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Der Mond der Cardin
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eBook1.174 Seiten17 Stunden

Der Mond der Cardin

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Über dieses E-Book

Liebe und große Leidenschaften, dunkle Geheimnisse und ferne Länder, Themen wie Krieg und Antisemitismus, Wahnsinn, Drogen und Rock - dieses Buch erzählt chronologisch fortlaufend und fesselnd die Geschichten mehrerer Generationen.Als die blutjunge, lebenshungrige Helena zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ihrer wohlsituierten Familie durch eine erzwungene Heirat entflieht, ahnt sie weder, welche Geheimnisse auf ihrer Existenz lasten, noch welche dramatischen Schicksalsschläge ihr bevorstehen:In einer der schlimmsten Zeiten ihres Landes muss sie sich auf sich alleine gestellt mit ihren beiden Kindern durchschlagen, ums nackte Überleben und um ihre große und doch so schwierige Liebe kämpfen, alles daran setzen, ein verfallenes Gehöft wieder aufzubauen, das ein Zuhause für ihre große Familie werden soll. Sie ahnt nicht, dass Geschehnisse aus ihrer Vergangenheit sie einholen und künftige Ereignisse sie bis an ihre Grenzen treiben werden.
SpracheDeutsch
Herausgebernovum publishing
Erscheinungsdatum12. März 2013
ISBN9783990380277
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    Buchvorschau

    Der Mond der Cardin - Tanja C. Rheinheimer

    Impressum

    Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

    Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

    Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

    © 2012 novum publishing gmbh

    ISBN Printausgabe: 978-3-85022-791-9

    ISBN e-book: 978-3-99038-027-7

    Lektorat: Susann Säuberlich

    www.novumverlag.com

    Widmung

    Für Léon Robin

    und Roland

    und

    für meine Familie

    und meine Freunde

    und für die,

    die bereits vorangegangen sind

    und die ich immer in meinem Herzen trage.

    Einleitung

    „Das Universum im Sandkorn sehen und

    das Paradies in einer Blume,

    das Unendliche in Deiner Handfläche halten

    und in einer Stunde die Ewigkeit bemerken."

    WILLIAM BLAKE

    Zufall ist nur der Ausdruck unserer Unfähigkeit,

    den Dingen auf den Grund zu kommen.

    ALBERT EINSTEIN

    Gott würfelt nicht.

    ALBERT EINSTEIN

    Zufall ist ein Wort ohne Sinn;

    nichts kann ohne Ursache existieren.

    VOLTAIRE

    Vorwort

    Zum besseren Verständnis der ungewöhnlichen Form dieses Buches seien mir ein paar erklärende Worte gestattet.

    Das vorliegende Buch war nie in dieser Form geplant. Auf die Idee seiner Entstehung kam ich erst, als ich all die Schriftstücke zum zweiten Mal durchging, die Vater, Mutter, Robert und Marie der Nachwelt hinterlassen hatten. Maries Briefe wurden uns nach Kens Tod, seinem Willen gemäß, zugesandt, und Mutter bewahrte sie zusammen mit Vaters, Roberts und ihren eigenen Notizen in ihrem Schlafzimmer auf.

    Beim ersten Durcharbeiten machte es mich einfach nur traurig, diese Einblicke in das Leben der Mitglieder meiner Familie erst dann gewährt zu bekommen, als es zu spät war. Ich verwahrte die Schriftstücke sorgfältig, aber außerhalb meiner direkten Reichweite in einem Schließfach der Bank auf, damit ich nicht Gefahr lief, beim Suchen zufällig auf sie zu stoßen.

    Doch wenn ich sie auch aus meinen Räumen verbannen konnte, so konnte ich sie doch nicht aus meinen Gedanken verbannen. Ein paar Monate später packte ich den Stier bei den Hörnern und nahm alle Dokumente wieder mit nach Manderville, dieses Mal las ich sie mit der ihnen gebührenden Zeit und Aufmerksamkeit.

    Was mich beim Lesen unterschwellig faszinierte, war die Erkenntnis, dass all diese Menschen von Manderville, die doch unter so ähnlichen Grundbedingungen gelebt hatten, die Welt aus völlig verschiedenen Blickwinkeln sahen.

    Nicht nur, dass jeder von uns seinen eigenen Charakter besaß, nein, es war mehr. Es schien so, als habe jeder sein eigenes Mäntelchen aus Vorgeschichte, Neigungen, Geheimnissen und Schuldgefühlen zu tragen. Beim oberflächlichen Betrachten schien es kaum Gemeinsamkeiten in unserer Familie zu geben.

    Und doch gab es sie. Uns allen gemein ist die Neigung, die Welt als ein dramatisches Bühnenstück zu sehen, bei dem man stets auf das Schlimmste gefasst ist. Wir haben einfach gemeinsam zu viele Tragödien durchlebt, um wirklich unbeschwert sein zu können. Unterschiedlich ist nur, was wir aus dieser steten, leisen Angst gemacht haben, wie bewusst wir damit umgegangen sind.

    Als eine weitere Gemeinsamkeit fiel mir die künstlerische Komponente auf, die in unserer Familie stark zutage tritt und sich in den unterschiedlichsten Tätigkeiten manifestierte.

    Dazu gehört wohl auch der Hang zur Schriftstellerei, der bei uns allen mehr oder weniger stark ausgeprägt vorhanden ist.

    Eben diesen Hang machte ich mir zunutze, als ich nach der zweiten Durchsicht der Schriftstücke alle meine noch lebenden Geschwister bat, ein paar Jahre in der Chronologie unserer Familie zu übernehmen und aus ihrem Blickwinkel die jeweiligen Ereignisse zu schildern, damit ich daraus ein Buch machen könne. Nur in der Gesamtheit konnten die Geschehnisse in unserer Familie vollständig wiedergegeben werden. Auf diese Weise konnte das Buch seinen Anfang finden, bevor meine persönlichen Erinnerungen einsetzen.

    Zu meiner Freude kamen sie meiner Bitte ohne Ausnahme nach. Eine kleine Einschränkung wurde verschiedentlich geäußert, der ich mich aber gerne fügte: Der Ort, an dem sich der Manderviller Hof befindet, sollte verschwiegen werden, ebenso sollten unsere Namen zumindest leicht abgeändert werden. Unseren Verstorbenen zuliebe, und auch, weil gewisse Intimitäten, die niemanden in unserem Wohnort oder unserem Bekanntenkreis etwas angehen, ansonsten hätten gestrichen werden müssen.

    In dem Wissen, dass niemand uns mit diesem Buch in Verbindung bringen würde, konnten wir gnadenlos ehrlich sein. Und das war es, was Vivian an der Idee so gut gefiel: Das, was bei uns oft „leider" ungesagt blieb, als wir noch alle zusammen waren, wird sich so oder so ähnlich vielleicht auch in anderen Familien, in anderen Gemeinschaften abspielen.

    Und vielleicht vermag unsere Geschichte anderen hier und da einen Anstoß geben, sich bewusst zu machen, wie wertvoll die Menschen sind, die man um sich herum hat. Es ihnen zu danken, dass sie da sind. Aufrichtig zu sein, auch sich selbst gegenüber. Zu Handeln, bevor es zu spät dazu ist.

    Ich sammelte all die Berichte, die Aufzeichnungen, Briefe und Tagebücher, um ein einheitliches Buch in Romanform daraus zu machen. Ich hätte zwar die Antriebsfedern und Betrachtungswei­sen der Einzelnen einzuflechten versucht, aber es sollte keine „Ich-Form" geben. Ich, André, wäre einfach eine der beschriebenen Personen gewesen, nicht mehr und nicht weniger wichtig als alle anderen. Niemand hätte auf den Gedanken kommen sollen, dass der jüngste Bruder gleichzeitig der Erzähler der Geschichte ist.

    Dann aber las ich das, was meine Geschwister mir vertrauensvoll in die Hände gaben. Ich war gerührt über ihre Offenheit und überrascht über ihren vollkommen differenzierten Stil. Ob ich es wollte, oder nicht, ich begann, sie in einem anderen Licht zu sehen. Ich begann ihr Wesen zu begreifen, sie nicht mehr durch die gefärbte Brille meiner Erfahrungen zu sehen. Wie Richard in seiner Werkstatt aus unförmigen Steinen feine und exakte, erschreckend ausdrucksstarke Köpfe modelliert, so begannen diese Wesen, die mir stets so selbstverständlich erschienen waren, jetzt erst eine klare Form anzunehmen. Jedes auf seine Weise.

    Da wusste ich plötzlich, was ich zu tun hatte:

    Das Buch brauchte gar nicht erst geschrieben zu werden. Es war bereits geschrieben. Ich würde es nur der zeitlichen Abfolge zuliebe in die richtige Reihenfolge bringen, ansonsten aber unangetastet lassen.

    Und ich, als der jüngste Bruder, würde die letzten Jahre bis heute in der Chronologie übernehmen. Denn eines wurde mir beim Lesen klar: Die einzige Möglichkeit zur Objektivität, die ich erkenne, liegt in der unverfälschten Subjektivität des Einzelnen.

    ANDRÉ CARDIN, 1996

    Helena

    Manchmal habe ich geglaubt, wenn nur der Krieg endlich vorbei wäre, würde alles gut werden. Ich dachte, wenn die letzte Bombe gefallen wäre, der letzte Schuss verhallt, dann würde dieser Albdruck aufhören und ich könnte wieder frei atmen.

    Wie sehr habe ich mich doch geirrt!

