Legenden um den eigenen Körper
Von Bodo Kirchhoff
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Über dieses E-Book
Kirchhoff bietet eine lebhafte, sehr persönliche und elegante Mischung aus biobibliographischen Berichten und Selbstanalysen, Reflexionen über zentrale Leseerlebnisse und für ihn bedeutsame Schriftsteller. Ein ausgiebiger Blick in die Werkstatt in Form von Auszügen aus Kirchhoffs Romanprojekt und Gedanken zur Lage der Gegenwartsliteratur sowie eine feurige Philippika über den deutschen Kulturbetrieb runden die Vorlesungen ab. Kirchhoff legt die Triebfeder literarischen Schreibens bloß und bringt in einem eigens für diesen Band konzipierten neuen Essay die Geschichte des eigenen Missbrauchs zur Sprache.
Klar umrissene Begrifflichkeiten für eine poetologische Systematisierung lehnt Kirchhoff ab, konzentriert sich auf die Körperlichkeit der Dinge, schreibt über den Männlichkeitswahn eines Hemingway, die Idiosynkrasien eines Kafka und über die Körperlichkeit der Werke moderner, zeitgenössischer Autoren wie Josef Winkler, Marguerite Duras und Hervé Guibert und kommt zu den die Literatur bestimmenden Fragen: "Weshalb bin gerade ich, hier und jetzt, in diesem Körper eingeschlossen? Wo komme ich her, und wo sollte ich hin? Was soll dieses Leben?" ... und: "Gibt es ein Recht auf Glück?"
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Buchvorschau
Legenden um den eigenen Körper - Bodo Kirchhoff
BODO KIRCHHOFF
LEGENDEN
UM DEN EIGENEN
KÖRPER
fva_Logo_Schrift.tifINHALT
Vorwort zur erweiterten Neuauflage
I
Das Kind und die Buchstaben
II
Orthopädische Wahrheit
III
Schreiben und Narzissmus
IV
Dem Schmerz eine Welt geben
V
Auf dem Weg zu einer Sprache der Sexualität (2012)
Zeittafel
VORWORT ZUR ERWEITERTEN NEUAUFLAGE
Im Wintersemester 1994/95 – eigentlich nur vor achtzehn Jahren und doch weiter zurückliegend, in einer Zeit ohne Mobilfunk und Casting-Shows, ohne Vernetzung mit der Welt und dafür dem konkreten Anderen als Spiegel – hatte ich an der Johann Wolfgang Goethe-Universität die traditionsreiche Frankfurter Poetikdozentur. Der Titel meiner Vorlesungen, Legenden um den eigenen Körper, war zugleich Quintessenz einer Poetologie: dass nämlich in jedem Schreiben, meinem ganz sicher, ein Bemühen steckt, sich einen zweiten, besseren Körper zu erschaffen und damit auch das Bild vom eigenen Körper zu korrigieren, soweit man es mit sich vereinbaren kann.
Das Oberflächliche erschien mir immer schon aussagekräftiger als alles Dahinterliegende, das einem als Ergebnis von Spekulationen entgegentritt. Es kommt nur darauf an, das Oberflächliche genau zu lesen und genau davon zu erzählen, dann entsteht, paradoxerweise, ein Sprachkörper mit eigenem Volumen und eigener Tiefe: etwas, das den Autor übertrifft. Getrieben von dem Verlangen, sich selbst zu verbessern, ist man als Schreibender eher ein Schöpfer aus dem Leeren als aus dem Vollen; ich möchte etwas, das ich noch gar nicht kann, aber gerade darum möchte ich es – der Mangel ist der Ansporn. In meinem Schreiben, ja vielleicht der Literatur überhaupt, fällt das, wozu man unfähig ist, ebenso sehr ins Gewicht wie das, wozu man fähig ist. Oder mit einem Vergleich aus der Körperwelt gesagt: Der Antrieb zu einem literarischen Werk, bis das letzte Wort geschrieben ist, ähnelt in seinem Fleiß, seiner Geduld und dem Stück Wahnsinn darin dem Antrieb eines Behindertensportlers, der erst durch das, woran es ihm aufgrund der Behinderung mangelt, zur Form seines Lebens aufläuft.
