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Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
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Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin
eBook508 Seiten7 Stunden

Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin

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Über dieses E-Book

Mit viel Selbstironie erzählt eine der bekanntesten Frauen der deutschsprachigen Wirtschaftswelt von ihrem Werdegang.Nur wenige Frauen schaffen es, sich in der Wirtschaftswelt durchzusetzen. Als eine von ihnen blickt Monique R. Siegel auf unterhaltsame Art auf ihr Leben zurück. Jedoch war ihr Leben nicht immer einfach und auch diesen Aspekt lässt die Autorin nicht aus und erzählt von ihrer schweren Jugend und von dem Thema Krebserkrankung. Von Geburt an ging die junge Frau konsequent ihre eigenen Wege anstatt ausgetretenen Pfaden zu folgen und schaffte es so, eine Karriere aufzubauen. Heute ist sie für viele Frauen und Männer ein Vorbild geworden."Nach 10 Tagen spannender Lektüre bin ich auf Seite 419 der einzigartig erzählten Autobiographie von Monique Siegel angelangt - ein Buch, das mich von der ersten Lesestunde an gefesselt hat wie selten eines zuvor. Ich danke Monique für das Privileg, dass ich ihren wechselvollen Weg als Unternehmens- und Innovationsberaterin betrachten resp. nachvollziehen durfte" - Nelly Meyer-Fankhauser Gründerin NEFU Schweiz Netzwerk für Einfrau-Unternehmerinnen"Ein erfrischendes, amüsantes, berührendes und flüssig geschriebenes Buch über die Geschichte einer interessanten Frau, die einiges erlebt hat. Empfehle ich jeder Frau jeden Alters - und natürlich auch interessierten Männern! Schon während der Lektüre kriegt man Lust auf ihre früher erschienen Bücher die leider teilweise vergriffen sind - aber allenfalls über amazon gebrauchte Bücher noch erhältlich sind. Das Buch eignet sich auch sehr gut als Geschenk!" - Kunde bei Amazon-
SpracheDeutsch
HerausgeberSAGA Egmont
Erscheinungsdatum17. Juni 2019
ISBN9788726071283
Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin

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    Buchvorschau

    Espresso mit Zitrone - Mein wechselvoller Weg als Unternehmerin - Monique R. Siegel

    www.egmont.com

    Für Rosmarie Michel,

    die dieses Buch unbedingt wollte –

    und die es nun hat

    Wenn Sie diese Seite umdrehen,

    . . . dann darf ich Sie anreden mit

    Liebe Dialogpartnerin

    Lieber Dialogpartner

    Und wenn Sie jetzt weiterlesen, haben Sie sich bereits auf den Dialog mit mir eingelassen. Dies ist nämlich im eigentlichen Sinne ein KommunikationsBuch, und Kommunikation ist bekanntlich eine Zweiwegangelegenheit. Ich lade Sie also ein, mit mir in den Dialog zu treten, wobei ich auf eine der archaischsten Formen der Kommunikation zurückgreife: Ich möchte Ihnen Geschichten erzählen. Geschichten, die sich zu einer Geschichte verdichten, weil alle von derselben Protagonistin handeln: von mir. Literaturlexika definieren »Protagonist« als »( = erster Kämpfer), der erste Schauspieler, Hauptdarsteller im altgriech. Drama«. Sie können hinter allen Begriffen ein Häkchen machen. Drama, Sie erinnern sich, ist nicht gleich Tragödie, sondern eine »knappe, in sich geschlossene, organisch gewachsene Handlung«. Das werden Sie auf den folgenden Seiten finden.

    Meistens assoziiert man Drama ja mit Bühne. Wenn es in der erzählenden Form auftaucht, dann ist es eine Novelle, die das dramatische Eingreifen des »Schicksals« in das Leben eines Menschen schildert. Dabei gibt es verschiedene Formen von Novellen, u. a. die Rahmennovelle, in der jemand einer Gruppe eine Geschichte erzählt. Diese sogenannten Rahmengeschichten haben eine Art Eigenleben, das u. a. durch den Dialog der Erzählenden mit den Zuhörenden Interesse weckt und die Novelle doppelt interessant macht. Normalerweise finde ich es eher langweilig, über einen längeren Zeitraum nur zuhören zu können; ich rede ganz gerne mit. Sie auch, höre ich Sie sagen? Dann schauen Sie mal, ob Sie mit den Fragen, die ich Ihnen als potentielle Lesende in den Mund gelegt habe, etwas anfangen können. Übrigens: mit dieser Art von Abschweifungen, Umwegen und Nebensächlichkeiten werden Sie auf den folgenden Seiten laufend konfrontiert.

