Dämmerungen: Nachtgang eines Autors
Von Andre von Bern
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Buchvorschau
Dämmerungen - Andre von Bern
Vorbemerkung
Ich habe Theodor Moll bei einer seiner Lesungen kennengelernt. Das ist nun einige Jahre her. Er las nicht selbst, sondern saß auf dem Podium neben seinem Verleger und verfolgte dessen Vortrag mit wachen Kinderaugen. Mir kam es vor, als würde Moll den Text, der ja von ihm stammte, zum ersten Mal hören. Warum er nicht selbst las, kann ich nicht sagen. Vielleicht war er zu schüchtern, oder er wollte eine andere Stimme hören, um seiner eigenen wie von außen zu begegnen.
Drevsen war ausgezeichnet vorbereite und bewies, wie tiefgreifend komisch und durchaus verständlich die Sätze Molls sind. Ich gebe zu, dass ich manches zuhause mehrmals gelesen habe, ohne es ganz zu verstehen und das Franz Drevsen mir durch diese eine Lesung einen Schlüssel übergeben hat, mit dem ich an Molls Werk jetzt noch einmal ganz neu herangehe. Ich höre Drevsens Stimme, wenn ich lese, ich rufe sie herbei, wenn ich stocke. Dank seiner Interpretation erschließen sich mir die scheinbar kryptischen Sätze, die in Wirklichkeit klar wie Schneeflocken sind.
Übrigens bin ich mir inzwischen nicht mehr sicher, wessen Stimme in mir anklingt, wenn ich Moll lese, die von Drevsen oder meine eigene, oder, wer weiß, die von Moll, die ich allerdings nie gehört habe. Denn noch vor Ende der Lesung wurde Moll unruhig, erhob sich unauffällig, soweit das auf einem Podium, welches den Betreffenden zur Geltung bringen soll, möglich ist, und verließ leise den Saal. Drevsen schaute nicht auf und las unbeirrt weiter. Er hatte wohl damit gerechnet. Die druckfrischen Bände, die anschließend über den Tisch gingen, waren bereits signiert. Moll tauchte an diesem Abend nicht wieder auf. Ich habe ihn seitdem, trotz mancher Bemühungen, auch nicht wieder gesehen.
Wenn ich Moll lese habe ich den Eindruck, die klassische Moderne sei noch lebendig. Jedenfalls sind die Wunden, die sie gerissen oder aufgedeckt hat, (was vielleicht ein und dasselbe ist) bei ihm frisch geblieben.
Dass ich, als unterbezahlter Privatdozent der Germanistik, mich diesem ja wohl eher unbekannten Autoren angenommen habe, hat nicht nur damit zu tun, dass auch in mir die klassische Moderne noch lebt. Und es hat übrigens auch nichts damit zu tun, dass ich mich scheue, die Bibliotheken an Sekundärliteratur zu wälzen, die manchen großen, alten Namen wie einen Sarkophag ummanteln, um nach langer Forschung einen weiteren Ziegel von tausend Seiten in die Gruft einzulassen.
Nein, der Grund meiner Auseinandersetzung mit Moll ist im eminentesten Sinn persönlicher Art. Und ob Moll verkannt ist oder nicht, das zu entscheiden überlasse ich Anderen.
Viel habe ich über Theodor Molls Privatleben nicht herausfinden können. Eine Zeit lang vermutete ich, dass Franz Drevsen selbst der Autor sei und der angebliche Theodor Moll ein zu früh gealterter Student, von Drevsen klug in Szene gesetzt.
Inzwischen weiß ich mehr. Ich weiß, dass Moll damals von Hamburg aus elbabwärts in einer Ortschaft hinter Cranz wohnte, die Königreich heißt. Es handelt sich dabei nicht einmal um ein Dorf, sondern um ein zusammengewürfeltes Häuflein von Häusern, umgeben von ein paar Wiesen und Apfelplantagen. Mir kam gleich der Verdacht, dass nur der Name der Ortschaft Moll dahin gelockt haben konnte. Er hat ja die Gabe, sehr gewöhnliche Dinge durch Namen oder Beschreibungen aufzuwerten. Mir jedenfalls sagte der Ort nicht zu und ich empfehle ihn auch nicht als Ausflugsziel. Aber das soll jeder für sich entscheiden.
Im Übrigen weiß ich nicht, in welchem der Häuser Moll wohnte. Die Anwohner behaupten, ein Mann dieses Namens sei ihnen unbekannt. In den Augen einer älteren Dame schien mir bei der Frage nach Moll jedoch etwas aufzublitzen. Aber sie winkte gleich ab und ließ mich stehen. Ihr fleischiges Gesicht, das schreckliche Blümchenkleid und die ausgetretenen Hausschlappen werde ich allerdings so bald nicht vergessen.
Franz Drevsen kannte das Haus aber schwieg und schweigt immer noch. Moll hat ihn darum gebeten, obwohl er dort gar nicht mehr wohnt. Er ist seit längerer Zeit verschwunden. Wo er sich aufhält, weiß auch Drevsen nicht – behauptet er wenigstens. Ab und zu kommt eine Diskette, da Moll nicht versteht, wie man einen Text als Anhang mailt und sich weigert, es zu erlernen.
