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Schreiben über mich selbst: Spielformen des autobiografischen Schreibens
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eBook173 Seiten2 Stunden

Schreiben über mich selbst: Spielformen des autobiografischen Schreibens

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Über dieses E-Book

In "Schreiben über mich selbst" geht es um die wichtigsten Spielformen des autobiografischen Schreibens: von der Kindheitserinnerung über typische Formen der Selbstbeobachtung und das

Erzählen prägender Erlebnisse und Lebensabschnitte bis hin zum längeren autobiografischen Text über Herkunft, Familie und biografische Entwicklung.
SpracheDeutsch
HerausgeberDuden
Erscheinungsdatum17. Sept. 2014
ISBN9783411909117
Schreiben über mich selbst: Spielformen des autobiografischen Schreibens

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    Buchvorschau

    Schreiben über mich selbst - Hanns-Josef Ortheil

    Einführung: Die neuen Spielformen des Autobiografischen

    Lange Zeit hat man mit dem autobiografischen Schreiben die Vorstellung umfangreicher Memoiren des gesamten Lebenswegs oder dickleibiger Autobiografien bestimmter Lebensabschnitte verbunden. In ihnen resümiert ein oft bereits älterer Autor aus dem Rückblick die Geschichte seines eigenen Lebens. Besonders Memoiren von Politikern, Sportlern oder Boulevardgrößen prägen noch heute eine solche Vorstellung von der Autobiografie. Ihre Bücher dienen häufig der Selbstdarstellung des Schreibenden, der bemühten Fixierung seines Bildes in der Geschichte oder der Aufwertung seiner angeblich erbrachten Leistungen. Die Stationen des eigenen Lebens laufen dann auf ein möglichst homogenes Selbstbild hinaus und haben vor allem den Zweck, dieses Selbstbild in leuchtender Form in der jeweiligen Gegenwart zu etablieren.

    Memoiren oder ausführliche Autobiografien von Lebensphasen in dieser marktkonformen Form sind oft Produkte der gegenwärtigen Bestsellerindustrie. Mit dem eigentlichen Entstehungsimpuls von Autobiografien in der Geschichte haben sie wenig gemein, verdankt sich dieser Impuls doch dem anspruchsvollen Versuch, den Verlauf des eigenen Lebens zu reflektieren, Rechenschaft abzulegen, gute und schlechte Seiten des Selbst abzuwägen und Bekenntnis abzulegen vor einem höheren Richterstuhl.

    Genau diese zentralen Momente spielen in einer der frühsten und für das Genre folgenreichsten Autobiografien, den »Bekenntnissen«¹ des Kirchenvaters Augustinus (350–430 n. Chr.), eine entscheidende Rolle. An der Schwelle zwischen heidnischer Spätantike und christlichem Frühmittelalter erzählt er von sich selbst als einem in jungen Jahren hedonistischen Heiden, der die antiken, heidnischen Kulturen abstreift und sich zum Christentum bekehrt.

    Dramatische Lebensmomente, plötzliche Lebensumbrüche und weitreichende Neuorientierungen im eigenen Leben darzustellen, waren seither für viele Autobiografen reizvolle und spannungsreiche Erzählmotive. In der Moderne des 18. Jahrhunderts intensivierten sich diese Motive noch und führten zu Lebensbeschreibungen, die auch vor den persönlichsten und intimsten Zügen des eigenen Selbst nicht mehr haltmachten. In diesem Sinn klingen noch heute die ersten Sätze der »Bekenntnisse« des französischen Schriftstellers Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) wie ein Fanal: »Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein. Ich lese in meinem Herzen …«²

    Selbstprüfung und Selbstoffenbarung gingen seither in der Geschichte der Autobiografie enge Allianzen ein. Zeitweilig entwickelte das Genre sich zu einer Mixtur aus Erzählen und Bekennen und damit zu einer weltlichen Form der christlichen Beichte. Das Ich untersuchte sich selbst minuziös, formulierte Diagnosen und verabreichte sich Medikamente für eine bessere Zukunft. So bewegte die Autobiografie sich im 19. und 20. Jahrhundert in eine stark therapeutische Richtung, bis die große Skepsis gegenüber dem Genre begann.

    Sie entwickelte sich vor allem in den letzten Jahrzehnten zu einer vehementen Kritik an seinen auf Harmonisierung, Schönfärberei und breite Panoramatechnik setzenden Erzählmomenten. Die abgerundeten und zudem am fiktiven Romangenre orientierten Bilder von reibungslos ineinandergreifenden Entwicklungsstufen hielt man fortan für pure Illusion. So wurde die längst klassische Ausprägung der Autobiografie als Form eines unreflektierten, naiven Erzählens abgetan. Im süffigen Breitwandformat konnte sie nicht mehr überzeugen, das aufgebläht wirkende, überhöhte Genre schrumpfte deshalb zusammen – und zurück blieb die Essenz: »das Autobiografische« und all seine munteren Spielformen.

