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Creatures: Aufsätze zu Homosexualität und Literatur
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eBook346 Seiten4 Stunden

Creatures: Aufsätze zu Homosexualität und Literatur

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Über dieses E-Book

Seit vielen Jahren folgt Dirck Linck den literarischen Spuren kreativer Außenseiter: von Alexander von Ungern-Sternbergs "Physiologie der Gesellschaft" über Hans Henny Jahnns Fehlentwicklungsroman "Perrudja" bis zum Erscheinen des Popkörpers in den Sechzigerjahren und künstlerischen Reaktionen auf die Aidskrise - Hubert Fichte und Josef Winkler nicht zu vergessen. Immer wieder geht es darum, dem Zwang zur Vereindeutigung die Freiheit von Vermischung und Verwandlung entgegenzusetzen, sei es im Umgang mit Geschichte und gesellschaftlichen Verhältnissen, sei es auf Reisen in fremde Kulturen, sei es als Auflehnung gegen die Gewalt von Familie und Norm. Lincks Aufsätze blasen frischen Wind durchs Gehirn und bringen vielleicht sogar saturierte Nordeuropäer wieder ein bisschen in Schwung.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum19. Sept. 2016
ISBN9783863002268
Creatures: Aufsätze zu Homosexualität und Literatur

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    Buchvorschau

    Creatures - Linck Dirck

    Nachweise

    Vorbemerkung

    Die ältesten der hier versammelten Aufsätze wurden in einem Land geschrieben, das es nicht mehr gibt. Zwischen ihnen und heute liegen die zu Beginn der 90er Jahre auch von notorischen Pessimisten nicht vorhergesehenen materiellen und geistigen Verheerungen einer neoliberalen Austeritätspolitik, von der die Nachkriegsordnung Europas zerschlagen und auch die Idee der Sozialstaatlichkeit nachhaltig diffamiert worden ist, jene Idee, die in der Bonner Republik den allmählichen Zugang vorher illegitimer Subjekte zu Öffentlichkeit, Hochschulen und Kunstinstitutionen überhaupt erst möglich gemacht hatte (Subjekte übrigens, von denen man sich eine qualitative Veränderung dieser Öffentlichkeit, mindestens aber eine Vervielfältigung der Perspektiven auf die Welt erhoffte). Zwischen den alten Texten und heute liegt außerdem eine Universitätsreform, die aus der Logik dieser Politik hervorging, von der sämtliche Bereiche des Lebens einem rigorosen unternehmerischen Kalkül unterworfen werden, für das etwa universitäre «Homo-Studien» sich schlicht nicht auszahlen; liegt eine scharfe konservative Wende der schwulen Community, die das Begehren nach Veränderung des Ganzen durch ein Begehren nach Teilhabe am Ganzen ersetzte; liegt zuletzt das individuelle Ereignis einer Erkrankung, die meine Arbeitsfähigkeit zunehmend lahmlegt.