    Nun stehe ich hier an der Seite eines Mannes, von dem ich nicht einmal weiß, ob ich ihn hasse oder liebe oder mich in die Gleichgültigkeit ergeben soll – und es gab Zeiten, in denen mir die Trümmer Deutschlands fast weniger abschreckend erschienen als die meines Lebens.

    Dieses scheint mir geprägt durch den Tod, und ich habe mich allen Ernstes oft gefragt, ob nicht ein Fluch auf mir lastet.

    Mein Vater starb, als ich noch kein Jahr alt war. Naturgemäß trage ich keine Erinnerungen an ihn in mir. Obwohl meine Mutter es nie zugegeben hat, weiß ich, dass er den Freitod wählte. Ich konnte meine Ohren nicht verschließen vor dem Getuschel meiner Mitschülerinnen, und es genügte mir, dass meine Mutter, mit der Wahrheit konfrontiert, mir eine Antwort schuldig blieb. Oh ja, meine Mutter blieb mir mehr als eine Antwort schuldig!

    Was mir von meinem Vater geblieben ist, ist mein Vorname, den er mir aus Liebe zum Altertum gab, wie es heißt; weiterhin eine Unmenge faszinierender Bücher und Lehrbücher über altgriechische Geschichte und eine amateurhaft gemalte Miniatur, die einen jungen Mann mit ernstem Gesicht, schwarzem Wuschelhaar und verträumten blauen Augen zeigt.

    Über meine Mutter, eine geborene ‚von Behringen‘, die nach dem frühen Tode ihres Mannes ihren Mädchennamen wieder annahm(!), lässt sich nur sehr schwer eine statische Aussage treffen. Nach den Begriffen der modernen Psychologie würde ich sie am ehesten als „gespaltene Persönlichkeit" bezeichnen.

    Sie war … ja, einerseits war sie eine „Grande Dame", wunderschön mit ihrem gepflegten Goldhaar und den perfekten Umgangsformen. Aus wohlbetuchtem Elternhaus stammend, war sie von Gouvernanten und Privatlehrern erzogen worden, und ich vermute fast, dass ihre hohe Bildung die einzige Gemeinsamkeit mit meinem Vater darstellte, der mehrere Doktortitel und einen Lehrstuhl innehatte.

    Meine Mutter Katharina sprach drei Sprachen fließend, hatte in ihrer Jugend mit ihren Eltern unzählige Reisen unternommen, besaß fundierte Geschichts- und Geografiekenntnisse, begeisterte sich für Kunstgeschichte und Architektur, spielte außergewöhnlich gut Klavier und bildete sich, ganz im Gegensatz zu den meisten Frauen ihrer Zeit, eine eigene politische Meinung. Man konnte kein aktuelles Thema finden, über das sie nicht bestens informiert gewesen wäre, sie verschlang die Tageszeitungen wie andere Frauen Kriminalromane und ich kann mich an keine Zeit ohne Volksempfänger erinnern. Sie war gebildet, sie war schön, sie war beliebt – und genau das war es, worunter ich in meiner Kindheit und Jugend so litt. Denn meine Mutter hatte noch eine andere Seite, die im krassen Gegensatz zu ihrer sonstigen Weltoffenheit und Toleranz stand und die allen Außenstehenden verborgen blieb. Diese andere Seite betraf niemand anderen als mich. Bewusst oder unbewusst, meine Mutter wollte mich zu ihrem Ebenbild formen. Legte mir ihre Maßstäbe an. Doch dieses Bestreben, das man ja häufig unter Eltern und ihren Kindern findet, insbesondere unter Vätern, die hoffen, dass ihre Söhne einst in ihre Fußstapfen treten werden, nahm bei ihr extreme Formen an. Beispielsweise duldete sie nicht, dass ich mein Haar anders trug als sie; ja, sie duldete es nicht einmal, dass ich eine andere Lieblingsfarbe besaß, als es die ihre war. Jede meiner ureigensten Neigungen wurde unterdrückt und die ihren in mir gefördert, was mich schlicht zu einer Versagerin auf ganzer Linie machte. Ich hatte nun mal kein Talent zum Klavierspielen, Politik interessierte mich nur am Rande, Zeitungen verabscheute ich, und um mich für Kunstgeschichte oder Architektur zu begeistern, hatte ich einfach zu wenig von der Welt gesehen. Um die Wahrheit zu sagen, später, als mich niemand mehr dazu drängte und zwang, begannen mich beide Themengebiete zu interessieren, wenn auch niemals in dem Maße, das stets ihr Standard war. Ich litt in zunehmendem Maße unter Verunsicherung und Selbstzweifeln, ja, sogar unter Selbsthass, denn meiner Mutter war es schon früh gelungen, jede meiner ureigensten Regungen mit einem so großen Ekelgefühl zu verbinden, dass ich sie selbst gleich im Keime erstickte und Mutter erst gar nicht damit behelligt wurde. Wie der pawlowsche Hund, dem das Wasser im Munde zusammenläuft, wenn er eine Glocke klingeln hört, weil er das Geräusch mit Futter verbindet, so entstand in mir automatisch ein Gefühl der Abscheu, sobald mich etwas interessierte oder ich etwas wollte, von dem ich wusste, dass meine Mutter es missbilligen würde. Es musste schlecht sein, verwerflich, dumm. Mit beginnender Pubertät wurde ich dann immer stärker hin- und hergerissen von dem, was Mutter mir auferlegte und dem, wonach es mich verlangte. Zwischen dem, was ich zu wollen hatte und dem, was ich wollte, klaffte eine derart große Lücke, dass der Mittelweg immer weniger passierbar erschien. Blinder Gehorsam, gekoppelt mit Versagensgefühlen, da ich ihr doch niemals das Wasser würde reichen können, standen auf der einen Seite – und auf der anderen stand mein kleines, gefesseltes und verachtenswertes Ich.

    Das Ende dieses schrecklichen Zustandes begann sich an dem Tage abzuzeichnen, an dem irgendein kleiner pubertierender Teufel in mir mich zu stummem Protest aufrief. An diesem Tag waren wir zu Bekannten eingeladen, die eine Straße weiter wohnten. Da ich keinesfalls meine Klavierstunde verpassen durfte, sollte ich später nachkommen. Als ich mich jedoch nach Beendigung meiner unbeholfenen Versuche, dem Instrument harmonische Töne zu entlocken, auf mein Zimmer begab, um mich umzukleiden, erfüllte mich plötzlich ein tiefer Widerwillen gegen die von meiner Mutter so exakt gefalteten und präzise aufeinander abgestimmten Kleidungsstücke. Dieses blassbeige Kleid, das sie zweimal hatte anfertigen lassen, bloß mit unterschiedlichem Ausschnitt, einmal für sie, einmal für mich … ich rümpfte die Nase und begann nach dem lapislazuliblauen zu suchen, das sie unlängst aussortiert hatte.

    Ich rief mir ihre Worte ins Gedächtnis zurück: „Ein Fehlgriff … Kind, das steht dir nicht, du siehst darin viel zu erwachsen aus, ja, regelrecht aufdringlich erwachsen, du verstehst doch?"

    Nein, Mama, ich habe überhaupt nicht die geringste Lust zu verstehen, dachte ich und betrachtete mich in dem herrlichen Blauton im Spiegel. Kurz entschlossen löste ich meinen geflochtenen Zopf, und als meine Haare wallend herab fielen, anstatt geflochten zu diesem ewigen großmütterlichen Dutt aufgesteckt zu sein, fühlte ich mich jung, schön und frei. Ich nahm all meinen Mut zusammen und begab mich zum Haus unserer Bekannten. Nie vergesse ich die Reaktion meiner Mutter, da sie mich mehr schockierte als alles bisher da Gewesene.

    Als ich in den Salon trat, hob sie den Kopf, musterte mich mit völlig ausdruckslosem Gesicht, lächelte dann und sagte zu unserer Gastgeberin: „Aber nein, das ist doch gar nicht Helena. Die junge Dame dort sieht ihr äußerlich recht ähnlich, das ist alles. Welch ein lustiger Zufall, dennoch frage ich mich, wo Helena bleibt …" Nervös sah sie auf ihre Uhr.

    Ich drehte mich um und rannte aus dem Hause, denn in diesem Augenblick erst hatte ich begriffen, dass meine Mutter auf ihre Art wahnsinnig war.

    Wahnsinn ist ein hartes Wort, für das es viele Umschreibungen gibt, die mehr oder weniger auf jeden von uns zutreffen. Wie die Katze um den heißen Brei schlich ich um das Thema herum, indem ich mir klammheimlich – und dies war das Erste, was ich je klammheimlich tat – psychologische Abhandlungen über Geisteskrankheiten aus der Bücherei entlieh, die ich in den Schulpausen und nachts las. Ich brauchte eine Weile, bis ich einsah, dass meine Mutter unabänderlich krank war. Wer weiß, vielleicht hätten Therapien und Vergangenheitsbewältigung ihr helfen können, aber Tatsache war, dass sie lieber gestorben wäre, als auch nur den Gedanken in Erwägung zu ziehen, sie könne nicht vollkommen sein, was sie uns beiden so verzweifelt weiszumachen versuchte.

    Der Schritt zur Anerkennung der Krankheit meiner Mutter war gleichzeitig der zu meiner Genesung. Besser gesagt, zum Beginn meiner Genesung, denn auch heute noch werde ich oft von Selbstzweifeln, Depressionen und Lebensängsten heimgesucht, obwohl ich an mir arbeite. Es ist ein dünnes Eis, auf dem ich gehe, und oft schon bin ich eingebrochen.

