müssen mit der Zeit gehen. Es existiert jetzt ein neuer Geist in Prinz Theodorics Land, und was immer die Leute auch sagen mögen, es kann überhaupt kein Zweifel an Marschall Stalins Aufrichtigkeit in seinem Verlangen nach einer gutnachbarlichen Politik bestehen, wenn der Westen sie zulässt. Was ich auch an die ›Times‹ geschrieben habe. Diese Tolland-Verwandten von Ihnen, Nick? Dieser Sorgen bereitende Junge, Hugo, wie geht es ihm?«

    Ich behandelte diese persönlichen Dinge so knapp wie möglich und erklärte ihm den Zweck meines Aufenthalts an der Universität.

    »Ah, Burton?«, sagte Sillery. »Ein interessanter alter Gentle­man, ohne Zweifel. Es ist viele Jahre her, seit ich in die ›Anatomie‹ hineingeschaut habe.«

    Zweifellos stimmte das. Sillery war kein großer Leser. Und er war auch an den Nebenaspekten des Schreibens völlig uninteressiert, ja, hielt insgesamt nicht sehr viel vom Schreiben, außer Bücher machten Furore aus anderen als literarischen Gründen, worauf in meinem Fall keine große Hoffnung bestand. Er verfolgte das Thema nicht weiter, war offensichtlich zufriedengestellt, dass das angebliche Motiv nicht darauf angelegt war, irgendeine weniger prosaische, Kontroversen-schwangere Aktivität zu verbergen, dass ich die langweilige Wahr­heit gesagt hatte. Eine Pause in seinem Redefluss, die zu nutzen man nie versäumen durfte, bot mir eine Gelegenheit, die erste bisher, ihm zu der Peerswürde zu gratulieren, die ihm in der jüngsten Ehrenliste verliehen worden war. Sillery lachte schallend über diese Glückwünsche.

    »Isset nich absurd?«, rief er. »Wie Sie sich gedacht haben werden, mein lieber Nick, wollte ich dat verflixte Ding gar nich. Überhaupt nich. Aber es schien mir ungehörig, es abzulehnen. Ist nicht gut, sich ungehörig zu verhalten. Ein buchstäblicher Fall von noblesse oblige. So ist es dann also. Ein Lord und Mitglied des Oberhauses. Wer hätte das dem primitiven jungen Sillers prophezeit, jenem unbekümmerten kleinen Kerl von ehedem? Einige Leute hier hat das gewiss fürchterlich wü­tend gemacht. Ah, die Neidgefühle und Grausamkeiten des menschlichen Herzens. Sie würden es nicht glauben. Ich sage den Dienern hier am College dauernd, sie sollen’s mal langsam gehen lassen mit dem ständigen ›My Lord‹. Gibt mir das Gefühl, ich sei Schauspieler in einem Shakespeare-Stück. Aber sie bestehen darauf, die Guten. Tatsache ist, sie zeigen ein ausgesprochenes Vergnügen daran, ihren alten Freund in einer so erhabenen Form anzureden, genießen es richtig. Seltsam, aber wahr. Sind echt froh, dass der alte Sillers jetzt ein Lord ist. Ah, wenn Sie in meinem Alter sind, liebe Herren, werden Sie verstehen, wie leer weltlicher Erfolg und menschlicher Ehrgeiz sind – aber wir dürfen so etwas nicht zu einer wichtigen Person wie Leonard sagen, oder, Nick? Und ich möchte natürlich auch nicht der verdienstvollen Bewegung gegenüber als undankbar erscheinen, die mich geadelt hat und zu deren treuesten Anhängern ich weiterhin gehöre. Ja, wir sprachen gerade über einige der jungen Löwen der Labour Party, denn Leonard hat seine frühere Verbundenheit mit den Liberalen zugunsten Mr. Attlees und seiner fröhlichen Männer aufgegeben.«

    »Als Beamter bin ich streng genommen natürlich neutral«, sagte Short in einem spröden Ton. »Ich hab nur gerade mit Sillers über den parlamentarischen Privatsekretär meines gegenwärtigen Ministers gesprochen, der zufälligerweise in dem gleichen Wohnblock lebt wie ich – einen gewissen Kenneth Widmerpool. Du bist ihm vielleicht schon mal begegnet.«

    »Bin ich – und ich hab gesehen, dass er vor ein paar Monaten durch eine Nachwahl ins Unterhaus gekommen ist.«

    »Das ergab sich aus dem Gespräch über Bill Truscott und seine Schwierigkeiten«, sagte Sillery. »Ich hab Leonard gerade erzählt, wie ich immer die ruhige, geschickte Art bewundert habe, mit der Mr. Widmerpool es erreichte, dass der arme Bill genau in dem Augenblick von Donners-Brebner entlassen wurde, als er glaubte, eine große Karriere vor sich zu haben. Unter uns gesagt, ich selbst hätte bezweifelt, dass Bill zu dieser Zeit noch eine ernsthafte Konkurrenz darstellte, aber, erloschener Vulkan oder nicht, Widmerpool betrachtete ihn als einen Rivalen und schaltete ihn aus. Es geschah in der geschicktesten Weise, die man sich vorstellen kann. Damit fing es an, dass es bergab ging mit Bill. Brachte ihn auf eine abschüssige Bahn. Er hat nie wieder seinen Status als kommender Mann zurückgewonnen. Das alles kam wieder hoch, als ich Leonard gegenüber zufällig erwähnte, dass Mr. Widmerpool mir geschrieben hat, ich möge einer Gesellschaft – eigentlich zwei Gesellschaften, einer politischen und einer kulturellen – beitreten, um die Freundschaft mit der Volksrepublik des Landes, in dem Theodorics Familie einst die Herrschaft ausübte, zu zementieren.

    »Ich bin Widmerpool begegnet, als mich mein eigenes Ministerium an das Kabinettsbüro ausgeliehen hatte«, sagte Short. »Wir haben uns kennengelernt, als ich mich an einem Wochenende bei einer Person von ziemlicher Bedeutung auf dem Land aufhielt. Ich werde keine Namen nennen und nur sagen, dass der Besuch der Arbeit gewidmet war und nicht dem Vergnügen. Widmerpool kam am Sonntag wegen einer offiziellen Sache dazu und brachte einige höchst geheime Papiere mit. Am Nachmittag spielten wir

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