    Das Angebot des Männerschwarm-Verlags, ausgerechnet in dieser prekären Lage eine Sammlung meiner Aufsätze herauszubringen, fand ich nicht nur deshalb verlockend, weil es meiner Eitelkeit schmeichelte. Vor dem Hintergrund der radikalen gesellschaftlichen Transformation, die dadurch entstanden ist, dass alle Felder dieser Gesellschaft und schließlich die Subjekte selbst in den Dienst des souveränen Finanzregimes gestellt wurden, scheint mir vielmehr genau jene Frage, die das Band zwischen den hier wieder vorgelegten Texten knüpft, dramatisch an Dringlichkeit gewonnen zu haben: die Frage, wie Menschen, die komplett ohne Macht sind, eigentlich handlungsfähig werden und bleiben. Wie können Menschen gegen die Verhältnisse etwas werden, also sinnlich-praktisch verhindern, dass sie in ihnen das bleiben müssen, was sie sein sollen? Nicht erst seit der AIDS-Krise sind Schwule auf diesem Kampfplatz erfahrene Veteranen, die wir befragen können. Die Aufsätze, die ich zusammen mit den beiden Verlegern ausgewählt habe, gelten ausnahmslos den vielfältigen Praktiken und Strategien von marginalisierten Homosexuellen, sich Spielräume zu eröffnen und diese zu erhalten. Das Verfertigen von Texten wird dabei konsequent als Praktik neben gleichrangigen anderen Praktiken begriffen. Von Spielräumen handeln die Fabeln der Literatur ebenso wie ihre Sujets. Wie schreiben jene, die nicht über die Macht verfügen, auf die Regeln der Poetik einzuwirken, aber doch öffentlich sprechen möchten? Und wo publizieren sie? Wie schreiben sie, wenn das, was sie vermeintlich definiert, als unnennbar gilt und vielleicht zugleich als etwas zurückgewiesen werden soll, das sie eben nicht oder nicht dauerhaft zu definieren vermag? Wie sprechen sie, ohne sich gänzlich den kulturellen Normen zu unterwerfen, die präzise festlegen, wer unter welchen Bedingungen das Wort ergreifen darf? Welche Masken trägt die schreibende Hand, wenn sie sich immer neu die Chance zur Intervention herausspielen muss? Und was lernten wir für unser Handeln von der Kraft und der Grazie des Handelns anderer, die ebenfalls für Vernehmbarkeit kämpften?

    Die Begriffe des Spielraums und des Spiels verwende ich für meine Lektüren in einem denkbar unemphatischen Sinn. In der deutschen Sprache gibt es die aus dem Bereich der Mechanik stammende eigentümliche Formel des ‹Spiel habens›, die eine gewisse Beweglichkeit innerhalb gegebener Begrenzungen beschreibt. Die Dinge, die nicht völlig festgestellt sind, haben noch Spiel, können sich aber nicht frei bewegen. Sie sind beweglich nur im Rahmen des Raums, den die Grenzen setzen. Ich möchte dieses ‹Spiel haben› in meinen Aufsätzen als eine etwas nüchterne Metapher politischen Handelns erläutern. Die Formel zeigt das Thema der Aufsätze an: queere Beweglichkeit in den Grenzen unwirtlicher Verhältnisse. Als Zeitkunst stellt die Literatur kulturelle Formen dieser Beweglichkeit in der Dynamik ihrer Abläufe dar, indem sie seit Jahrtausenden davon erzählt, wie die anderen Leute Formen für ihr Leben erproben – und sie ist als kritische menschliche Praxis der Abstraktion und Verwandlung selbst eine kulturelle Form dieser ständig neue und nicht feststellbare Formen generierenden Beweglichkeit.

    Die Realisierung eines emphatischen Spielbegriffs hingegen, also das Schaffen wirklicher Bedingungen für ein ganz bewegliches Leben, das als freies Spiel der Kräfte und Vermögen die Geltung von fixierenden Grenzen grundsätzlich in Zweifel zieht, ist nicht mehr eine Sache der Kunst, sondern wäre die Sache einer Revolution. In meinen Aufsätzen geht es um die Literarisierung der historischen Strategien von Schwulen, sich innerhalb der vorgefundenen schlechten Verhältnisse sichtbar und vernehmbar zu machen. Das ist weit weniger als eine Revolution, aber es ist nicht wenig. Und ich würde mir wünschen, mit meinen Texten zu einer Würdigung dieser immer neu in die Verhältnisse eingreifenden Strategien beizutragen, die sich gerade nicht in der Verkörperung einer Identität erfüllen, sondern in der fortwährenden Arbeit am Wandel der Formen.

    Die Texte blieben im Wesentlichen unverändert, sind aber alle noch einmal durchgesehen worden. Sachliche Fehler wurden ebenso korrigiert wie mir fremd gewordene grammatische Konstruktionen, überlebte sprachliche Idiosynkrasien und Aussagen, die mir heute als zweifelhaft erscheinen. Wo ich glaubte, eine Sache jetzt genauer sagen zu können als damals, habe ich es getan. Informationen, die sich für den Leser aus dem Kontext des Erstdrucks ergaben, habe ich für diese Ausgabe nachgetragen. Der Vortrag zum «Camp Genius» erscheint hier zum ersten Male.