    Ich begann nun also, meine Mutter kritischer zu betrachten, sie hörte auf, mein unerreichbares Idol zu sein, zumindest machte ich mir das vor. Da meine Persönlichkeit damals aber vollkommen unentwickelt war, und meine Mutter immer mehr in eine Welt wanderte, die mit der Realität weniger und weniger gemein hatte, verlor ich alle Ideale. Ich sah keinen Sinn im Leben, und als sich dann noch der Krieg immer deutlicher abzuzeichnen begann, schnitt ich mir eines Tages die Pulsadern auf. Ich wollte damals wirklich sterben, Aufmerksamkeit zu erregen lag mir fern. Alles, worauf ich in meiner Kindheit aufgebaut hatte, so kläglich es auch sein mochte, zerbrach immer mehr, meine Mutter war nicht mehr die schöne Königin von einst und mein Land war nicht mehr das Sagenland der Helden und Götter. Meine Mutter fand mich, da sie von einem Besuch früher als erwartet zurückgekehrt war, blutend und bewusstlos auf dem Boden liegen. Sie vertuschte den drohenden Skandal, indem sie nicht einmal einen Arzt rief, sondern mir die Handgelenke verband und mich mit kaltem Wasser überschüttete, bis ich wieder zu mir kam. Von diesem Tage an zog sie sich noch mehr in sich zurück, sie sah mich gar nicht mehr als lebendige Person, sondern betrachtete lieber hingebungsvoll die gerahmte Fotografie, die uns beide in Frankreich zeigte, eng umschlungen, gleiche Kleider, gleiche Frisur, honigsüßes Lächeln im Gesicht.

    Mutter zeigte nie offen ihren Zorn, sie schrie mich niemals an oder schlug mich. Ganz im Gegenteil, sie schien mich in den Momenten, in denen ich nicht ihren Erwartungen entsprach, einfach zu vergessen. Sie sah mich nicht mehr, selbst wenn ich unmittelbar vor ihr stand. Dieses Ignorieren meiner Person empfand ich als die schlimmste Variante der Verachtung, die man einem Menschen entgegenbringen kann. Doch selbst, als ich endlich den Mut aufbrachte, zu reden, zu weinen, sie anzuschreien und gegen sie aufzubegehren – sie blieb kalt und fremd. Sie hielt es offenbar nicht für der Mühe wert, sich gegen all die Anschuldigungen, die ich ihr in meiner Wut entgegenschleuderte, zu wehren. Hätte ich diese eisige Frau doch hassen können, um wie vieles leichter hätte ich es gehabt! Hasste sie mich oder liebte sie mich? Bis heute konnte ich keine Antwort auf diese Frage finden, über die ich mir in meiner Jugend das Hirn zermarterte.

    Was auch immer am Tage geschehen war, jede Nacht kam sie noch einmal auf mein Zimmer, wenn ich schlief oder dies zumindest vorgab. Dann konnte ich ihre Stimme leise flüstern hören: „Ich liebe Dich. Meine Helena, meine Tochter, mein Herz. Ich lebe nur für Dich. Nie habe ich jemanden so sehr geliebt wie Dich." Mein Herz verkrampfte sich bei ihren Worten, und oft weinte ich mich in den Schlaf, nachdem sie gegangen war.

    Ja, es ist schwer, ein Bild von ihr zu zeichnen, denn in den Dingen, die sie nicht persönlich betrafen, blieb ihr bis zuletzt ein scharfer, kritischer Verstand erhalten. Doch unser gemeinsames Leben wurde immer eigentümlicher. Mutter lebte immer mehr in der Vergangenheit, oder besser gesagt in einer fiktiven, einer „Was wäre, wenn" – Vergangenheit. Sie malte sich aus, was alles hätte geschehen können, wenn sie nur nicht … Ja, was eigentlich nicht? Wenn sie meinen Vater nicht geheiratet hätte? An diesem Punkt hörten ihre Erzählungen und Erinnerungen immer auf, und da sie hier eine so klare Grenze zog, wagte ich es nie, diese zu überschreiten und sie genauer nach meinem Vater und ihrer Ehe zu befragen.

    Ich gewöhnte mich daran, von der Schule nach Hause zu kommen und Mutter im Salon mit Freunden reden und lachen zu hören, die schon vor Jahren das Zeitliche gesegnet hatten, und anschließend beim Mittagessen mit ihr über die Frauenfrage oder die Schulreform zu diskutieren. Ich gewöhnte mich daran, dass ich keine noch so unscheinbaren Problemchen meinerseits auch nur am Rande erwähnen durfte, mit Mutter aber schonungslos über den Krieg oder die schrecklichsten Krankheiten und Heimsuchungen sprechen konnte. Aber ich hatte zumindest entdeckt, dass ich eine von meiner Mutter unabhängige Persönlichkeit besaß, und war sie auch noch so schemenhaft, ich hütete und versteckte sie sorgsam vor ihren missbilligenden Augen.

    Ich nehme an, dass es zum Großteil daran lag, dass ich mich so isoliert von meiner Außenwelt fühlte und mich mit nichts und niemandem identifizieren konnte, dass ich völlig gefeit war gegen den Nationalsozialismus, der ja mit Gemeinschaftlichkeit und Zusammengehörigkeitsgefühlen lockte. Ich konnte mit meinen Klassenkameradinnen nichts anfangen, ihre Probleme erschienen mir lapidar und ich erschien ihnen wohl als eine Art altmodische, ernste Jungfer. Ich hatte keine Vertraute, einladen zu uns mochte ich wegen Mutter niemanden, und mit jemandem über sie zu sprechen wäre mir trotz allem als Verrat erschienen. Ich erfüllte meine Pflicht und saß meine wöchentlich festgelegte Zeit beim Bund Deutscher Mädchen ab, aber irgendwie gelang es mir dabei, niemandem nahe zu kommen.

    Mutter hatte von Anbeginn an Angst vor Hitler und dem Nationalsozialismus, sie besaß in diesen Dingen eine eigentümliche Klarsicht, sie sah sowohl den Weltkrieg als auch einzelne politische Vorgehensweisen und die Resultate ebendieser präzise voraus. Ich war zu jung und zu belastet, um den Krieg auch nur annäherungsweise objektiv oder leidenschaftslos betrachten zu können, ja, mir erschien er oft als ein Teil von mir selbst, eine weitere schreckliche und nicht zu begreifende Bürde, die mich erdrückte und mir den Boden unter den Füßen wegzureißen schien. Ich wollte gar keine Einzelheiten hören, wollte nicht mit den Kriegsrealitäten, mit Toten und Verwundeten, Kranken, Leidenden und Hungernden konfrontiert werden. Ich verschloss meine Ohren, weil ich wusste, dass ich das Maß des für mich damals Erträglichen längst erreicht hatte. Schon damals, lange bevor der Krieg ausbrach, als Mutter mir zum ersten Mal über Antisemitismus berichtete, rannte ich hinauf auf mein Zimmer, nur nicht hören, nur nicht wissen. Aber es war zu spät, ich hatte genug gehört und begann für eine lange Zeit, unter Albträumen zu leiden, mein sowieso schon ausgeprägtes Gefühl der wütenden Ohnmacht, der aggressiven und traurigen Hilflosigkeit verstärkte sich noch. Die Reichskristallnacht, in der gesunder Menschenverstand und Nächstenliebe Hand in Hand aus diesem Land verschwanden und durch blinden Fanatismus und Hass ersetzt wurden, und der anschließende, verstärkte Feindbildaufbau gingen über meinen Verstand. Zu sehen, wie Menschen, die bis gestern ganz normale Mitmenschen waren, heute angeprangert und geächtet wurden, zu hören, was man ihnen antat, wie man immer mehr ihr Leben beschnitt, ihnen ihre Berufsausübung verbot, ihre Läden schloss, sie öffentlich verspottete, anspuckte, schlug, war zu viel für mich. Ich wollte helfen, wusste, dass ich es nicht konnte, solidarisierte mich innerlich und hasste mich dafür, dass ich nichts tat. Als dann der Terror der Gestapo begann, und mir tagelang war, als könne ich nichts anderes mehr als die verzweifelten und anklagenden Schreie der Verfolgten, Vertriebenen, Eingesperrten, Ausgehorchten, Gequälten, Gefolterten, Erniedrigten und Getöteten hören, da klinkte ich mich feige aus der Realität aus. Ich wusste, ich konnte das alles nicht verkraften und verarbeiten, ohne noch größeren seelischen Schaden zu nehmen – und irgendeine innere Instanz, die wohl indirekt für den Überlebenswillen der Jugend zuständig ist, beschloss, es für unbestimmte Zeit wie die drei berühmten Äffchen zu halten: Nichts gehört, nichts gesehen, nichts gesagt. Ich lebte wie bewusstlos von Tag zu Tag und versuchte mir einzureden, alles könne nur noch besser werden – und glaubte mir selbst nicht. Ich fühlte mich wie eine Ertrinkende in einem riesigen Ozean voller Angst und Tod, Hass und Wahn. Wie eine Ertrinkende, die kurz vor dem Untergang menschliche Stimmen vernimmt; als sie jedoch erwartungsvoll den Kopf hebt, entdeckt sie Tausende andere, die Ebenfalls hilflos mit dem Tod ringen. Manchmal beschlich mich auch deswegen Selbstekel, wie kam ich, ein Mädchen aus sogenanntem guten Hause – was in jenen Tagen aus arischem Hause bedeutete – dazu, mein Schicksal mit dem der bis aufs Blut Gejagten zu vergleichen? Ich hatte doch alles, was ich brauchte, oder nicht? Was fehlte mir denn eigentlich, was machte mich so unglücklich und leer? Nur die Probleme mit meiner Mutter? Viele Jugendliche hatten doch Schwierigkeiten mit ihren Eltern und überwanden sie, gingen sogar gestärkt daraus hervor.