    Dabei handelt es sich um kurze, überschaubare und von jeweils klar definierten Voraussetzungen ausgehende autobiografische Mitteilungen. Meist sind sie fragmentarisch und konzentrieren sich jeweils nur auf einen bestimmten autobiografischen Aspekt. Reiht man aber viele dieser Fragmente aneinander und beginnt man sie zu ordnen, aufeinander zu beziehen oder miteinander zu konfrontieren, ergeben sie ein prinzipiell offenes, erweiterbares Archiv. An die Stelle des scheinbar opulenten, selbstgewissen und deutungssüchtigen Rückblicks auf ein ganzes Leben tritt so eine Sammlung von erzählenden Erinnerungssplittern, Hypothesen, kurzfristig angelegten Bekenntnissen und momentanen Selbstanalysen.

    Genau um das Schreiben solcher präzis angelegter Texte geht es in diesem Buch. Die Textprojekte und Schreibaufgaben orientieren sich daher nicht an den bekannten großen Memoiren oder Autobiografien. Sie folgen vielmehr den Winken und Empfehlungen, die von einem hellwachen und neuartigen, vor allem in den USA und Frankreich in den letzten Jahrzehnten entworfenen Schreiben ausgehen. Dieses Schreiben ist experimentell, spielerisch und medial angelegt und läuft auf ein intelligentes Entwerfen von Texten hinaus, die man auch als »Ego-Dokumente« bezeichnen könnte.

    Der Begriff stammt aus den Geschichts- und Literaturwissenschaften, wo er historische Dokumente kürzerer Art (wie Notate, Briefe, Selbstcharakteristiken etc.) bezeichnet.³ Solche Dokumente hat es in der antiken Literatur, die noch keine Memoiren oder klassischen Autobiografien im Stil des Augustinus hervorgebracht hat, in großer Zahl gegeben.⁴ Heutzutage leuchten ihre skizzenhaften, spontanen und direkten Ausdrucksformen in neuer Frische. Sie verweisen auf Menschen, die ununterbrochen damit beschäftigt waren, ihre Erlebnisse und Einsichten zu fixieren, ohne diese Lebensmomente von vornherein in ein beengendes Korsett zu pressen oder gar zu überhöhen.

    Archive in diesem Sinn sind Brutstätten und experimentelle Felder besonders aufmerksamer, vitaler und umsichtiger Kreativität. Sie machen das Leben zu einem immensen Forschungsvorhaben und das Schreiben zu einer fortlaufenden Performance des eigenen Selbst. Eine solche Performance verbindet sich mit den Neuen Medien und ihrem Tempo. Sie lebt von ihren Impulsen, sorgt aber gleichzeitig auch dafür, dass diese Impulse aufgefangen, tiefer geerdet, geleitet und strukturiert werden. Als Spielformen des Autobiografischen sind »Ego-Dokumente« daher hochgradig reflektierte und gestaltete Formen einer jungen, ambitionierten Literatur, die mediale Entdeckungen auch zu wirklich literarischen macht.

    ¹  Aurelius Augustinus: Confessiones/Bekenntnisse.: Lateinisch/Deutsch. Übersetzt, hrsg. und kommentiert von Kurt Flasch und Burkhard Mojsisch. Mit einer Einl. von Kurt Flasch. Stuttgart 2012.

    ²  Jean-Jacques Rousseau: Die Bekenntnisse. Übersetzt von Alfred Semerau, durchgesehen von Dietrich Leube. München 2012, S. 9.

    ³  Vgl. auch: Günter Niggl: Zur Theorie der Autobiografie. In: Antike Autobiographien. Werke – Epochen – Gattungen. Hrsg. von Michael Reichel, S. 1 ff.

    ⁴  Michel Foucault hat sie als »ethopoetisches Schreiben« bezeichnet. Vgl. seinen instruktiven Essay »Über sich selbst schreiben« in: Michel Foucault: Ästhetik der Existenz. Schriften zur Lebenskunst. Übersetzt von Michael Bischoff u.a. Frankfurt/M. 2007, S. 137 ff.

    Textprojekte und Schreibaufgaben I: Ego-Dokumente mündlich

    1. Protokollieren

    Bei Tagesanbruch aufgewacht, dann zum Flughafen. Als ich an Bord ging, putzte ein Typ gerade die Scheiben. Es gibt Leute, die sehen mich und sagen ganz locker »Hi, Andy« – und so einer war der Fensterputzer. Toll.

    Beginnen wir unsere Projekte mit der Sammlung von autobiografischem Rohstoff. Ein solches Material ergibt sich Tag für Tag in unendlicher Fülle. Es besteht aus Namen, Daten und anderen Fakten, die sich an den Rändern unserer täglichen Unternehmungen ablagern, sie begleiten und wieder im Nichts verschwinden, wenn wir sie nicht eigens fixieren, registrieren und in eine größere Sammlung aufnehmen.