    Vielleicht werden Sie jetzt sagen, das sei doch eine Autobiographie, und darin brauche es keinen Dialog. Ist es eben nicht, denn eine Autobiographie sollte lückenlos und meistens chronologisch alles über das Leben des oder der Schreibenden berichten. Das wird dieses Buch nicht; ich habe mein ganzes Leben lang Klatsch langweilig und überflüssig gefunden und die Selbstdarstellungen anderer anhand intimster Details immer nur mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen. Also wollte ich keine Autobiographie schreiben und habe entsprechende Vorschläge oder Wünsche während Jahren abgewehrt. Dann aber bin ich beim Suchen nach einem Buch »zufällig« auf ein ganz anderes gestoßen, das mir eine andere Sicht des Themas vermittelt hat. Das Buch heißt What Time’s the Next Swan?; der Autor ist Walter Slezak, Sohn des weltberühmten Tenors Leo Slezak und selbst ebenfalls renommierter Opernsänger. Er hat darin sowohl das bewegte Leben seines Vaters als auch sein eigenes auf Buchseiten erzählt und, anhand von unzähligen Anekdoten, somit der Nachwelt erhalten. Schon der Titel ließ mich beim Wiederfinden schmunzeln, und plötzlich fiel mir ein oder auf, daß man sein Leben auch auf diese Art darstellen kann.

    Aber ich muß Ihnen zuerst noch erzählen, wie es zu dem ungewöhnlichen Titel gekommen ist: Leo Slezak war besonders geschätzt als Wagner-Tenor. Einmal, bei einer Aufführung der Oper Lohengrin, ist folgendes passiert: Der Tenor bereitete sich hinter den Kulissen für den ersten Auftritt vor, der ja in einem von einem Schwan gezogenen Kahn stattfindet. Irgendwie hat ein Bühnenarbeiter auf der anderen Seite ein Signal mißverstanden und den Schwan-Kahn zu früh über die Bühne gezogen – ohne Leo Slezak darin. Worauf dieser gelassen gefragt haben soll: »Wann geht der nächste Schwan?«

    Um das voll genießen zu können, müssen Sie wissen, was dieses leere Schwangefährt bzw. diese Art von unfreiwilliger Komik im Kontext einer Wagner-Oper bedeutet. Es zeugt von einem wirklich ungewöhnlichen Sinn für Humor für einen Wagner-Tenor und einer bewundernswerten Präsenz.

    Bei mir – einem deklarierten Opern-, aber definitiv keinem Wagner-Fan – hat es lange nach dem Lesen etwas bewirkt: eine unverkrampfte Haltung dem Schreiben meiner Lebensgeschichten gegenüber. Ich freue mich darauf, sie Ihnen auf den folgenden Seiten zu erzählen.

    April 2002

    Monique R. Siegel

    Vorsicht bei der Wahl der Eltern!

    Man muß den Tiger hören.

    Wenn man ihn sieht, ist es zu spät.

    Indisches Sprichwort

    Lebensläufe in Kurzform sind so eine Sache. Die meisten lesen sich todlangweilig, weil sie alle nach demselben sachlich-knappen Muster gestrickt sind. Klappentexte sind da schon anders – sie verraten nicht nur mehr über die Schreibenden, sondern auch darüber, wie sie sich selbst sehen. Eins meiner Lieblingsbeispiele habe ich in einem Buch des bekannten Zürcher Karikaturisten Nico gefunden. Es beginnt so:

    »Nico Cadsky wurde an einem sonnigen Augusttag von Maria Wallis und Hermann Cadsky, die er später als seine Eltern kennenlernen sollte, in die Welt geworfen. Das war im Jahre 1937 und löste prompt zwei Jahre später eine weltweite Krise aus.«

    Ich war sehr froh, als ich das las, denn so kann ich bestimmt nicht für diese Krise verantwortlich gemacht werden. Ich bin nämlich erst zwei Jahre später auf die Welt gekommen, genau: am 12. Februar 1939, um vier Uhr morgens. An einem Sonntag. In Berlin-Lichterfelde. Vorkriegsware also, und ohne Bezug zu dem, was sieben Monate später ausbrach und beileibe nicht nur mein Leben grundlegend beeinflußt hat.