    Wieso nicht ich? Was ging mir ab? Ich fühlte mich unendlich zerrissen und zerrüttet.

    War es da ein Wunder, dass ich mich in den ersten Menschen, der mir Verständnis entgegenzubringen schien und der die Macht hatte, mich aus meinem Joch zu erlösen, so verliebte, dass ich anfangs bereit gewesen wäre, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen?

    Er hieß Peter Rechter und war mein Mathematiklehrer. Lehrer waren damals Respektspersonen, keine Menschen wie du und ich. Sie hatten die Macht, Kinder nachsitzen zu lassen, Strafarbeiten zu verteilen, Schläge auf die Hände oder – bei besonders schweren Vergehen – auf den Hintern auszuteilen. Man fürchtete sie und machte sich nur weitab vom Schulhaus über sie lustig. Peter war anders, irgendwie abwesend. Er verteilte Aufgaben, wirkte bei Rückfragen irritiert und schien die einzelnen Schüler gar nicht so wahrzunehmen. Nie verteilte er Strafen, da er gar nicht mitbekam, wenn Schüler laut wurden oder ihre Hausaufgaben „vergessen" hatten. Erst später erfuhr ich, dass er kurz bevor er unsere Klasse übernahm seine Frau an Diphterie verloren hatte.

    Seit meine familiären Probleme sich mit Einsatz meiner Pubertät zugespitzt hatten, war ich in der Schule abgefallen, und während ich in den meisten Fächern leidlich war, war ich in Mathematik ganz besonders schlecht. Ich bemerkte nach einer Weile, dass der Herr Rechter, wie er für uns Schüler hieß, sich Mühe mit mir zu machen begann, aber ich dachte mir nichts dabei. Eigentlich dachte ich überhaupt nicht über ihn nach, höchstens hochnäsig „Durchschnittsgesicht, Durchschnittsmensch". Dies änderte sich abrupt, als er mir eines Tages nach Schulschluss, als wir noch über eine von mir völlig vermasselte Klassenarbeit redeten, plötzlich eine Haarsträhne aus der Stirn strich. Erschrocken hob ich den Kopf und begegnete einem solch zärtlichen und scheuen Blick, wie ich ihn nie zuvor gesehen hatte.

    „Du bist so schön, Helena", flüsterte er leise, und obwohl ich aufsprang und nach Hause rannte, hatten sein Blick und sein Kompliment genügt, um ihn über Nacht Kraft meiner Phantasie zum schönsten und begehrenswertesten Mann zu machen, dem ich je begegnet war.

    Als er am nächsten Tag nach Schulschluss auf mich wartete und sich sehr verlegen und zerknirscht zu entschuldigen suchte (da erzählte er mir vom frühen Tod seiner Frau und wie durcheinander er noch sei und wie leid ihm sein ungebührliches Verhalten tue), erschreckte ich ihn zutiefst, indem ich all meinen Mut zusammennahm und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. Er erstarrte regelrecht, reagierte aber nach einer Weile auf meinen entschlossenen Blick und zog mich in die Arme.

    Der arme Peter, hilfloses Opfer seiner unerfüllten Sehnsüchte! Hilfloses Opfer von mir! Ich glaube nicht, dass irgendetwas von den Dingen, die nach diesem Kuss geschahen, seinen Plänen oder Vorstellungen entsprach, doch es war zu spät, er konnte nicht mehr zurück.

    Wir begannen ein klammheimliches Verhältnis, für mich mehr spannendes Abenteuer als Leidenschaft, für ihn wohl eher die Suche nach Geborgenheit gekoppelt mit Triebbefriedigung als wahre Liebe. Er war der erste Mann, den ich weinen sah, denn war sein schlimmstes Verlangen gestillt, so überfielen ihn Schuld- und Reuegefühle. Während ich nie über mein Zuhause und meine Probleme mit Mutter sprach, war er in seinem Jammer kaum noch zu bremsen. Ich muss zugeben, dass ich es genoss, mit meinen siebzehn Jahren die Ruhe selbst zu spielen. Während ich regungslos seinen Litaneien lauschte, die sich von Amtsmissbrauch, Verführung Minderjähriger, Schlaflosigkeit und Magenschmerzen bis zu dem Hadern mit einem Schicksal, das ihm zu früh seine rechtmäßig Angetraute genommen hatte, erstreckten, gewann ich ganz leicht die Oberhand in unserer Beziehung. Während sich seine Angst vor einer Entdeckung unseres Liebesverhältnisses ins Panische steigerte, gewann ich an Gelassenheit und begann mich zu fragen, ob gerade dies nicht das Beste wäre, was mir geschehen könnte.

    Als ich zu Peter aber von Heirat sprach, die durch eine Legalisierung unserer Beziehung seine Ängste doch zu zerstreuen vermochte, wehrte er mit beiden Händen ab.

    „Völlig ausgeschlossen, das wäre das Ende meiner beruflichen Laufbahn, du bist viel zu jung für eine Ehe, oh Gott, was habe ich nur angerichtet …, stöhnte er vor sich hin, und als er kurz darauf sogar glatt begann, von Trennung zu reden, war ich so wütend, dass ich kurz entschlossen handelte. Mit verstellter Schrift gab ich dem Direktor unserer Schule einige unser Verhältnis betreffende Hinweise, unterzeichnete mit „eine empörte und zutiefst schockierte Schülerin und achtete darauf, dass man Peter und mich an dem Tag, an dem der Direktor ihn erhielt, möglichst oft gemeinsam sah. Dies war einfach zu bewerkstelligen, da ich Peter, ganz entgegen unserer bisherigen Verhaltensweisen und unserer Abmachungen, schon nach der ersten Stunde aufsuchte und ihn mit kreidebleichem Gesicht (und unter Berücksichtigung eines in der Nähe befindlichen Zuschauerkreises) bat, mit mir zu reden.

    Verstört und krebsrot bis zum Haaransatz ließ er sich von mir in eine Ecke ziehen, wo ich ihm stammelnd erklärte, ich sei schwanger. Ich hätte es besser nicht inszenieren können, denn genau in dieser Ecke und in dieser Situation fand uns der aufgebrachte Direktor, der uns vor Wut zitternd bat, ihm ins Direktorat zu folgen.

    Dort brüllte er, dass die Wände wackelten, und bevor Peter auch nur den Mund aufbekam, hatte ich schon weinend unser Verhältnis gestanden. Was blieb ihm übrig? Es sei selbstverständlich, dass er mich zu heiraten gedenke, wir seien in aller Stille bereits verlobt, nur unter Rücksichtnahme auf den Ruf der Schule hatten wir mit der offiziellen Verkündigung unseres Verlöbnisses warten wollen, bis ich mein Abitur gemacht habe und die Schule verließe, erklärte er. Es half ihm nichts, der Direktor tobte, und legte ihm all die Dinge zur Last, die sich Peter in seinen schlimmsten Stunden ausgemalt hatte. Des Weiteren machte er ihn für meinen schlechten Notendurchschnitt, meinen moralischen Verfall und meine zerstörte Zukunft verantwortlich, Peter könne froh sein, wenn er sich nicht vor einem Gericht verantworten müsse, und es wäre nicht verwunderlich, wenn die Mädchen nun scharenweise aus der Schule genommen würden. Um einen Skandal zu vermeiden, solle Peter sich krankmelden und so ohne Aufsehen von der Bühne verschwinden, denn er sei fristlos entlassen.

    Nun war Peter kreidebleich, als er, von mir gestützt, nach draußen wankte. Ich schlug die Richtung einer nahegelegenen Gaststätte ein, da wir uns nun ja nicht mehr zu verstecken brauchten. Erst beim zweiten Kaffee fand Peter wieder Worte.

    Befriedigt stellte ich fest, dass er nicht den geringsten Verdacht gegen mich hegte, auch grollte er mir nicht. Er entschuldigte sich in aller Form für die peinliche Situation, die er geschaffen hatte, und erklärte mir dann umständlich, dass wir zukünftig wohl in bescheidenen Verhältnissen leben müssten, denn unter den gegebenen Umständen würde er es schwer haben, eine neue Anstellung zu finden. Auch müssten wir mit Sicherheit umziehen, denn in der Nähe würde ihm niemand mehr eine Chance geben. Wir!

    Ich nickte zu allem, meine Aufmerksamkeit ihm gegenüber ließ allerdings stark zu wünschen übrig. Nur ein Gedanke erfüllte mich: Frei! Ich würde Mutters Bannkreis entkommen! Umzug? Eine herrliche Zukunftsvision, je weiter weg von hier, desto besser!

    Peter missdeutete mein Lächeln als Versuch, ihm meine Liebe zu zeigen, und legte – zum ersten Mal in der Öffentlichkeit – seine Hand auf die meine.

    „Wir werden so schnell wie möglich heiraten, flüsterte er. „Bist du dir eigentlich ganz sicher? Wann ist es denn so weit?