    In meinem beruflichen Leben habe ich viel Glück gehabt und deshalb Anlass genug, vielen dankbar zu sein, die am Eintreffen des Glücks beteiligt waren und ohne die meine Texte gar nicht oder jedenfalls nicht so entstanden wären. Erwähnt werden sollten in diesem Zusammenhang neben dem mächtigen Zufall unbedingt die im Gespräch immer wieder allen Uni-Frust wettmachenden Studierenden in Hannover, Siegen und Berlin, die guten Leute in den Hochschulverwaltungen, die nicht gegen, sondern für mich (und damit häufig gegen die Aktenlage) agierten, außerdem meine Kolleginnen und Kollegen am Siegener Forschungsschwerpunkt «Homosexualität und Literatur» sowie am Berliner Sonderforschungsbereich 626 und am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität, schließlich die Mitherausgeber und die Autor/inn/en der Zeitschrift FORUM Homosexualität und Literatur, deren Redakteur ich lange Zeit war.

    Besonderes Glück hatte ich mit meinen «Chefs», weil sie mir über all die Jahre so selten als Chefs begegnet sind. Vor kurzem ist die deutsche Übersetzung des wunderbaren Buchs Rückkehr nach Reims erschienen, das Didier Eribon über die Schwierigkeiten geschrieben hat, sich als Schwuler und Arbeiterkind einen Pfad durch das bürgerlich geprägte Bildungssystem und die dornige Universitätslandschaft zu schlagen. Ohne Glück ist dies noch niemals jemandem gelungen; unterdessen aber hat die Lage sich für Leute mit der falschen Abkunft derart drastisch verschärft, dass wohl auch Glück nicht mehr weiterhilft. Ich danke also Wolfgang Popp, Jürgen Peters, Michael Lüthy, Gert Mattenklott, Gertrud Koch und Joseph Vogl für meine Spielräume in den vergangenen Jahrzehnten. Dem Andenken Gert Mattenklotts sei dieses Buch zugeeignet.

    Berlin, im August 2016

    «Welches Vergessen erinnere ich?»

    Zum Umgang der aufklärerischen Ästhetik mit einem Tabu

    Für Peter Sonntag

    Geschichtsschreibung sieht sich angewiesen auf das Produktionsvermögen Erinnerung. Wir beziehen uns, die Gegenstände der Historiographik legen dies nahe, auf das, was wir erinnern, nicht auf das, was wir vergessen haben. Der Geschichtsschreiber kann aber im Auge behalten, dass er vergisst. Dass er womöglich das Wichtigste vergessen hat. Wir wurden statt dessen daran gewöhnt, uns das Gedächtnis nach dem Modell eines Speichers vorzustellen, in dem Wichtiges aufbewahrt wird. Was nicht aufbewahrt wurde, kann nicht wichtig gewesen sein. Das konnte man vergessen. Mittels dieses Speichermodells gelingt es, aus uns Ähnlichem und uns Unähnlichem einen historischen Raum der Notwendigkeiten und Kausalitäten zu konstruieren, in dem der Punkt unserer jeweiligen Gegenwart immer sinnvoll mit lokalisierbaren Punkten der Vergangenheit verbunden ist. Diese sinnstiftende Form des Erinnerns (Hubert Fichte spricht vom Ich, das im «Drehstuhl» sitzt und «eine überwundene Zeit»¹ überschaut) bestimmt sowohl den Umgang einzelner als auch den Umgang von Gemeinschaften mit ihrer Vergangenheit. Elegische Zeitreflexion versenkt sich in den Schmerz, den das immer neue Abschiednehmen vom glücklichen Moment der Gegenwart bedeutet. Vergangenes Leid mildert sich im Rückblick aus einem glücklichen Jetzt. Vor allem aber: Sich als allzeit avanciert begreifende Modernität versichert sich rückblickend ihrer Erfolge bei dem Versuch, Unzeitgemäßes abzustoßen. Der Erinnernde im «Drehstuhl» führt sich auf diese Weise selbst gedanklich zurück auf die Straße des Erfolgs, die ihn so herrlich weit gebracht hat. Fichte hielt nicht viel von der «Sprache unserer Siegeranalysen und Siegersynthesen»;² sie teile die Welt in Entwickelte und Unterentwickelte. Die Unterentwickelten müssen Entwicklung nachholen. Keiner hat den Konformismus solcher Geschichtsschreibung schärfer und verzweifelter kritisiert als Walter Benjamin in seinen – gegen die Sozialdemokratie formulierten – Geschichtsphilosophische[n] Thesen, in denen er den «Engel der Geschichte» auf «eine einzige Katastrophe» zurückblicken lässt. Benjamin warnt vor der Einfühlung in den historischen Sieger:

    Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugut. […] Der Konformismus, der von Anfang an in der Sozialdemokratie heimisch gewesen ist […], ist eine Ursache des späteren Zusammenbruchs. Es gibt nichts, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom.³

    Und es gibt nichts, was die Schwulenbewegung, was ‹uns› in dem Grade zu korrumpieren vermag wie diese Meinung. Eine Geschichtsschreibung der Sieger scheidet den integrierten und auf Integration bedachten (europäisch-amerikanischen) Schwulen der Gegenwart vom unterdrückten Homosexuellen der Vergangenheit und zugleich von der mitlebenden Klemmschwester, der exzentrischen Tunte, dem aufgeputzten Ledermann, den Homosexualitäten der großen Rest-Welt. Der auf Gleichheit und ‹Normalität› pochende Schwule liefert den Maßstab, an dem Tunte und Klemmschwester und überhaupt alle sich gefälligst orientieren sollen.

    Siegergeschichte aber erschwert Selbst- und Zeitreflexion: Ausgeblendet bleibt hier nämlich, in welchem Ausmaß die Erinnerung ein Prozess ist, der das keineswegs überwundene Vergangene ständig verändert und herstellt. Fritz Mauthner nannte die Anstrengung der Erinnerungskraft «journalistisch im höchsten Sinne».⁵ Ihr Interesse sei immer das des Tages, also der Gegenwart.⁶ Noch dort, wo Erinnerung sich unwillentlich einstellt, passt sie die Gelegenheit des aktuellen Augenblicks ab, um mit Vergangenem gegen die Idee vom Fluss der Zeit zu intervenieren. Die Vorstellung vom Gedächtnis als Speicher lässt nicht zu Bewusstsein kommen, dass Vergangenes im Heute nicht nur aufgehoben, sondern auch wirkend präsent ist, als Ungleichzeitigkeit nämlich. Adorno hat in Minima Moralia deshalb Jean Pauls Satz von den Erinnerungen, die uns niemand nehmen könne, ausdrücklich nicht zugestimmt. Adorno gibt zu bedenken, dass auch «die seligste Erinnerung» widerrufen werden könne «durch spätere Erfahrung».⁷ Weil Erinnerungen zerstörbar sind und sich wandeln, warnt Adorno davor, ein «Archiv seiner selbst» anzulegen; dabei nämlich beschlagnahme

    das Subjekt den eigenen Erfahrungsbestand als Eigentum und macht ihn damit wieder zu einem dem Subjekt ganz Äußerlichen. […] Erinnerungen lassen sich nicht in Schubladen und Fächern aufbewahren, sondern in ihnen verflicht unaufhörlich das Vergangene sich mit dem Gegenwärtigen. […] Gerade wo sie beherrschbar und gegenständlich werden […], verschießen die Erinnerungen wie zarte Tapeten unterm grellen Sonnenlicht.