    Ich bin eins der erwünschtesten Kinder, die man sich vorstellen kann. Fast neun Jahre war Else Erna Charlotte Hulda Ring, geborene Lange, bereits verheiratet; drei Versuche waren gründlich schiefgegangen (zwei Fehlgeburten, eine Totgeburt), aber wenn je eine Frau Mutter sein wollte und sollte, dann war es meine. Sie werden noch viel über diese Frau erfahren; sie hat mein Leben in vielfacher Weise geprägt. Ihr verdanke ich, daß sich Wörter wie Anstand, Vertrauen, Respekt oder Rücksicht mit Inhalt füllten, sowie die Erinnerung an wunderschöne Momente in schwierigen Zeiten.

    Eine der kuriosesten Eigenschaften meiner Mutter war ihr ausgeprägter Aberglaube, der sich fast täglich in irgendeiner Weise manifestierte. Dazu gehörte auch die felsenfeste Überzeugung, daß Sonntagskinder etwas Besonderes sind und Glück im Leben haben. Also – so geht die Mär – soll sie die Wehen mit eisernem Willen so weit verlängert haben, bis es Sonntag war und sie in den frühen Morgenstunden endlich das heiß ersehnte Mädchen in den Armen halten konnte. Eine Tochter! Damals war das Geschlecht eines Babys noch eine Überraschung, und so konnte sie ihr Glück kaum fassen: ein lebendes, gesundes, acht Pfund schweres Töchterchen lag da in ihren Armen – was wollte sie mehr?

    Natürlich kenne ich diese glücklichen Umstände meiner Geburt nur vom Hörensagen; ich bin zwar dabei gewesen, aber begreiflicherweise noch nicht in der Lage, sie selbst bewußt zu »erleben«. Daraus ist so etwas wie eine moralische Verpflichtung entstanden: Wenn man so heiß ersehnt worden ist, sollte man die Ersehnende doch nicht enttäuschen, nicht wahr? Meine Rolle als gute Tochter hat durch diese Geschichte ihr Fundament bekommen, und, wie sich später herausstellen sollte, war das nicht das schlechteste aller Fundamente.

    Dieses Kapitel heißt nicht per Zufall »Vorsicht bei der Wahl der Eltern!«. Ich weiß, wovon ich spreche. Hätte ich wählen können, so hätte ich meine Mutter behalten – und zwar für viel länger als die siebenundfünfzig fahre, die ihr beschieden waren. Mein Vater hingegen hätte nicht einmal den ersten Grobraster geschafft: Er wäre gar nicht zur Auswahl zugelassen worden. Fünfundzwanzig Jahre und vierzehn Tage hat es gebraucht, bis meine Mutter sich endlich von diesem Mann getrennt hat; mein Kommentar als damals Sechzehnjährige war: »Fünfundzwanzig Jahre zu spät!« Dann hätte es mich zwar nicht gegeben, aber ich bin sicher, die Welt hätte das verkraften können.

    Nein, nein, sagen Sie jetzt bloß nicht, das wäre aber schade gewesen. Zum jetzigen Zeitpunkt in diesem Buch wäre das ohnehin nur eine von diesen Floskeln, die ich hasse. Und ob Sie es, nach ein paar hundert Seiten Lesen, wirklich gemeint hätten, wird sich noch weisen. Überhaupt ist jetzt noch nicht Zeit für Kommentare, sondern für Else Erna Charlotte Hulda (ein Schicksalsschlag, mit diesen Vornamen in die Welt geschickt zu werden) Ring, geborene Lange...

    Meine Mutter war einunddreißig, als ich geboren wurde. Das war damals spät fürs erste Kind. Sie hatte geheiratet, als sie zweiundzwanzig Jahre alt war – den ersten Mann in ihrem Leben! Da stimmte nun rein gar nichts außer der Tatsache, daß die Ehe sie aus einem Elternhaus herausführte, in dem sie todunglücklich war. Sie war ohne Liebe, ohne Zärtlichkeit, ohne Gerechtigkeit aufgewachsen, erzogen von einer Mutter, die fünf weitere Kinder geboren hatte, von denen noch drei lebten, und die nach sechs Schwangerschaften entdecken mußte, daß ihr Mann lieber mit einem anderen Mann Zusammenleben wollte. Was er dann auch tat, nachdem sie sich von ihm hatte scheiden lassen.