    Mein Lächeln erstarb. Wir hatten bei unseren Zusammenkünften keine besonderen Vorsichtsmaßnahmen getroffen, da Peter nach elfjähriger kinderloser Ehe glaubte, unfruchtbar zu sein. Seine Frau hatte sich vor Ausbruch ihres Leidens mehrmals von verschiedenen Ärzten untersuchen lassen, und da man bei ihr keine Ursachen für die ungewollte Kinderlosigkeit gefunden hatte, war der schwarze Peter seinem Namensvetter zugefallen. Da er sowieso unter Versagensängsten litt und seine Frau ihn ihre Enttäuschung vermutlich auch spüren ließ, hielt er es nicht mehr für nötig, seinerseits nun auch Ärzte zu konsultieren, er war so überzeugt von seiner Unfähigkeit, dass er sie nicht auch noch schwarz auf weiß sehen wollte. Doch als ich einer seiner Tiraden lauschte, in der er dieses Thema anschnitt, war mir nicht entgangen, dass nie ein diesbezüglicher Beweis erbracht worden war, was ich schamlos für mich ausgenutzt hatte. In Wahrheit glaubte ich nicht, schwanger zu sein. So murmelte ich nun verlegen vor mich hin, ich wisse in solchen Dingen nicht allzu gut Bescheid, meine Periode sei ausgeblieben, aber ich hätte noch nicht gewagt, einen Arzt zu konsultieren, ich sei ja noch nicht volljährig und Mutter dürfe keinesfalls davon erfahren.

    Mutter!

    Es war einer der größten Trugschlüsse meines Lebens, dem ich unterlag, als ich glaubte, Mutter entfliehen zu können. Mit meiner Mutter zusammenzuleben, war erdrückend. Mit dem in der Erinnerung immer riesenhaftere Dimensionen annehmenden Mahnbild meiner Mutter zusammenzuleben, war fast tödlich. Doch dazu später.

    Ich bemühte mich, einen gelassenen Ton anzuschlagen, als ich Mutter von meinen Zukunftsplänen berichtete. Ich machte Peter etwas jünger, verschwieg die Kündigung und erfand eine gut situierte Familie. Ich wusste, dass ich ob meiner Minderjährigkeit auf ihre Einwilligung in eine Ehe angewiesen war, doch ich wusste genauso gut, dass ich diese nie erhalten würde, wenn nicht zwingende Gründe vorhanden waren, so blieb ich bei meiner Schwangerschaft.

    Mutter unterbrach mich nicht ein einziges Mal, und auch, nachdem ich geendet hatte, blieb sie still. Es dauerte lange, bis ich es wagte, den Kopf zu heben und ihr in die Augen zu sehen.

    Aber sie sah mich nicht, sie sah durch mich hindurch und wirkte völlig versteinert.

    Lange saßen wir so da. Schließlich stand sie auf, langsam, wie gebrochen. Sie ging in die Küche und ich hörte sie eine Weile herumhantieren, ehe sie mit einer Schere in der Hand wieder auftauchte. Sie ging zu dem goldgerahmten Bild, das auf einem kleinen Beistelltischchen stand und uns beide in Frankreich zeigte. Mit einem Schnappen löste sich der Rahmen, und dann hörte ich das Geräusch der Schere, als sie das Bild in zwei Teile zerschnitt, die leise auf den Fußboden fielen.

    So hat sie sich mir unauslöschlich eingeprägt, eine kerzengerade, perfekt gekleidete, weißhaarige Dame, die mit einem Ausdruck restloser Entschlossenheit im Gesicht mit einer Schere in der Hand dasteht und sich nur einen kurzen Blick auf das zerstörte Bild gestattet. Doch als sie wieder aufsah, sah ich etwas, was ich anfangs nicht zu deuten vermochte, was mich aber später bis in meine schwärzesten Albträume verfolgen würde: Jeglicher Glanz in ihren Augen war erloschen, sie hätte sich die Schere ebenso gut ins Herz rammen können.

    Nach dieser Szene war an einen normalen Verlauf meiner Verlobungszeit nicht mehr zu denken. Ich legte auch nicht den geringsten Wert darauf, dass Peter und Mutter sich kennenlernten, sie würden sich sowieso nicht mögen. Ich hielt es unter ihrem Dach nicht mehr aus. Ich wusste, es war dumm, da sie mir nie etwas antun würde, aber ich hatte Angst vor meiner Mutter. So packte ich das Notwendigste zusammen, steckte meine Ersparnisse ein, nicht gerade berühmt, aber doch ausreichend, um mich bis zur Hochzeit irgendwo einzumieten, und ging im Nachbarort auf Zimmersuche. Ich fand auch eins, noch am gleichen Tag, eine schlampige alte Frau vermietete mir den seit Jahr und Tag nicht mehr sauber gemachten Schlafraum ihres in den Krieg gezogenen Sohnes. Mir war alles gleich, ich wollte nur so schnell wie möglich Peters Frau werden, naiverweise glaubte ich, mir mit einer Heirat auch ein Stück Geborgenheit und Sicherheit zu erkaufen.

    Genau eine Woche vor unserer Hochzeit wurde mir dann klar, dass das Schicksal mir und meiner Lügerei einen Streich gespielt hatte: Ich war tatsächlich schwanger. Ich lächelte in mich hinein und sagte laut zu meinem Spiegelbild: „Na also, was fehlt denn noch zum Glück?", aber ganz tief innen fragte eine leise Stimme, ob ich denn glaube, auch mich selbst belügen zu können.

    Wir heirateten in der ersten Dezemberwoche standesamtlich. Es war ein kalter, windiger Tag und außer dem Standesbeamten, den Trauzeugen und uns war niemand anwesend. Es frustrierte mich, dass wir sogar die Trauzeugen hatten bezahlen müssen. Wir wurden so geschnitten, dass sich niemand freiwillig bereit gefunden hatte. Jeder hatte andere Ausflüchte parat gehabt. Ich zog zu ihm in die kleine Wohnung, die er bewohnte und war froh, dass wir nicht aus dem gleichen Ort kamen und ich somit ein bisschen räumliche Distanz zu meiner Geburtsstadt und zu meiner Mutter geschaffen hatte.

    Heute sehe ich, dass Peter viel mehr gelitten haben muss als ich, er hatte so viel verloren, Anstellung, Freunde, Kollegen und sein Ansehen im Ort. Kaum einer grüßte ihn noch und niemand brachte ihm mehr Achtung entgegen. Seine ehemaligen Schülerinnen rissen lauthals Witze über ihn, wenn sie ihm zufällig irgendwo begegneten. Er schrieb eine Bewerbung nach der anderen, doch obwohl doch kaum noch männliche Lehrer zur Verfügung standen (Peter war wegen einer chronischen Erkrankung vom Dienst befreit) kamen von den Schulen, die sich überhaupt die Mühe machten, zu antworten, nur Absagen.

    Hauptsächlich ihm zuliebe drängte ich auf einen raschen Umzug. Doch er hielt mir entgegen, dass es unsinnig wäre, umzuziehen, bevor wir nicht wüssten, wo er eine neue Anstellung bekommen würde, denn zwei Umzüge nacheinander würden seine Ersparnisse aufzehren.

    Zu meiner Schande muss ich zugeben, dass ich bis dahin nie über finanzielle Angelegenheiten nachgedacht hatte. Schon vor unserer Hochzeit hatte Peter mir berichtet, dass es damit nicht zum Besten stünde, da die Medikamente und die Pflege seiner ersten Frau den größten Teil seines Geldes verschlungen hatten. Ich hatte genickt, doch seine Worte hatten mir nichts bedeutet, zu fern lag mir der Gedanke, dass das Leben, das ich bis dahin geführt hatte, trotz den Einschränkungen des Krieges weit über dem gewöhnlichen Standard lag. Das Haus, in dem ich mit Mutter gelebt hatte, gehörte ihr, ebenso sämtliche Möbel und der Flügel. Obwohl Mutter keinen Tag ihres Lebens gearbeitet hatte, war Geld immer in ausreichendem Maße vorhanden, wir hatten uns sogar bis der Krieg uns einen Strich durch die Rechnung machte eine Köchin und eine Reinemachefrau erlauben können, die jeden Tag kamen. Wir kauften nie Kleider von der Stange, sondern ließen sie uns maßanfertigen, und auf jedes Kleid hatte Mutter stets passenden Schmuck getragen. Meine Klavier- und Nachhilfestunden mussten ebenfalls Einiges gekostet haben. Wir hatten nie über Geld gesprochen, und so kam es, dass ich noch nicht einmal wusste, wo es eigentlich her kam, ob es noch aus der Familie meiner Mutter stammte (meine Großeltern waren beide tot), oder ob mein Vater uns etwas hinterlassen hatte.

    Es war abzusehen, dass ich, mit Haushaltsangelegenheiten konfrontiert, kläglich versagen würde. Ich konnte gar nichts, nicht kochen, nicht backen, nicht waschen, nicht sauber machen, nicht nähen – und am allerwenigsten sparen. Als ich zum ersten Mal einkaufen ging, erlebte Peter sein blaues Wunder, da ich es fertigbrachte, für den Inhalt eines einzigen Einkaufskorbes unsere gesamten Lebensmittelmarken und unser mageres Budget für fast einen Monat auszugeben. Ich wusste wo man einkaufte und auch, mit wem man einen Schwarzmarkthandel abschließen konnte, da man von den Lebensmittelmarken kaum satt wurde und die Waren immer seltener erhältlich waren. Ich hatte aber nicht die geringste Ahnung vom Handeln selbst oder von Nahrungszusammenstellung. So gab es am ersten Tag meines Daseins als Ehefrau verbrannten Fisch, versalzene Bohnen und Kartoffelsalat, der nach Weinessig und sonst nichts schmeckte. Dazu gab es Champagner – ein kaum erhältliches Luxusgut, mit dem ich unserer Heirat nachträglich einen gewissen Glanz verleihen wollte. Es war ein für Kriegszeiten undenkbares Luxusessen, Fisch und Champagner hatte ich auf dem Schwarzmarkt für 130 Reichsmark erstanden; ich ahnte damals nicht den zusätzlichen Frevel, den ich begangen hatte, indem ich den Fisch panierte. Der arme Peter, er stierte auf seinen Teller, und ich war sicher, dass hinter seiner Stirn endlos lange Zahlenkolonnen auf- und abmarschierten, die sich samt und sonders mit unserer schlechten finanziellen Lage und meinen Talenten befassten.