Die damaligen Vorlesungen (erschienen in der edition suhrkamp, NF 944, und aufgrund meines Wechsels zur Frankfurter Verlagsanstalt längst vergriffen, selbst im Internet und antiquarisch) haben diesem Synergieeffekt von Mangel und Fähigkeit nachgespürt, sowohl am Leben und Schreiben anderer Autoren (wie Kafka, Duras oder Hervé Guibert) als auch an meiner Biographie, wie es der Tradition der Frankfurter Poetikdozentur entspricht. Und in dem Zusammenhang habe ich erstmals über Erfahrungen mit etwas, das heute landläufig Missbrauch genannt wird, berichtet, auch deshalb, weil meine Erfahrungen in den seinerzeit entstehenden Roman Parlando einflossen; als dieser dann 2001 erschien, wurde das jedoch, als ein wichtiger Aspekt des Romans, in keiner einzigen Kritik aufgegriffen, es fehlte die Debatte dazu. Insofern ist Legenden um den eigenen Körper aktueller als damals, zumal in diesem Jahr, 2012, wieder ein umfangreicher Roman von mir erschienen ist, Die Liebe in groben Zügen, bei dem frühe sexuelle Gewalt als ein Aspekt zum Verständnis des Ganzen gesehen werden kann.
Es gibt also mehrere Gründe für eine Neuauflage – mit dem unveränderten Wortlaut der vier gehaltenen Vorlesungen, aber in neuer Rechtschreibung; die fünfte war eine Performance meines Monologs »Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf«, sie wurde hier nicht übernommen, weil das Performative im Zentrum stand. Und nicht übernommen wurden auch die privaten Fotos in dem ursprünglichen Buch, beides zugunsten eines ergänzenden Kapitels (auf Vorschlag und Wunsch meines Verlegers J. U.), das den intimsten Abschnitt der Vorlesungen vertieft, man könnte auch sagen: das die fünfte Vorlesung, die seinerzeit entfiel oder in anderer, theatralischer Form stattfand, als Essay nachliefert.
Im März 2010 erschien im Spiegel (Heft 11) ein sehr persönlicher Beitrag von mir zum Thema Missbrauch unter dem Titel »Sprachloses Kind«, eine Kurzfassung vom Drama der sexuellen Details und ihrer Auswirkungen, die ich in diesem Essay erweitert habe, nicht zuletzt, weil das Echo auf den Artikel immens war, aber auch weil es in den letzten Jahren immer wieder zu Anfragen kam, die sich auf jenen eher kurzen Abschnitt in den Vorlesungen bezogen. Meine unversöhnliche Sicht auf das Internat, in das ich mit elf Jahren kam und das ich im Alter von zwanzig verließ, auf seinen damaligen, sich nicht den Außenstehenden, sondern nur den Ausgelieferten, Wehrlosen offen zeigenden Ungeist in Form versteckter und nackter Gewalt, hat etliche nicht Betroffene, ob ehemalige Lehrer, Erzieher oder Schüler, verstört, ja erbost: als hätte ich mir etwas zusammengereimt oder sei womöglich, typisch Schriftsteller, überempfindlich. Und die Neuauflage der Frankfurter Vorlesungen gibt mir Gelegenheit, in dem Epilog auch darauf einzugehen, wie ein bestimmtes sexuelles Schicksal einmündet in eine bestimmte Schreibgeschichte, die schließlich, und darin liegt das Hoffnungsvolle des Schreibens oder Erstaunliche der Literatur, ihre eigene Richtung einschlägt, sich also emanzipiert von einem Mangel und den Autor gleichsam mitzieht, ihn auf sein Schicksal zurückblicken lässt. Oder weniger gemütlich ausgedrückt: Wenn einen das eigene Schreiben am Ende nicht übertrifft, mehr Qualitäten aufweist als man selbst im Umgang mit dem Sein des Anderen, ist es auch als Legende um den eigenen Körper untauglich. (B. K., Torri del Benaco, Mai 2012)
I
DAS KIND UND DIE BUCHSTABEN
Guten Abend, meine Damen und Herren – fangen wir ganz einfach an, mit einem Satz aus der Rubrik »Vermischtes«: »In den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen.«
Es fällt mir nicht schwer zu erklären, warum gerade solch eine Zeile, erschütternd lapidar, dieser Poetik-Vorlesung vorangestellt ist. Der Sog, den eben jener Satz, Beginn einer Erzählung, vor nun bald dreißig Jahren schon auf mich ausgeübt hat – mir stand damals, erstmalig, ein Weg offen, in der Welt herumzukommen: lesenderweise –, lag nämlich in dem Gefühl, auch an mir, der ich in mich vergraben war, sei in letzter Zeit das Interesse sehr zurückgegangen; und plötzlich sah sich der Leseanfänger eingeladen zu einer Erzählfahrt, in deren Verlauf, so durfte er hoffen, man doch manches erführe über die Ursachen eines derart zurückgehenden Interesses an einem selbst.