    Auch ihre Großmutter war geschieden, aus was-weiß-ich für Gründen, aber es müssen gute gewesen sein. Mein Urgroßvater war Glasermeister – vielleicht hat er getrunken, vielleicht hat er sich nicht um die Familie gekümmert: ich habe es mal gewußt, aber es ist nicht so entscheidend. Entscheidend war, daß diese Großmutter zur drastischen Maßnahme der Scheidung griff, und beeindruckend war, daß sie daraufhin das Handwerk erlernte und die Glaser-Werkstatt übernahm.

    Ich nehme an, daß sie dabei nicht übermäßig viel Zeit auf die Erziehung ihrer Kinder verwendet hat. Jedenfalls ist wohl schon meine Großmutter ohne Liebe aufgewachsen, was sie dann später auf ihre Kinder übertragen hat. Sie ist mir als eine kühle, schlanke Dame in Erinnerung, die offenbar immer nur das gleiche trug: Blusen mit einem Jabot und lange, schmale Röcke. So jedenfalls habe ich sie gespeichert. Sie roch nach Pfefferminz und Lavendel; schon ihr fast antiseptischer Geruch verbreitete die klare Message: »Don’t touch me!« Hat sie mich je geküßt? Ich glaube nicht. Hat sie etwas mit mir unternommen? Das hätte ich sicher nicht vergessen. Hat sie sich überhaupt über mich gefreut? Weiß ich nicht, aber da sie meinen Vater nicht mochte (»haßte« wäre ein Wort, das mir im Zusammenhang mit meiner Großmutter mütterlicherseits nie in den Sinn kam – so viel Emotion lag bei ihr nicht drin), hat sie die Tatsache, daß ihre Tochter jetzt noch enger an diesen Mann gekettet war, sicher nicht gefreut. Ich habe sie nur die ersten vier Jahre meines Lebens oberflächlich gekannt; danach haben wir Berlin verlassen. Irgendwann ist sie einfach verschwunden. Sie soll – ich habe keine Ahnung, wie diese Nachricht zu uns gekommen ist – eine Geschwulst in einer Achselhöhle gehabt haben, in einem Krankenhaus gelandet und dort Opfer einer Euthanasie-Order im späten Stadium des Kriegs geworden sein. Ich kann mir das kaum vorstellen, vor allem nicht sie in dieser grauenhaft entwürdigenden Situation.

    Kurios oder kein Wunder, daß meine Mutter mit diesem Hintergrund ein Mensch wurde, der Liebe verströmen und davon umhüllt sein wollte? Sie hatte ihre Jugend in höchst unangenehmer Erinnerung und wollte bei ihren eigenen Kindern alles anders machen. Bei mir ist ihr das weitgehend gelungen. In den ersten sechs Jahren meines Lebens habe ich in den grauenhaftesten Zeiten so viel Liebe bekommen, daß es die Absenz eines Vaters und seiner Liebe weitgehend wettgemacht hat.

    Aber ich greife vor, denn bevor mein Vater die Bühne meines Lebens betritt, spielte er im Leben meiner Mutter die Hauptrolle. Wenn Sie je einen Fall von Fehlbesetzung gesehen haben, dann ist es der. Da ist also eine junge Frau, Anfang zwanzig, attraktiv, aber noch »unberührt«. Generell unglücklich und voller Sehnsucht; speziell auf der Suche nach Liebe, wenn auch nur latent. Daß mein Vater ein Charmeur gewesen sein muß, ist durch seine unzähligen Affären belegt. Anderseits war er Rheinländer, katholisch, fast zehn Jahre älter, geschieden, Vater eines jungen Sohnes und – arbeitslos. Eine umwerfende Kombination! Es ist die alte Geschichte, die viele Zeitgenossinnen meiner Mutter erlebt haben: Er war der erste Mann in ihrem Leben, und sie war der Meinung, daß, wenn man »das« mit einem Mann gemacht hatte, man bei ihm bleiben mußte. So einfach war das. Die standesamtliche Trauung hat an einem regnerischen Septembertag im Jahre 1930 stattgefunden; meine Mutter hatte diesen Regen in ihrer Erinnerung gespeichert, weil das Paar zu der Zeit so wenig Geld hatte, daß sie mit Löchern in den Sohlen ihrer Pumps zum Standesamt gegangen ist und nasse Füße hatte, als sie ihm das Ja-Wort gegeben hat.