    Zum Glück fand sich wenigstens bei diesem Problem recht bald eine Lösung: Nachdem wir ein paar Wochen zusammengelebt hatten und beide zu verschiedenen Arbeitseinsätzen herangezogen wurden, fanden wir zu Hause im Chaos kaum noch unsere Kleider oder notwendige Schriftstücke – alles versank im Schmutz. Eines Tages flehte Peter die Nachbarin, die ihm vor unserer Hochzeit zur Hand gegangen war, an, uns zu helfen. Sie war es dann auch, die sich erbot mir das Kochen mit den wenigen erhältlichen Lebensmitteln und ein paar Grundregeln der Haushaltsführung beizubringen, nachdem sie ihre Blicke langsam und scheinbar genüsslich durch die ganze Wohnung hatte gleiten lassen und mich dann lange und schweigend gemustert hatte. Erleichtert nahm ich an – allerdings bin ich bis heute kein hausfrauliches Ass geworden.

    Die winzige Wohnung, in der wir lebten, war nur gemietet, allerdings wohnten die Vermieter glücklicherweise so weit weg, dass es ihnen fernlag, uns wegen des Skandals, den wir vor allem wegen unseres großen Altersunterschiedes darstellten (es waren 23 Jahre), zu kündigen. Sie war eng und karg, hatte ein Plumpsklo im Hinterhof und es gab keine Wanne, zum Baden mussten wir samstags mit dem Zug in die Bäderabteilung in der Stadt fahren, doch allen Umständen zum Trotz gab es Momente, in denen ich herumhüpfte und -tanzte und es einfach nur genoss, mein eigener Herr zu sein. Allerdings hielt meine gute Laune nie lange an. Peter hatte nicht das geringste Verständnis für Fröhlichkeit und Ausgelassenheit meinerseits. Auch wenn ich allein zu Hause war oder er sich ins Schlafzimmer, das tagsüber gleichzeitig sein Studierzimmer war, zurückgezogen hatte, fühlte ich mich oft niedergeschmettert. Es war nicht allein unser schlechter Ruf, der mir so zu schaffen machte (um aufrichtig zu sein, ebendieser erfüllte mich innerlich sogar mit einer gewissen Genugtuung; nun war ich selbst geächtet und musste so wenigstens die Heldenverehrung von Hitler und das immer erzwungener werdende frisch-frei-fröhliche Gruppengebaren vieler deutscher Frauen nicht mitmachen), auch waren es nicht die immer beängstigenderen Kriegsnachrichten, es war nicht unsere Armut und auch nicht meine Schwangerschaft, die ich so gerne vorschob. Nein, nur in den dunklen und einsamen Nächten gestand ich mir den wahren Grund meiner immer öfter wiederkehrenden schwarzen Gedanken ein: Mutter. Lange versuchte ich ihre Präsenz aus meinen Gedanken zu verdrängen, bis ich endlich einsehen musste, dass nichts in meinem Leben mir je schwerer gefallen war, als die Türe zwischen Mutter und mir zu schließen und sie alleine zurück zu lassen. Zu lange hatte ich unter ihrem Einfluss gestanden, zu tief war mein schlechtes Gewissen ihr gegenüber und das Gefühl, ihr ihren einzigen Lebenssinn genommen zu haben. Ich begann, mich von ihr beobachtet zu fühlen, Tag und Nacht, als sei sie körperlich anwesend. Es nutzte nichts, dass ich mir klarzumachen versuchte, dass ich ihr das, was sie wollte, nur geben konnte, indem ich mich selbst zerstörte. Ich versuchte nicht an sie zu denken, doch obwohl ich immer öfter zu verschiedenen Arbeiten herangezogen wurde und Peter, meine Schwangerschaft und das Erlernen hausfraulicher Tätigkeiten mich auslasteten, merkte ich selber, dass ich lustlos und nachlässig an die Dinge heranging.

    Die Kriegssituation spitzte sich immer mehr zu. Durch meine Schwangerschaft musste ich mich nicht beim Reichsarbeitsdienst melden, musste mich aber an Sammlungen für das Kriegswinterhilfswerk beteiligen und wurde gelegentlich zu Ernteeinsätzen auf den umliegenden Bauernhöfen herangezogen. Die Bauern waren abgekämpft und verhärmt und klagten über den Mangel an Arbeitskräften. Mit mageren Mitteln war ihnen zwar eine leidlich gute Kartoffelernte gelungen, aber es fehlten die Hände sie einzubringen. Überall fehlten Männer, so wurden Schüler zu Landarbeitshelfern und Materialsammlern (Spinnstoffe, Wollsachen, Metalle wurden gebraucht), halfen in Krankenhäusern und bei kinderreichen Familien. Schwere Luftangriffe, vor allem auf die Großstädte, wurden zur Tagesordnung und ich war froh, dass wir in einem kleinen Dorf auf dem Land lebten, zu unserer Kreisstadt betrug die Entfernung immerhin fünfzig Kilometer. Dennoch wurden auch wir nicht verschont, und das Geräusch des Fliegeralarms versetzte mich anfangs jedes Mal in einen Zustand solch heilloser Panik und kopfloser Hast, dass wir mehrmals mit einer Frühgeburt rechneten. Während mein Leib sich immer mehr rundete und ich mich nach Erholung und Ruhe zu sehnen begann, häuften sich die Bombenangriffe.

    Meine Ängste schienen mir die Kehle zuzuschnüren, mir die Luft zum Atmen zu rauben und mein Herz zum Zerspringen zu bringen. Die Verdunkelung. Die Geräusche der nahenden Bomber. Die Schüsse der Flak. Die weinenden Kinder. Die Greisin, die sich im Luftschutzkeller an mich drückte und nie wieder aufstand. Die Lebensmittelknappheit. Das lange Anstehen nach dem Notwendigsten. Selbst wenn ich heute zurückblicke, mit der sicheren Barriere der Jahre dazwischen, fühle ich mich sofort wieder eingefangen von der Not und beständigen Angst, ich rieche sofort wieder den Geruch des Krieges, der aus jeder Gasse und jedem Haus drang und in den Luftschutzkellern ein unerträgliches Maß erreichte: eine Mischung aus Angstschweiß, Urin, Verbranntem und Kohl, der auf den Feldern wuchs und zu fast jeder Mahlzeit dazu gehörte. Ich kann seinen Geruch bis heute nicht mehr ertragen.

    Ich verlor meine „ungelebte" Jugend in dieser Zeit. Der Krieg schien alle Schönheit, alle Jugend und jedes Lachen auslöschen zu wollen. Ich war erstaunt, wenn ich im Spiegel denselben hohläugigen und hoffnungslosen Ausdruck in meinem Gesicht entdeckte, den ich an anderen, älteren Frauen beobachtet hatte.

    Der Krieg hatte eine weitere merkwürdige Auswirkung auf mich: Mit der wachsenden Bedrohung unseres Lebens und meiner schrecklichen Angst wuchs das Verlangen nach meinem Kind, eine große, verzweifelte Liebe zu meinem Ungeborenen begann mich auszufüllen. Je näher der Geburtstermin rückte, desto mehr Kampfgeist entwickelte ich, und wie sich herausstellte, sollte ich diesen auch brauchen, denn ich musste meine Tochter Julia ganz alleine zur Welt bringen.

    Peter war mit dem Zug zu dem ersten Vorstellungsgespräch gefahren, das ihm seit seiner Entlassung angeboten worden war. Ich hatte ihn gedrängt zu gehen, obwohl es bis zum errechneten Geburtstermin nur noch eine Woche war. Als der Fliegeralarm mich aus meinem Nickerchen aufschreckte, wollte ich meinen Mantel und die Tasche, die für solche Fälle immer gepackt bereitzustehen hatte, greifen und rasch in unseren Keller laufen. Da bemerkte ich das erste Ziehen in meinem Unterleib. Ich stand einen Moment unschlüssig, griff dann aber nur meinen Mantel und öffnete die Tür. Die Hebamme hatte mir zwar versichert, dass die erste Geburt zwölf Stunden oder länger dauern würde, und die Schmerzen waren erträglich, dennoch erschien es mir vernünftiger, den nahegelegenen öffentlichen Luftschutzbunker aufzusuchen und Menschen in der Nähe zu wissen.