    Normalerweise bemerken wir diesen Rohstoff kaum. Er wirkt beliebig oder sogar blass, er tut sich niemals hervor, sondern umgibt unsere Bewegungen und Gänge, als wäre er eine bloße Begleitkomponente. In Wahrheit aber versteckt sich in ihm viel Atmosphärisches und vor allem Zeittypisches. Da wir Menschen, Dinge und Räume aber nicht daraufhin betrachten (wir haben schließlich anderes zu tun, wir wollen »etwas erleben«, anstatt das eigene Erleben zu beobachten und auf Zeittypisches hin zu untersuchen), verfolgen wir den Rohstoff des Alltags nur am Rande oder übersehen ihn ganz.

    Um ihn für uns zu gewinnen, müssen wir eine Pause einlegen. Für zumindest kurze Zeit müssen wir innehalten im Fluss des Erlebens, etwas zur Seite treten, zurückblicken und uns fragen, was konkret so alles mit uns geschieht, von Tag zu Tag.

    Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein so umtriebiger Künstler wie Andy Warhol (1928–1987) genau das in besonders konsequenter Weise getan hat. Gerade seine Umtriebigkeit und das außerordentliche Tempo seines Lebens brachten ihn jedoch dazu, Tag für Tag etwas Zeit für ein solches Innehalten und Registrieren der eigenen Lebensmomente zu reservieren. Dafür nutzte er ein Medium, das ihm die als lästig empfundene schriftliche Notier- oder Schreibarbeit abnahm. Statt etwas zu notieren, telefonierte er jeden Morgen mit seiner Agentin. Dabei resümierte er die Fakten des zurückliegenden Tages: was im Einzelnen geschehen war, wen er alles getroffen, womit er Berührung gehabt und was er alles getan hatte.

    Samstag, den 14. Januar 1978

    Ging zu einer Vorführung von »The Leopard« in Suzie Frankfurts Haus. Victor war auch da. Sein Begleiter war ein gutaussehender Highschool-Bursche von 17 Jahren aus New Jersey, ein fröhlicher, typisch amerikanischer Sonnyboy. Da kommt also ein Knabe nach New York, trifft Leute wie mich, lernt Victor kennen, geht ins »Ramrod« und sieht sich bei Suzie »The Leopard« an. Danach fährt er wieder zurück und sitzt wieder den ganzen Tag in der Highschool.

    Die mal kürzeren, mal längeren, je nach Lust und Laune geführten Telefonate wurden von seiner Agentin aufgenommen und später abgetippt. Insgesamt soll ihre schriftliche Version mehr als zwanzigtausend Seiten lang sein. Wegen dieses enormen Umfangs konnte man nicht alles veröffentlichen, aber es gibt neben den »Andy Warhol Diaries« auch eine umfangreiche Übersetzung ins Deutsche von über siebenhundert eng bedruckten Seiten, in der zu lesen (jedenfalls mir) jedes Mal viel Vergnügen macht. Außerdem liegt inzwischen auch ein Hörbuch vor, das noch einen zusätzlichen Reiz hat, weil man als Zuhörer ab und zu glaubt, Andy Warhol telefoniere nicht mit seiner Agentin, sondern mit einem selbst.

    Genau mit einem solchen Projekt wollen wir unsere Textprojekte zum autobiografischen Schreiben beginnen. Möglichst Tag für Tag sollten wir mithilfe eines Diktiergeräts die Ereignisse des jeweils vergangenen Tages Revue passieren lassen. Dabei kommt es vor allem auf unsere Spontaneität und Erzähllust an. Wir sollten registrieren und melden, was vom letzten Tag »übrig ist«, und das alles in einem nüchternen, protokollarischen Ton.

    Deutungen und ausführliche Wertungen sollten wir vorerst vermeiden. Wir wollen autobiografischen Rohstoff gewinnen, nicht mehr. Daher kommt es auf die Frische eines Materials an, das wir gerade noch halbwegs in Erinnerung haben. (Schon wenige Tage später ist diese Frische verschwunden, das Erlebte verschwimmt, hat kaum noch Präsenz und geht dann langsam im Dunkel des dagegen hilflosen Gedächtnisses unter.)

    Frische, Präsenz, das Leuchten der kleinen Augenblicke – darum geht es. Wir sammeln lauter Momente, deren Bedeutung für unser Leben uns keineswegs klar ist, die sich jedoch für zumindest einen Tag erhalten und eingeprägt haben. Am besten beginnen wir unser Protokoll mit der Angabe der Uhrzeit beim Aufstehen und durchstreifen dann locker den ganzen Tag, indem wir in stenografischer, verkürzter Manier genau das festhalten, was sich besonders hervortut. Wichtig sind die konkreten Details: Wir haben am Morgen nicht irgendeinen, sondern einen bestimmten Tee getrunken. Wir haben mit unserem Bruder nicht nur telefoniert, sondern während des Telefonats über bestimmte Themen gesprochen. Wir haben am frühen Abend nicht nur TV geschaut, sondern eine bestimmte Sportübertragung gesehen, von der wir noch einige Sätze des Kommentators

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