    Man sollte meinen, daß da genügend Warnzeichen vorhanden waren. Aber es genügt ja nicht, daß Warnzeichen vorhanden sind, man muß sie auch wahrnehmen und interpretieren können. Sie hat den Tiger wohl nicht hören wollen, denn das wäre einem Eingeständnis gleichgekommen, daß sie sich in eine Situation hineinmanövriert hatte, aus der es keinen Ausweg gab. Die Trauzeugen kamen von meines Vaters Seite, die Familie meiner Mutter hatte mit dieser Trauung nichts im Sinn.

    Lange hielt die Armut jedoch nicht an. Mein Vater hatte etwas entdeckt, was ihn an die Fleischtöpfe Ägyptens heranführte, wo er für die nächsten anderthalb Jahrzehnte mehr als nur tägliche Nahrung fand. Ohne Umschweife: Mein Vater trug sein Parteiabzeichen bereits, als »man« es noch unter dem Revers trug und nur Eingeweihten zeigte. Mit untrüglichem Instinkt hatte er begriffen, daß das politische System, das sich da Deutschland aufzwang, Nieten wie ihm einen neuen Platz in der Gesellschaft sichern konnte. Und er war ganz früh zur Stelle. Die Belohnung für diese frühe Treue zu einer Partei, die sich erst definieren mußte, bestand u. a. darin, daß er es zu einer Position gebracht hatte, von der er vorher nicht einmal hätte träumen können.

    Mein Vater war sehr intelligent, aber, soweit ich weiß, ohne eine echte Berufsausbildung, und er lief der Arbeit nicht gerade nach. Er hat sich meiner Mutter als Journalist vorgestellt, wurde bald schon Redakteur und dann wohl Chefredakteur. Jedenfalls war die Stelle, die er bekleidete, so viel wert, daß er zwei (!) Sekretärinnen hatte, ein großes Büro mit einem großen Schreibtisch, die seinem großen Ego den entsprechenden Rahmen boten. Schreiben konnte er, das muß sogar ich ihm lassen. Linientreu war er auch, und zwar egal, welche Linie: Mein Vater hätte, wären wir nach 1945 in der späteren DDR geblieben, ganz sicher auch einen ebenso statusbewußten kommunistischen Chefredakteur abgegeben.

    Wie gerne hätte ich meine Mutter gefragt, wann sie zum ersten Mal von seiner Parteizugehörigkeit erfahren hat und wie sie damit zurecht gekommen ist. Sie war keine politische Aktivistin, aber die Nationalsozialisten waren ihr zutiefst zuwider. Hat sie die Auseinandersetzung gesucht? Hat sie sich eventuelle Konsequenzen überlegt? Hat sie sich meinem Vater wenigstens temporär verweigert? Oder war sie nur froh, daß endlich Geld da war, um die Miete für eine komfortable Vierzimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf zu zahlen? Bis ich mit ihr über diese Dinge sprechen konnte oder wollte, hatte sich mein Vater zusätzlich noch so viele Dinge zuschulden kommen lassen, daß seine frühe Parteizugehörigkeit nur ein Teil eines großen Sündenregisters war und wir andere, zeitgemäßere Prioritäten hatten.

    Früh hatte sie erkennen müssen, daß wenigstens eine der beiden Sekretärinnen jeweils die Geliebte meines Vaters war, und daß die Parteifreunde, die sie in ihrer Wohnung antraf, nicht die Art Mensch war, mit der sie verkehren wollte. Sie sorgte dafür, daß mein Vater diese Kollegen oder Bekannten außerhalb der Wohnung traf; meine Eltern hatten keine befreundeten Ehepaare, mit denen sie gemeinsam etwas unternahmen. Soweit ich weiß, hatte mein Vater überhaupt nie einen Freund, und ich kann mich nur an zwei Frauen erinnern, mit denen meine Mutter befreundet war. Später waren unsere Wohnverhältnisse so undenkbar, daß sie sicher froh war, nicht dauernd erklären zu müssen, warum wir niemanden einladen konnten.