    Homosexuelle haben zwei Geschichten: eine, in der sie sich nicht wiederfinden, und eine, die sie nicht finden. Nicht wiederfinden können und wollen sie sich in der Geschichte des wollüstigen Sodomiten, des kranken Päderasten, der unglücklichen Tante mit starker Mutterbindung. Nicht finden können Homosexuelle in den Archiven eine eigene Geschichte mit eigenen Bildern, Überlieferungen, Wörtern. Ihre Geschichte ist zusammengesetzt aus Wörtern und Bildern, die nicht von ihnen gemacht wurden, mit denen sie aber gleichwohl gelebt und gearbeitet haben. Darüber lässt sich reden. Das Eigene liegt dann in der Art und Weise des Umgangs mit dem Fremden. Alternativ hat sich die Vorstellung herausgebildet, es ließe sich der Geschichte absagen, es ließe sich eine Gegengeschichte schreiben, die zu zeigen vermag, wie ‹wir› wirklich sind, und die in der Selbstdarstellung ohne die fremden Wörter und Bilder auskommen könne. Homosexuelle, die beginnen, sich ihre vorenthaltene Geschichte zu erarbeiten, laufen wie die Angehörigen anderer gesellschaftlich marginalisierter Gruppen Gefahr, dabei fundamentalistisch zu werden. Emanzipationsgeschichte wird so in doppelter Weise zu einer Siegergeschichte des Vergessens: Sie vergisst aktualisierbare historische Alternativen, die sich bislang nicht durchsetzen konnten, und sie vergisst, dass jene Formen der Homosexualität und des Redens über Homosexualität, die sich als ‹emanzipativ› durchgesetzt haben, tief geprägt sind von den Verhältnissen, in denen sie sich durchsetzen konnten.

    Ich habe, als ich mich auf die Mitherausgabe einer lesbisch-schwulen Literaturgeschichte vorbereitete und erneut die Texte einer öffentlich werdenden Rede der Homosexuellen las, die Schriften von Karl Heinrich Ulrichs zum Beispiel und die von Magnus Hirschfeld, ich habe mich, als ich das alles las, an Kafkas Rotpeter erinnert. Diese Texte und jene literarischen Werke, die in ihrem Kontext entstanden, sind beinahe allesamt Berichte für eine Akademie. – Nur dass der zivilisierte Affe Rotpeter beim Berichten bedenkt, was ihm passiert ist.

    Rotpeter lehnt höflich das Ansinnen der Akademie ab, er möge doch vom «äffischen Vorleben»⁹ berichten. Nicht, dass er etwas zu verschweigen hätte. Rotpeter hat die «Erinnerungen der Jugend» vergessen, und er weiß, dass seine erfolgreiche Entwicklung, die ihn erst berechtigt, in einer Akademie zu sprechen, «unmöglich gewesen [wäre], wenn ich eigensinnig an meinem Ursprung hätte festhalten»¹⁰ wollen. Er hat sich auf die Höhe einer fortgeschrittenen Kultur gebracht, indem er sich mit ihr synchronisierte. Rotpeter erinnert sich genau an ein Vergessen. Entwicklung ist, gibt er der Akademie zu verstehen, nur durch den «Verzicht auf jeden Eigensinn»¹¹ zu haben. Und Rotpeter weiß, dass er sich nicht freiwillig synchron schaltete. Er redet von Machtverhältnissen. Ehemals «freier Affe» von der Goldküste, war er eingefangen worden und hatte seine Entscheidung, wie es weitergehen sollte, in einem Käfig zu treffen. Der stand im Bauch eines Schiffs, das ihn in die Kultur brachte, nach Europa. Der Entscheidung Rotpeters blieb also «immer vorausgesetzt, daß die Freiheit nicht zu wählen war».¹² Rotpeter redet über «Auswege». Einer wäre das freie Meer gewesen. Auf dem hätte er ein Weilchen geschaukelt und wäre dann ersoffen. Die beiden anderen Auswege sind: «Zoologischer Garten oder Varieté».¹³ Der Zoo steht für erneutes Käfigleben. Rotpeter geht zum Varieté und lernt. Er lernt, Menschen nachzuahmen. Er lernt, was in einem Varieté zu lernen ist: Dinge zu tun, die niemand freien Willens tun würde. Manchmal verbrennen die Menschen ihm das Fell, damit er schneller lerne. Im Wesentlichen aber lernt er, um aus dem Käfig herauszukommen. Er lernt «rücksichtslos», weil er muss, das Spucken zuerst, dann das Schnapstrinken, vorzüglich aber den Handschlag, denn der «bezeugt Offenheit».¹⁴ Wer in menschlicher Gesellschaft leben will, begreift Rotpeter, muss stilisierte Kommunikationsweisen beherrschen, die Distanz überbrücken. Er muss, will er gegen ihn gerichtete Aggressionen abwehren, sein verhülltes Inneres auf entwaffnende Weise in eine äußerlich erkennbare Erscheinungsform des Verhaltens bringen, den Handschlag. Um die Menschen davon zu überzeugen, dass er kein unberechenbarer Affe mehr ist, muss er Menschenverhalten glaubhaft nachahmen können. Das – sich durchschaubar zu machen und sich als Jedermann zu inszenieren – müssen schwule Rotpeter, die Integration wollen, im gesellschaftlichen Zirkus auch lernen. Sehr erwünscht ist, dass sie in ihrer Rolle aufgehen. Mit seiner Kunst, dank seiner Kunststücke macht Rotpeter jene Karriere, die ihn geradewegs in die Akademie führt. Er wiederholt aber eigensinnig: «Es verlockte mich nicht, die Menschen nachzuahmen; ich ahmte nach, weil ich einen Ausweg suchte, aus keinem anderen Grund.»¹⁵ Und Rotpeter redet, wenn er sich an sein Vergessen erinnert, von dem Preis, den er für seine Entwicklung zu zahlen hatte, denn durch diese Entwicklung verschlossen sich ihm «die Erinnerungen immer mehr»:

    War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärts gepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger […], der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist er nur ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt.¹⁶

    Ich habe diesen Umweg über Kafkas Ein Bericht für eine Akademie genommen, weil dieser Text einer der sehr großen Texte über unseren Umgang mit Geschichte, Bildung, Entwicklungsmodellen und kultureller Differenz ist. Ich erinnere an Rotpeters Entwicklungswissen, um Zweifel an der These zu säen, dass die Geschichte der Literarisierung von Homosexualität sich umstandslos als Emanzipationsgeschichte, als Geschichte zum ‹Eigenen› hin, erzählen lässt. Rotpeters Rede legt nahe, sie vielmehr als eine Geschichte der Disziplinierung, des Vergessens und der Eliminierung von Ungleichzeitigkeit zu untersuchen. Und sie legt nahe, die Formen der ‹eigenen› Rede als Ausweg zu begreifen. Immer vorausgesetzt, dass die Freiheit nicht zu wählen war. Den Blick so eingestellt, möchte ich die deutsche bürgerliche Ästhetik der Aufklärung als den Käfig vorstellen, in dem Homosexuelle, die sich öffentlich erzählen wollten, ihre Auswege entwickelten, die sie allerdings so selten nicht mit Freiheit verwechselten. Das ist etwas anderes, als auf die Bedingungen verhüllter und chiffrierter Rede zu verweisen. Ich bin interessiert an den Bedingungen jeder literarischen Rede über Homosexualität, weil gerade das vermeintlich offene Sprechen sich der Käfigordnung fügen musste. Am Ende will ich dann aber auch an den Luftzug aus der vergessenen äffischen Freiheit erinnern, der manchmal noch Rotpeters Fersen kühlt.

    «Welches Vergessen erinnere ich?»¹⁷ Die Frage stammt von Hubert Fichte, der in einem riesigen Werk, das sich auch seinem Interesse an der Struktur des individuellen und des kollektiven Gedächtnisses verdankt, ein polychrones Erzählen entwickelte, in dem verschiedene Vergangenheiten als gleichzeitig präsent erscheinen. Fichte hat dieses Interesse am aus vielen fortwirkenden Vergangenheiten zusammengesetzten Ich¹⁸ stets mit dem Interesse an einer Homosexualität verknüpft, die gekennzeichnet ist durch Geschichtslosigkeit. Er sucht das ‹Eigene› nicht in einer von der Unterdrückung vermeintlich zugestellten wahren Geschichte, sondern in der spezifischen Polychronie des Bewusstseins und des Verhaltens von Homosexuellen. In der geschichteten Innerlichkeit des Schwulen ist Geschichte als Käfigerfahrung und als auf sie reagierender Lernprozess, als Gefahrensituation und als Entwaffnungstaktik zugleich vorhanden. Synkretismus ist nur ein anderes Wort für Polychronie.