Ich habe also nur sehr wenig Informationen über Moll sammeln können, zu wenig, um mir ein umfassendes Urteil über ihn anmaßen zu dürfen. Möglich, dass er inzwischen irgendwo in Asien oder Ozeanien weitaus weniger zurückhaltend lebt.
Gleichwohl, vieles über ihn ist mir allein durch die Lektüre seiner Bücher aufgegangen, weniger Faktisches, als vielmehr ein bis zur Greifbarkeit sich verdichtendes Fluidum, welches wie aus der Haut seiner Texte hervor quillt. Ich befürchte manchmal, dass neue Informationen über Moll dies Bild erschüttern könnten, wie wenn jemand herausfände, dass die berühmte Orgel-Toccata in d-Moll einer anderen Hand als der Bachs entstammte. (Dies wird von manchen Wissenschaftlern hartnäckig behauptet, und einige der innigsten Verehrer Bachs sehen jetzt nicht nur ihr Bach-Bild beschädigt, sondern in Wirklichkeit auch sich selbst. Kommt vielleicht der Komponist der Toccata ihrem Bach-Bild nahe, ohne Bach zu sein? Wer ist dann Bach?) Nun ist aber Moll trotz der spärlichen Fakten so sehr ein Teil meiner selbst geworden, dass ich mich entschlossen habe, sein Bild – wenigstens in der bescheidenen Form eines einzigen Tages und einer Nacht – vor mir aufzurichten, auch wenn (oder bevor!) es vielleicht eines Tages durch neue Erkenntnisse zerstört werden wird. Es ist eben mein Theodor Moll. Wer fragt heute schon danach, wer die echte Mona Lisa war?
Anselm Zwirner
1. Bulletin
Moll wusste nicht warum und fragte nicht mehr danach. Und wenn er doch einmal fragte, nützte es nichts. Vielleicht nützte es auch etwas, aber das zeigte sich ihm nicht. Er war erstarrt. Erstarrung ist möglicherweise das falsche Wort: Etwas regte sich in ihm. Da war ein Jammern und Wehklagen, ein saugendes Loch, durch den ein Wasserstrudel sich dreht, ein Gift, welches den Sauerstoff aus seinem Blut zog.
Er saß an seinem Schreibtisch, betrachtete das leere Blatt, den Kugelschreiber in seiner Hand, den Kaktus, den Garten jenseits der Scheibe. Er ließ sich Zeit.
Jetzt malte er Formen an den Rand des Papiers: Ein Dreieck; ein Viereck; ein Fünfeck; einen Hund; eine Krähe, die auf dem Hund sitzt; ein Flugzeug; eine Bananenstaude; ein kleines Kind; einen Waran, der das Kind frisst. Er zog ein Rechteck, um es mit eigentlichen Gedanken zu füllen. Er drückte die Spitze des Kugelschreibers aufs Blatt, doch da erstarrte die Hand.
Dem Wort eines in Vergessenheit geratenden Dichters zufolge sind Leiden „Taten nach innen". Starke Taten nach innen gehen starken Taten nach außen voraus, glaubte Moll, und der Schmerz, den er gerade ertrug, ging aus einem Bekenntnis zum Eigentlichen hervor. Die Suche nach dem Eigentlichen hinderte ihn am ersten Satz.
Eine Weile betrachtete er die Punkte, die sich wie kleine Fliegen im oberen Eck des Papiers tummelten. Jeder erzählte die Geschichte eines zurückgenommenen Gedankens. Moll zerknüllte das Blatt und zog ein Frisches aus der Packung.
Er verbat sich, die Spitze des Kugelschreibers ins Blatt zu drücken. Auch gestattete er sich nicht mehr, kleine Zeichnungen an den Rand zu kritzeln. Nun fehlte ihm auch der Grund, sich frische Blätter aus der Packung zu ziehen. Schade, das schneidende Schleifen hatte ihm gefallen.
Eine Weile dachte er darüber nach, sich in eine Ecke zu stürzen. Doch war das eigentlich? Folgte es einem authentischen Impuls? Nein! Zwischen Schmerz und Impuls nistete das fahle Kalkül, die dramatische Selbstinszenierung des eigenen Leidens.
Selbstgeißelungen waren immer Orgien der Lust, da war er sich sicher. Die Flagellanten ergötzten sich an dem, was sie zu bekämpfen vorgaben. Ein interessanter Betrug.
Moll tat nun nichts mehr, außer da zu sein. Es gab nichts mehr zu tun. Auch glaubte er, für den Schreibtisch nicht geboren zu sein. Er glaubte aber, im Schmelztiegel des Schmerzes umgeschmolzen zu werden. Solche Umschmelzungen waren jetzt überall nötig, da viele Menschen zu nichts mehr geboren waren. Moll fühlte sich Zeit seines Lebens zu etwas geboren, wusste aber nicht zu was. Er beneidete die, die sich zu nichts geboren fühlten. Frank und frei lebten sie, wie es ihnen gefiel. Und das tat er jetzt auch: Er ging in die Küche und kochte