    Wann mein Vater den Chefredakteurs-Sessel mit der Offiziersuniform vertauschte, weiß ich nicht, aber er hat keine Zeit vergeudet, als der Krieg ausbrach. Er hat es bis zum Hauptmann gebracht – auch hier ist er der Gefahr nicht nachgerannt – und war lange Zeit in Frankreich, wo er sich als Besatzer im Hinterland ein feudales Leben machte. Dann sollte er in Ostpreußen das Reich gegen die vorrückenden Russen verteidigen, was ihm, wie wir wissen, gründlich mißlungen ist. Schließlich ist er irgendwo im Rheinland in britische Kriegsgefangenschaft geraten, aus der er 1945 aus gesundheitlichen Gründen – es hatten alle die Ruhr, eine damals weitverbreitete Infektionskrankheit, und irgendwie muß er sich das zunutze gemacht haben – entlassen worden ist. Keine rühmliche Militärkarriere, aber, soweit ich weiß, auch keine besonders unrühmlichen Taten.

    Jedenfalls führte das alles dazu, daß ich die ersten sechs Jahre meines Lebens nur mit meiner Mutter verbracht habe, die in mir eine durchaus ernst zu nehmende Partnerin im täglichen Leben sah. Ich besetzte gleichzeitig die Rolle des abwesenden Ehemannes, der fehlenden Freundinnen und der nur am Rande vorhandenen Familie meiner Mutter. Ich wurde eine kleine Erwachsene und das Zentrum all der Liebe, die meine Mutter zu verschenken hatte; mir galt all ihre Aufmerksamkeit.

    In den ersten vier Jahren meines Lebens habe ich mehr gelernt und erfahren als viele Kinder überhaupt und sicher mehr als die meisten deutschen Kinder damals. Es gibt eine ganze Reihe von Fotos aus dieser Zeit; meine Mutter war eine passionierte Fotografin, und der Fotoapparat, den sie damals hatte, hat uns, wie die Fotoalben auch, durch alle Bombardierungen, Evakuierungen und Fluchten begleitet. Offenbar ist auch immer jemand da gewesen, der uns beide oder hie und da sogar alle drei fotografiert hat. Auf den Fotos sind eine glückliche Mutter, ein uniformierter Vater und ein aufgewecktes Kind zu sehen, das offenbar eine große Garderobe besaß. Meine Mutter war eine begnadete Näherin, die sogar noch aus Pferdedecken Wintermäntel schneidern konnte. Ich bin gewiß eines der bestangezogenen Kinder zu der Zeit gewesen, denn aus jedem Fetzen Stoff hat sie noch etwas Brauchbares für mich kreiert. Stricken und Häkeln konnte sie natürlich auch hervorragend – ich erinnere mich nicht nur an bildschöne Pullover mit aufgesticktem Monogramm, sondern auch an fürchterliche Unterhosen im Muster 3-R-1-L-versetzt (falls Sie das nachstricken wollen: drei rechte Maschen, eine linke – auf der Rückseite wird dann die linke Masche zur mittleren rechten –, aber ich warne Sie: das Resultat wird untragbar sein ...), aber das kam erst einige Zeit später.

    Erinnerungen aus den ersten vier Jahren in Berlin? Da gibt es erstaunlich viele. Schneeige Winter zum Beispiel, in denen ich weiße Gamaschenhosen und einen dunkelblauen Samtmantel mit dazugehörigem Hütchen trug. Wir sind Unter den Linden spazierengegangen: Meine Mutter im Pelzmantel (wenn wir das so nennen wollen; es war, glaube ich, ein Fohlenmantel) und hohen Absätzen! Abgesehen davon, daß man damals nicht unbedingt Stiefel trug oder es dann bald auch keine gab, hatte sie wunderschöne Beine, die sie wahrscheinlich lieber gezeigt (und dabei gefroren) als bedeckt hat. Sie hatte offenbar dieselben Beinmaße wie Marlene Dietrich – mein Vater soll das mal nachgemessen haben –, hatte wunderschöne Hände und war überhaupt eine attraktive, elegante Frau, die die Blicke der Männer auf sich zog. Aber vor allem war sie ein liebenswürdiger Mensch mit Charme und einem großartigen Sinn für Humor.