    Ich war noch keine zwanzig Schritte gelaufen, als mich eine Wehe ergriff, die mich zu zerreißen schien. Ich stützte mich an eine Hausmauer und versuchte zu atmen. Plötzlich hörte ich die nahenden Bomber. „Oh Gott, hilf mir!, flehte ich stumm und duckte mich in die Nische der Eingangstür des verlassenen Hauses. Die nächste Wehe kam, der Luftschutzbunker schien weit entfernt, und um zu unserem Haus zurückzugelangen, hätte ich mich über einen leeren Platz schleppen müssen, was ich nicht wagte. Die starken Mauern des Hauses schienen mir einen Funken Trost und Schutz zu gewähren. Nachdem der schlimmste Schmerz der nächsten Wehe abgeebbt war, zwang ich mich, die Augen zu öffnen und nach einem menschlichen Wesen Ausschau zu halten. War denn niemand im Dorf geblieben? Die Häuser und Straßen wirkten völlig verlassen und unbewohnt. Plötzlich konnte ich dem Zwang nicht mehr widerstehen und wandte meinen Blick nach oben. Zum ersten Mal sah ich dem Feind ins Auge, ich sah die Tiefflieger und ihre fallende, grässlich pfeifende Last. Die nächste Wehe schlug so in meinen Körper ein, wie die Bomben nur ein paar Kilometer weiter ans andere Ende des Ortes, ich sah sie fallen, hörte ihren Aufprall und ein schreckliches Donnern und Reißen, ich spürte die Erschütterung unter meinen Füßen und in mir entstand der Drang zu pressen, pressen, pressen, und als der erste Brandgeruch meine Nase erreichte, blickte ich fassungslos auf ein kleines, rotes schreiendes Wesen, das ich mich beeilte, mit meinem Mantel zu umhüllen. Irgendwie gelang es mir nun sogar noch, nach Hause zu taumeln, blind vor Tränen des Schrecks und des Glücks gleichzeitig. Die Nachbarin, die nach der Entwarnung wie von Furien gehetzt nach Hause rannte, da sie gerade Besorgungen gemacht hatte, als der Alarm gegeben worden war, und die ihre Kinder alleine zu Hause wusste, entdeckte mich, als ich ins Haus wankte. Nachdem sie mehrmals hysterisch „Heiliger Herrgott! gerufen hatte, verwandelte sie sich endlich in eine tatkräftige Stütze und ich konnte alles Weitere, einschließlich Nabelschnur abbinden, ihr überlassen. Später kam die Hebamme aus unserem Ort, und nach eingehender Untersuchung gratulierte sie mir zu meinem Glück und meinem gesunden Kind. Mein Kind! Vielleicht gerade wegen der schwierigen Umstände und der Tatsache, dass ich oder besser gesagt wir beide die Geburt ganz alleine durchgestanden hatten, fühlte ich mich Julia ganz besonders nahe. Ich konnte das Gefühl nicht ertragen, sie auch nur einen Meter von mir entfernt zu wissen, ich ruhte erst, wenn ich sie in den Armen hielt. Ihr gesamtes erstes Lebensjahr hindurch trug ich sie eigentlich, wo immer ich ging und stand, mit mir herum.

    Julia war ein hinreißendes Baby, gerade dass sie mir (und somit meiner Mutter) nicht auf den ersten Blick ähnelte, wohl aber auf den zweiten, zog mich an ihr besonders an. Sie hatte ein schmaleres und dunkler getöntes Gesicht als ich, und statt goldblonder Locken sprossen ihr rabenschwarze Borsten. Doch sie besaß genau die gleiche große Augenform wie ich, ein Vermächtnis meines Vaters und das Einzige, was mich äußerlich von meiner Mutter mit ihren dunklen, leicht schrägen Augen unterschied, auch hatte sie meine hohen Wangenknochen und die Stupsnase. Ihre Augen selbst waren erstaunlich rauchgrau und nicht blau wie meine. Sie waren der erste Hinweis auf ihre völlig einzigartige und unabhängige Persönlichkeit, sie waren schön, hellwach und erstaunlich agil. Das Einzige, was entfernt an Peter erinnerte, war der schmale Mund, doch war Julias Mund breiter und wirkte schon im Babyalter entschlossen und irgendwie humorvoll mit den nach oben gebogenen Mundwinkeln und dem dazu passenden Keilchen in der Wange, während der von Peter unscheinbar und bei näherem Hinsehen ein wenig verbittert wirkte.

    Peter konnte sich überhaupt nicht an seine neue Rolle als Vater gewöhnen. Anfangs schwebte er in einem Zustand enthusiastischen Vaterstolzes, er konnte sich gar nicht satt sehen an der Kleinen, getraute sich aber nicht, sie auch nur auf den Arm zu nehmen. Dass es aber nicht nur Angst ihr weh zu tun war, was sich zwischen ihn und das kleine Wesen schob, sondern dass ihm auch jeglicher Bezug zum Umgang mit so kleinen Menschen fehlte, bemerkte ich rasch. Wenn Julia mal brüllte, was sie besonders nachts gerne und ausgiebig tat, da es ihr viel besser gefiel, im Hellen von mir herumgetragen zu werden, als im Dunkeln zu liegen und des Körperkontaktes zu entbehren, wurde Peter sofort nervös. Ich konnte nur den Kopf schütteln über Sätze wie: „Warum brüllt sie? Kann sie das nicht leiser tun? Sage ihr, dass sie damit aufhören soll. Sie hat ja gar keinen Grund dazu. Oder meinst du, ihr fehlt was?"

    Bei aller Arbeit, die ich ganz allein mit ihr hatte, war ich doch zum ersten Mal in meinem Leben glücklich. Julia gab meinem Leben einen Sinn, und ihr gelang es, die Angst und Not, den Kummer und die Trauer auszusperren. Ich ignorierte alles, was mich aus der Ruhe hätte bringen können, und widmete mich ganz meiner Tochter. Ich wusste, dass meine und der Welt Probleme nicht vorüber waren, aber ich verschob sie auf später. Mutter schwelte nach wie vor in meinem Bewusstsein, auf der einen Seite direkt, da ich immer öfter darüber nachdachte, ob ich sie nicht einmal besuchen und ihr Julia zeigen sollte, und auf der anderen Seite indirekt, da ich wahnsinnige Angst hatte, Julia so zu meinem Lebensinhalt zu machen, wie sie es mit mir gemacht hatte.

    Aber momentan litt ich nicht so unsäglich unter ihr, wie ich es achtzehn Jahre lang getan hatte, es tat mir gut, selbst Verantwortung zu tragen und meine eigenen Entscheidungen treffen zu können.

    Ich war so vernarrt in Julia, dass Peter für mich immer mehr in den Hintergrund rückte. Ob er zu Mittag aß oder nicht, ob er auf seine Bewerbungen Antwort erhielt oder nicht, ob es ihm gut ging oder ihn etwas drückte – all das entzog sich immer mehr meiner Aufmerksamkeit. So gelassen ich vorher seinen Problemen gelauscht hatte, nun gab es für mich Wichtigeres zu tun – außerdem behielt ich meine Sorgen ja auch für mich. So kam mir auch gar nicht der Gedanke, er könne möglicherweise etwas dagegen haben, als ich, unserer finanziellen sowie der politischen Situation zum Trotz, beschloss, dass Julia recht bald ein Geschwisterchen haben sollte. Dieser Gedanke erschien mir logisch, zum einen, weil ich festgestellt hatte, dass mir der Umgang mit Kindern Freude bereitete, vor allen Dingen aber, da ich meiner Tochter kein Leben als Einzelkind zumuten wollte. Schon das Wort „Einzelkind" erfüllte mich mit Grauen, und auf diese Weise konnte ich völlig sicher sein, nie die Fehler meiner Mutter zu wiederholen. Es gab also doch etwas, das mir Spaß machte und wozu ich Talent besaß!

    Ich begann also gar nicht erst Experimente mit dem Essigschwamm anzustellen, wozu unsere Nachbarin mir geraten hatte, und als Julia knapp neun Monate alt war, berichtete ich Peter freudestrahlend, dass sich ein weiterer kleiner Erdenbürger angekündigt habe.

    Am nächsten Morgen fand ich seinen Brief. Er lag in einem Kuvert auf dem Küchentisch und verhieß nichts Gutes. Schon als ich die penibel gefaltete DIN-A4-Seite mit Peters enger, kleiner, sorgfältiger Schrift hervorzog, wusste ich, dass sich mein Leben wieder drastisch verändern würde.

    Ich ließ mich auf einen Stuhl sinken und begann zu lesen.

    „Liebe Helena,

    ich werde in den Krieg ziehen. Es fällt mir schwer, diesen Schritt zu tun, aber es muss sein. Bitte missverstehe mich nicht, ich lasse dich nicht etwa gerne allein und ich freue mich auch über deine erneute Schwangerschaft. Jedoch bleibt mir keine andere Wahl, es sei denn, ich sehe tatenlos mit an, wie unsere Familie zugrunde geht. Wie du weißt, habe ich dich mit finanziellen Angelegenheiten weitestgehend verschont, doch ich denke, es ist angebracht, dass ich dir nun mitteile, dass unsere Reserven aufgebraucht sind. Ich mache mir nichts mehr vor, ich habe nicht die geringste Chance, während des Krieges noch eine neue Anstellung im Lehrberuf zu finden. Nun werde ich bald einen Sold erhalten und verspreche dir, jeden Pfennig, den ich entbehren kann, nach Hause zu schicken. Nach Kriegsende werden die Dinge sich zum Besseren entwickeln. Im Falle meines Todes wird für dich und die Kinder gesorgt werden.

    Liebe Helena, bitte verzeih mir. Ich hätte dich unter den gegebenen Umständen niemals heiraten dürfen, ich hätte es niemals wagen dürfen, dich auch nur näher zu betrachten. Ich bereue es zutiefst, dich in diese missliche Lage gebracht und Kinder in diese Armut und Not hineingesetzt zu haben.

    In meinem Studierzimmer findest du alle Bevollmächtigungen, die du benötigst, um unsere letzten Ersparnisse von der Bank abzuheben. Haushalte sparsam damit, dann wirst du damit auskommen, bis mein erster Sold eintrifft.

    Ich weiß, dass ich das Richtige tue.

    Peter."

    Meine erste Reaktion auf Peters Brief war Wut. Er war schmählich geflohen, der Feigling, er hatte uns im Stich gelassen. Kein Wort von Liebe stand in seinem Brief. Kein Kuss für Julia. Erst als mein erster Zorn verraucht war, begann ich nachzudenken, und ein nagendes Gefühl begann in meinem Innern zu bohren.