    In Fichtes Versuch über die Pubertät erfährt der im Augenblick seine Homosexualität realisierende Erzähler einen Erinnerungssturz, den Fichte erzählerisch als Polychronie organisiert:

    Eine Tunte! Eine Tunte! Eine Tunte! Ein Warmer! Ein Lauwarmer! Ein Warmer Bruder! Ein Huch-Nein! Eine Töhle […]! Eine Triene! Eine Schwuchtel! Ein Arschficker! […]

    Ich bin Gründgens, Patroklos, Plato, Lionardo, Michelangelo, Buxtehude, Mozart, Friedrich der Große usw. – ein ganzes Stollwerckalbum.¹⁹

    In dieser präsentisch erzählten Passage sind die von außen an den Homosexuellen herangetragenen Schmähungen und die zu ihrer Abwehr konstruierte Kette der Namen vermeintlich homosexueller Genies – mit solchen Ketten erschleicht man sich Kontinuität – in den Homosexuellen hineinverlegt worden. Hier bleibt nichts äußerlich. Martin Dannecker hat in seiner Studie Der Homosexuelle und die Homosexualität die scheinbar emanzipative Setzung einer homosexuellen Wirklichkeit, die mit den historisch tradierten homophoben Bildern vom Homosexuellen nichts zu tun haben soll, als «Mystifikation mit positiven Vorzeichen»²⁰ bezeichnet. Sie ignoriere, dass Zuschreibungen und Tabus verinnerlicht würden und deshalb Teile der homosexuellen Wirklichkeit blieben. Sie ignoriere außerdem, dass homophobe Bilder mitunter Folge richtig gesehenen, aber unangemessen interpretierten differenten homosexuellen Verhaltens seien. Eine vom Faktischen absehende Selbstdarstellung – Dannecker nennt beispielhaft das Beharren darauf, nicht so promisk zu leben, wie man es mehrheitlich tatsächlich eben doch tut – verfalle der «Ideologie von der Gleichheit der Homosexuellen» und kümmere sich bei ihrem Versuch, Homo- und Heterosexuelle zu synchronisieren, weder um die historisch gewachsene «reale Diskrepanz noch um ungleichzeitige Entwicklung».²¹ Die Verachtung, die Homosexuelle dem bemerkbar differenten Homosexuellen entgegenbringen, dessen Verhalten sie als Bedienung der ‹falschen› Bilder interpretieren, gilt dem Fortdauern einer vermeintlich überholten Vergangenheit. «Tunten zwecklos.» Tunten kann man vergessen.²²

    Danneckers Argumente gegen die «Normalisierung» des Homosexuellen durch den Homosexuellen halte ich für hilfreich beim Nachdenken über das Thema der Tagung, für die ich diesen Text schrieb, über «Erinnern und Wiederentdecken», über «Tabuisierung und Enttabuisierung der Homosexualität in Wissenschaft und Kritik». Diese Normalisierungsversuche vollziehen für den gesellschaftlichen Raum einen Normalisierungsversuch nach, der in der neueren Literaturgeschichte als Enttabuisierung eines tabuisierten Gegenstandes erscheinen kann.