Später bin ich dann noch viel herumgekommen, lesenderweise, kehrte aber stets ins Land des Hungerkünstlers zurück; es hat mich bewegt, dieses Land, wie jene schroffen Gegenden, in die hineingeboren zu sein man sich so gern wie schaudernd vorstellt – »… an schönen Tagen«, heißt es dort, »wurde der Käfig ins Freie getragen, und nun waren es besonders die Kinder, denen der Hungerkünstler gezeigt wurde; während er für die Erwachsenen oft nur ein Spaß war, an dem sie der Mode halber teilnahmen, sahen die Kinder staunend, mit offenem Mund, der Sicherheit halber einander bei der Hand haltend, zu, wie er bleich, im schwarzen Trikot, mit mächtig vortretenden Rippen, sogar einen Sessel verschmähend, auf hingestreutem Stroh saß …« Dies kurze Stück (aus der berühmten Erzählung, erschienen 1922) veranschaulicht schon meine Thematik: Schreiben als Legendenbildung um den eigenen Körper, gleichgültig wie kraftvoll oder wie schmächtig, wie anziehend oder abstoßend dieser in den Augen anderer ist; der Schöpfer des Hungerkünstlers hielt bekanntlich nie große Stücke auf seinen Körper; an allem schien es ihm zu gebrechen, was den Körper seines Erzeugers, aufstrebender Prager Kaufmann, auszeichnete. Verglichen mit ihm, war er buchstäblich ein Nobody, wie es im Englischen treffend heißt – dann aber die Worte: »mit mächtig vortretenden Rippen«.
Auf einmal verwandelt sich, schreibend, der Körper dessen, der seinen Mangel an Stattlichkeit selbst herbeigeführt hat, in einen anderen, machtvoll imaginären Körper – den unumstößlichen der Literatur, in dem Fall: jener Erzählung, über die später noch zu sprechen sein wird; zunächst ein weiterer kurzer Text, doch erschienen nicht 1922, sondern 1979 – »Ich habe es wieder zu mir genommen. Es mit Hilfe eines Fotos, welches mich und meine Mutter zeigt, aufgelesen, mit dem kleinen Finger zusammengeschoben, es abgeleckt und verschluckt. Ich habe mir über den Mund gewischt, bin aufgestanden und begann zu posen, was ich jetzt immer noch mache. Ich schaue mich an, diesen unglaublichen Körper mit seinen sagenhaften Einzelheiten, und weiß inzwischen genau: Jene Angst, die alles begleitet, stammt überhaupt nicht von mir.«
Und auch in diesen Zeilen aus meinem Band Die Einsamkeit der Haut das Bemühen doppelter Neuerschaffung: eines unvergänglichen Körpers als Teil der Erzählung (so aussichtslos es sein mag, durch Schlucken des eigenen Samens dessen Verlust auszugleichen) und jenes imaginären, den der Gesamttext verkörpert: nämlich das zu Lesende, die Legende um den gegebenen, durch Torturen des Sports zwar zu verformenden, nie aber zu objektivierenden Körper; erinnern wir uns nur all der Versuche, uns einmal ganz von hinten zu sehen …
In meiner Arbeit ging es von Anfang an, darum das zweite Zitat, um Körper und Schrift, um die Spannungen zwischen Soma und Sema, vermutlich, weil es auch in meinem Leben schon recht früh um diese beiden Pole ging – »Das Kind und die Buchstaben«, heißt daher das heutige Thema. Beim nächsten Mal steht die Wahrheit als eine hergestellte, »Orthopädische Wahrheit« im Mittelpunkt, die Macht und Ohnmacht der Fiktion; in der dritten Vorlesung wird es um »Schreiben und Narzissmus« gehen – etwas, das für sich spricht; oder gegen mich. Und am vierten Abend der Versuch, das Leitmotiv meiner Poetologie, »Legenden um den eigenen Körper«, mit unserer Zeit in Verbindung zu bringen – »Dem Schmerz eine Welt geben«, lautet das Thema. Die letzte Veranstaltung dürfen Sie sich dann als eine Art Theaterabend vorstellen; sie wird an einem anderen Ort stattfinden und einiges von dem, was vorher behauptet wurde, demonstrieren, zum Beispiel, dass jedes Wort im Grunde ein Abtasten des Körpers ist – Titel: »Der Ansager einer Stripteasenummer gibt nicht auf«.