    Da wir zu Beginn unserer Beziehung einmal darüber geredet hatten, wusste ich, dass Peter nicht wehrpflichtig war, denn er litt unter Schrumpfnieren und Blaseninkontinenz, oder besser gesagt: Er besaß ein Attest, das ihm beides bescheinigte.

    „Für Geld lässt sich vieles kaufen", hatte er nach kurzem Zögern geantwortet, als ich sagte, dass ich von besagter Inkontinenz nie etwas bemerkt hätte. Peter war nie ein Patriot gewesen, er gab sich zwar nicht als überzeugter Kriegs- und Nazigegner, wie es meine Mutter getan hatte, aber ich wusste, dass daran größtenteils seine allgemeine Leidenschaftslosigkeit gegenüber Dingen, die nicht unmittelbar und direkt seine Person beanspruchten, schuld war. Auch war er viel zu sehr von unseren Problemen und der Missachtung, die ihm seine Umwelt entgegenbrachte, in Anspruch genommen worden, um für irgendetwas auf die Barrikaden zu gehen. Außerdem, wenn ich ganz ehrlich sein wollte, hatte ich ihn immer für feige gehalten. Er stand nicht ein für seine Ansichten, aus Angst, er könne auf der sozialen Leiter noch weiter herabrutschen oder sogar bestraft und gequält werden. Er war kein Märtyrer. Er hielt sich fern von der Widerstandsbewegung, fern von jeglichen Konflikten. Er hielt sich aber auch fern vom Schlachtfeld, fern von Kampf und Tod. Wie also war es zu deuten, dass er plötzlich in den Krieg zog? Die möglichen Antworten waren samt und sonders äußerst unangenehm für mich, da sie dazu angetan waren, mir meine Fehler unter die Nase zu reiben.

    Ich war schließlich die heimliche Drahtzieherin dieser Ehe gewesen, ich hatte all diesen Ärger heraufbeschworen. Ich hatte Peter in dem Glauben gewiegt und belassen, dass er mir etwas ganz Schlimmes angetan habe, indem er mich als blutjunges, unschuldiges Mädchen verführte, und ich hatte ihn dafür büßen lassen.

    Ich hatte ihm seine Anstellung und seinen Beruf genommen. Ich hatte ihm eine immense Verantwortung aufgebürdet. Ich hatte sein Leben ins Chaos gestürzt. Und zu allem Überfluss hatte ich ihn auch noch zum Statisten erkoren, nachdem Julia zur Welt gekommen war. Ich hatte ihm weniger Beachtung geschenkt als einem Haustier, hatte ihm deutlich zu verstehen gegeben, dass er seine Sorgen und Nöte doch bitte für sich behalten solle. Die wenigen Gedanken, die ich überhaupt an ihn verschwendet hatte, waren nicht gerade liebevoll gewesen. Ja, das war wohl der Punkt. Liebevoll. Ich hatte Peter nicht geliebt, auch wenn ich mir das wohl teilweise vorgegaukelt hatte, um selbst nicht ganz so schlecht dazustehen. Ich hatte ihn benutzt, um meiner Mutter zu entfliehen, und dabei sein Leben zerstört. Und ich hatte ihn verkannt, hatte mir erst gar nicht die Mühe gemacht, seine wahre Persönlichkeit kennen lernen zu wollen. Wenn er trotz seiner Angst vor Konflikten in den Krieg zog, um seine Familie ernähren zu können, dann musste er mich lieben. Dann musste er stark sein. Dann hatte er mich nicht geheiratet, um den Weg des geringsten Widerstandes zu gehen, wie ich immer angenommen hatte, seit der Direktor von unserer Liaison erfahren hatte, sondern weil er doch zu seinen Verpflichtungen zu stehen vermochte. Wenn er nicht gegangen war, weil ihn Pflicht und Verantwortung erdrückten, sondern weil er von sich aus dazu stehen wollte – dann war er ein Held.

    Ich wusste nicht genau, ob ich mich für meine plötzlich aufsteigende Sentimentalität und meine feuchten Augen verachten sollte, aber eines wusste ich genau: Die Beziehung zwischen Peter und mir würde sich ändern. Ich würde alles daransetzen, um aus dieser Scheinehe eine funktionierende Partnerschaft zu machen, in der jeder sich auf den anderen stützen konnte. Wir mussten lernen, gegenseitig auf unsere Bedürfnisse einzugehen und uns zu vertrauen. Ja, vertrauen. Ich würde mit meiner Lügerei aufhören und der erste Schritt zur Aufrichtigkeit würde es sein, Peter meine Inszenierung unserer Ehe zu gestehen. Wenn er mich dann noch lieben konnte, dann würde er mich so lieben, wie ich war, und auch ich würde ihn mitsamt seinen Schwächen und Untugenden als meinen Mann anerkennen. Ja, so sollte es sein. Vor lauter Aufregung und Begeisterung über meinen Entschluss zu einem ganz neuen Leben hatte ich begonnen, im Zimmer herumzuwirbeln. Oh ja, unsere Ehe würde sich ändern, das wusste ich genau.

    Ich sollte Recht behalten.

    Der Brief, den ich erhielt, war kurz. Er teilte mir – der sehr geehrten Frau Rechter – mit, dass mein Mann leider und bedauerlicherweise nach nur vier Wochen im Dienst am Vaterland gestorben war. Peter hatte nie ein Schlachtfeld zu Gesicht bekommen. Er war im Übungslager an den Folgen eines schweren chronischen Nierenleidens, das bereits weit fortgeschritten war, gestorben.

    Von der bescheidenen Witwenrente konnte ich unsere kleine Wohnung nicht halten. Zu Mutter zurück zu gehen erwog ich keine Sekunde lang. Da ich auch keine neuen Freunde gefunden hatte und einen neuen Anfang machen wollte, mietete ich mich in einer kleinen dunklen Kellerwohnung in einem heruntergekommenen Mietshaus ein paar Orte weiter ein. Zwei winzige, schäbige und feuchte Zimmer, eine stockfleckige Küchennische, aus der die Kellerasseln nicht zu vertreiben waren, und das gewohnte Plumpsklo stellten unser neues Zuhause dar. Durch die vergitterten Fenster, die man eigentlich treffender als Lichtschlitze bezeichnen konnte, sickerte kaum Tageslicht ein, so dass wir selbst bei Sonnenschein auf elektrische Beleuchtung angewiesen waren. Trotzdem war ich froh, eine Unterkunft für uns alleine gefunden zu haben, denn die Zwangsevakuierungen hatten begonnen, nicht nur Verwandte aus der Stadt, sondern auch Flüchtlinge, Familien, deren Wohnungen zerbombt worden waren und Soldaten mussten untergebracht werden und es hieß zusammenrücken – oft teilten sich mehrere Familien eine einzige Wohnung.

    Julia hörte auf durchzuschlafen; zutiefst verstört durch das laute Rauschen der Wasserleitungen und den ständigen Lärm in dem kasernenartigen, kahlen Bau, in dem kinderreiche Familien auf engstem Raum lebten, schreckte sie nachts immer wieder weinend aus dem Schlaf auf. In dieser Zeit begannen meine Depressionen. Ich schlief nicht mehr, grübelte bei Tag und bei Nacht und ließ mich gehen. Meine Schwangerschaft machte mir sehr zu schaffen, ich litt viel stärker unter körperlichen Beschwerden als während der ersten. Meine Lebensängste und die Angst um meine Kinder verbanden sich mit Schuldgefühlen und raubten mir jede Hoffnung. Ich hatte Mutter im Stich gelassen, Peter belogen und in den Tod getrieben und Kinder in ein trostloses Dasein gesetzt. Konnte man schlimmer als ich überhaupt sein? Immer wieder riss ich mich zusammen und zwang mich zur gespielten Munterkeit, versuchte Julia eine gute Mutter zu sein. Ich lachte und spielte mit ihr, spazierte mit ihr durch unser öde und verloren wirkendes Viertel, erfand lustige Geschichten und lernte Kleider für sie und das noch Ungeborene zu nähen und zu stricken. Aber nachts schienen schwarze Gestalten sich zentnerschwer auf mich zu legen, mir die Luft abzuschneiden und mich zu erdrücken. Fand ich endlich ein paar Minuten unruhigen Schlaf, so wurde dieser von den schrecklichsten Albträumen heimgesucht, und es war keine Seltenheit, dass ich schreiend erwachte und die arme Julia, die neben mir schlief, so mit aus dem Schlaf riss. Es schien mir, als könne es nie mehr Frieden geben.

    Die Lage der Deutschen an den Fronten verschlechterte sich zusehends. Im Juni waren die Alliierten in der Normandie gelandet und die Amerikaner hatten Cherbourg eingenommen, während die Rote Armee im Osten immer stärker wurde. Im Juli fand ein Attentat auf Hitler statt, das zu meiner Enttäuschung misslang. Im August wurde Paris befreit und im September besetzten britische Truppen Brüssel und Antwerpen, Montgomery versuchte mittels fast zehntausend Fallschirmspringern bei Arnheim einen Brückenkopf zu errichten, wurde jedoch zurückgeschlagen. Im Oktober drangen die Russen in Ostpreußen ein, und trotz Hitlers Evakuierungsverbots für die dort beheimateten Menschen bildeten sich erste Flüchtlingstrecks und überall in Deutschland, auch bei uns, waren nun noch mehr hungrige Mäuler zu stopfen, weswegen die Neuankömmlinge in den Städten scheel angesehen wurden. Beim Schlangestehen nach Lebensmitteln – was mir durch meine schwangerschaftsbedingt geschwollenen Beine und die Tatsache, dass trotz Lebensmittelmarken immer weniger zu haben war,

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