    Männerliebe wird im 19. Jahrhundert Thema und Gegenstand einer Literatur, die weiterhin im Banne jenes mächtigen Tabus stand, das die Tabuisierung der Männerliebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts erzwungen hatte, weil es forderte, dass ästhetische Rede nicht unabhängig von ethischen Normen formuliert werden dürfe. Wenn aber die Zusammenschaltung von ästhetischer und moralischer Rede bestehen blieb, ist zu fragen, welche Männerliebe enttabuisiert und darstellbar wurde. Das in der Aufklärung geschlossene Bündnis von Ethik und Ästhetik möchte ich verfolgen als die Ursache der Tabuisierung und beschreiben als den Rahmen, der die Form der Homosexualität definierte, die dann, vermeintlich gegen das Tabu, literarisch zulässig wurde. Kein wie auch immer bebildertes Stollwerckalbum ändert ja etwas daran, dass Männerliebe in der deutschen Literatur vor Platen kaum vorhanden ist, nicht als Gegenstand der Selbstartikulation und nicht als Thema oder Stoff der Fiktion.

    Jedes Erinnern ist immer auch das Erinnern eines Vergessens, weil jede Erinnerung sich auf ein Ganzes bezieht, das ihr fehlt. Goethe schreibt am 29. Dezember 1787 an seinen Herzog, dass er von der «Liebe der Männer unter einander», die ihm in Rom vor Augen gekommen sei, «kaum reden, geschweige schreiben» könne, will die «Materie» aber doch in «künftigen Unterhaltungen»²³ ausbreiten. Von denen wissen wir nichts. Sie sind vergessen – daran erinnert Goethes Brief. Die Texte und Namen, die wir erinnernd zusammentragen, sie beziehen sich auf eine homosexuelle Vergangenheit, von der wir wenig wissen, auf nie geschriebene Bücher, auf vergessene Wörter und vergessene Menschen. Auf Scham. Die Literatur der Aufklärung und die Ästhetik, auf der sie beruht, bilden einen Diskurs der Vernünftigkeit, der die Ausgrenzung des Homosexuellen notwendig machte. Wer das verstehen möchte, muss ernstnehmen und nachvollziehen, dass der und das Homosexuelle in dieser Zeit nur im Begriff des radikal Bösen fassbar waren.

    Dies musste am Beginn der Aufklärung noch nicht ästhetische Ausgrenzung bedeuten. Grimmelshausen war am Alltag interessiert gewesen. Laster inklusive. Die neue Gattung des Romans, dessen offene Form ja auf Vielfalt angelegt ist, schien am Übergang von der höfischen zur bürgerlichen Kultur, von der christlichen Gesetzesethik zur naturrechtlich organisierten Kommunikationsgesellschaft neue Freiräume zu bieten. Der Reichtum der Barockliteratur, die relativ frei von klerikaler Bevormundung hatte entstehen können, stand in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft auch der zunächst noch kleinen bürgerlichen Bildungselite zur Verfügung. Potenziell wenigstens. Der Reichtum wurde bemerkt, gelobt wurde er nicht. Der ernsthafte Gotthard Heidegger sieht sich 1698 beim Lesen der «Romanen» und beim Schreiben seiner Mythoscopia Romantica mit einer ganz und gar polizeiwidrigen Ordnung konfrontiert, mit dem Laster:

    Lüsterne Brunsten / Sehnungen / Eifersuchten / Rivalitaeten oder (teutsch mit ihnen zureden /) Samthoffnungen / Liebes=Liste / Nacht= und Hinder=Thür oder Fenster=Visiten / Küsse / Umbarmungen / Liebesohnmachten / Butzwerk / Hahnrehen / Buhler=Träume / Gärten / Palläst / Lust=Wälder / Schildereyen / Götzen=Tempel / Musicen / Däntze / Schau und Ritter=Spiele / Entführunge / Irr=reisen / Verzweiflungen / begonnene und vollbrachte Selbstmörd / Zweykämpff / See=Stürm / Gefangenschafften / Kriege / Blutbäder / Verkleidungen / Helden / Heldinnen / Wahrsagereyen / Beylager / Krönungen / Feste / Triumphe.²⁴

    Hier wäre doch wohl, möchte man meinen, auch für die Sodomiterei noch ein Plätzchen zu finden gewesen. Lohenstein hatte ja einen Platz für sie gefunden. Im Rückblick erscheint

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