Das Kind und die Buchstaben – wie ließe sich da besser beginnen, als dass ich die Geschichten heranziehe, die mir den eigenen Körper grundlegend interpretiert haben und mich, auf Umwegen, zur Literatur führten, zu jener Art des Schreibens also, bei der man dem Publikum eine bestimmte Sache, seine, vor Augen hält, indem man ihm eine ganz andere zeigt.
Erste Geschichte. Mein Vater – Jahrgang 17 und früh überrollt von den Zeiten – hatte nur ein Bein; er verlor das andere Bein im Krieg, und so lernte das Kind diesen allem vorausgehenden Mann, der weiß Gott mit beiden Beinen im Leben stand, als Einbeinigen kennen. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die, dass ich mit meinem Vater in Hamburg zum Prothesenbauer ging, wie dieser Besuch immer hieß – und was im Kind zunächst auch das Bild eines Bauern hervorrief, der auf dem Feld Arme und Beine anbaut; sprachlos durchstreifte es, während sein Vater diverse Beine probierte, ein verzweigtes Gewölbe, von dessen Decke Hunderte hölzerner Gliedmaßen hingen.
Etwa um diese Zeit, 1952, durfte das Kind zum ersten Mal mit den Eltern ins Kino; es sah die Geschichte vom hölzernen Jungen Pinocchio und glaubte, sich selbst zu erblicken; vor Aufregung machte es in die Hose, man musste das Kino verlassen – »Ich war’s nicht«, soll das Kind gesagt haben, die Eltern ließen das durchgehen, und schon gab es eine Markierung: Man konnte sich vom eigenen Körper zur Not distanzieren. Nach dieser Erfahrung begann das Kind zu zeichnen. Es zeichnete Schiffe im Querschnitt, die es Ozeanriesen nannte, und schuf sich damit provisorische Buchstaben, eine hieroglyphenartige Schrift, dem Schiffskörper entlehnt, schrägen Schornsteinen und p-förmigen Nebelhörnern, Anker und Bullaugen oder dem Kästchenmuster der Kabinen. Seine Tätigkeit war im Grunde mehr Schreiben als Zeichnen, ein Festschreiben jener Distanz zu allem Körperlichen, das ihm nicht geheuer war, seit es dessen Bestandteile von Gewölbedecken hatte herabhängen sehen – zwischen vier und fünf entwickelte das Kind ein Gefühl, das es erst zwanzig Jahre später, mit Hilfe eines anderen, Jacques Lacan, zu benennen vermochte, das Gefühl eines Mangels an Sein – des Mangels, den Heidegger Schuld nennt, unsere Schuld, darin bestehend, dass wir uns nicht selbst erschaffen haben; das Kind jedenfalls, durch künstliche Glieder früh schockiert und früh ermuntert, sollte die Selbsterschaffung fortan versuchen.
Zweite Geschichte. Die junge, schöne Mutter des Kindes strebte danach, eine berühmte Schauspielerin zu werden; sie war folglich mehr im Theater als zu Hause oder zu Hause so gut wie im Theater, laut ihre Rolle lernend, während im Nebenraum wieder ein Ozeanriese Gestalt annahm; und so erfuhr das Kind schon bald, dass Anwesenheit kein natürlicher, die Spitze einer Hierarchie bildender Zustand ist, sondern nur ein Sonderfall der Abwesenheit: eine für das Kind geradezu machtvolle Abwesenheit vorhandener Eltern.
Die Mutter, besessen von der Vorstellung, ihr Nobody-Sein zu beenden, spielte unentwegt Komödien, immerhin auch am Deutschen Schauspielhaus, wo das Kind, manchmal, während der Proben bei der Souffleuse sitzen durfte, und der Vater, besessen von dem Wunsch, etwas herzustellen, Fabrikant zu werden, stand unter dem Druck, Geld für das Nötigste zu verdienen (erstaunlich dicht unter der Oberfläche war er Künstler, mit Leidenschaft einem genauen Zeichnen verpflichtet und vom diffusen Theaterschein eher abgestoßen); er war eigentlich in allem das Gegenteil der Mutter, ohne den Krieg hätten beide nie zusammengefunden (eine neunzehnjährige Wienerin aus bürgerlich-nervösem Haus pflegte, zwangsrekrutiert, einen schwer kriegsverletzten, gutaussehenden Habenichts aus Hannover; dass man sich verliebte, lag so auf der Hand wie die folgende Heirat; und nicht mehr als ein Gerücht ließ dann das junge Paar nach Hamburg gehen).
Die dritte Größe im Leben des Kindes war