    Woher ich das alles weiß? Ich habe unzählige Male erlebt, wie irgendein Mann uns irgend etwas zulieb getan hat; einem davon verdanke ich vielleicht mein Leben. Bei einem der Transporte, wo wir vor irgend etwas flüchten mußten – entweder aus dem zerbombten Berlin oder aus Ostpreußen, wohin wir evakuiert worden waren und von wo wir dann in letzter Minute nach Thüringen verfrachtet wurden –, ging es darum, im letzten Zug noch unterzukommen. Sie müssen sich das genauso vorstellen, wie man es in Kriegsfilmen sieht: Völlig überfüllte Züge, Trauben von Menschen an den Zugtüren und auf den Waggons, und Hunderte auf dem Bahnsteig, die noch mitwollen. Wer immer der Mann war, er schuf eine Lücke, stieß meine Mutter hinein, die von dem Sog der Menschen ins Wageninnere gezogen wurde und an einem der offenen Fenster landete. Sie schrie: »Mein Kind! Mein Kind!«, aber der Unbekannte hatte sie bereits am Fenster entdeckt und sich den Weg dorthin gebahnt. In Windeseile reichte er Kind und das draußen gebliebene Fluchtgepäck durchs Fenster; schluchzende Mutter und weinendes Kind vereint inmitten von aufeinandergetürmten Gepäckstücken – was hätte Hollywood daraus gemacht? Ich bin sicher, in dieser Geschichte hat es dann einen Mann gegeben, der im Innern des Zuges dafür gesorgt hat, daß diese hübsche Frau mit ihrem auch-nicht-so-häßlichen Kind ihr Gepäck verstaut bekommen und irgendeinen, wenn auch vielleicht improvisierten Sitzplatz gefunden hat.

    Was immer der Ausgangspunkt dieser Reise gewesen ist, sie muß 1943 oder danach stattgefunden haben. Bis dahin lebten wir nämlich in Berlin, und gar nicht mal so schlecht. Meine Mutter war sehr praktisch veranlagt, und sie hatte schnell begriffen, wie man mit rationierten Lebensmitteln durchkam. Zum einen mußte sie die Lebensmittelmarken-Ausgabe für den Wohnblock übernehmen. Das brachte uns in Kontakt mit der ganzen Nachbarschaft, die einmal im Monat bei uns vorbeischauen und die Monatsmarken abholen mußte. Meine Mutter war (fast) immer gut gelaunt und allgemein beliebt. Ich bin sicher, daß ihr diese aufgezwungene Tätigkeit sehr geholfen hat, als sie anfing, ziemlich leichtsinnig im Luftschutzkeller Hitler-Witze zu erzählen. Obwohl das beileibe nicht allen gefallen hat, hat niemand sie verraten; in vielen anderen Fällen hat so etwas genügt, um in einem Konzentrationslager zu landen.

    Lebensmittelkarten wurden noch in einer anderen Weise wichtig. Durch geschicktes Kombinieren von Fett-, Zucker-, Fleisch- und Brotmarken schaffte es meine Mutter, daß wir fast jeden Tag auswärts essen konnten. Schon bald hatten wir ein Lieblingslokal: das »Berliner Kindl« auf dem Kurfürstendamm. Dort kannten uns alle Kellner und wahrscheinlich auch alle aus der Küche. Jedenfalls haben wir beide fast täglich dort zu Mittag gegessen. Meine Mutter hat die Vorteile, die ihr Aussehen und ihr Charme ihr brachten, geschätzt, und obwohl sie gut und gerne flirtete, hatte sie keine Absicht, ihren in Frankreich weilenden Ehemann zu betrügen, was ihr nicht auf gleiche Weise vergolten wurde. Sie hatte sich ihre eigene kleine Welt geschaffen, in der ich die Partnerin in einer engen Zweierbeziehung war.

    Und damit waren einige Lernerfahrungen verbunden. So mußte ich zum Beispiel schon sehr früh lernen, in diesem Restaurant (oder wo immer sonst wir einkehrten) alleine auf die Toilette zu gehen. Nachdem meine Mutter mich ein paar Mal begleitet hatte und ich mit drei Jahren durchaus in der Lage war, mein Geschäft ohne sie zu verrichten, schickte sie mich alleine auf die weite Reise. Diese Reise bestand aus ca. fünf Metern geradeaus, bevor ich eine kleine Treppe hinuntermußte, wo sich die Damentoilette befand. Ich wartete jeweils bis zum allerletzten Moment, nachdem ich vorher meine Mutter angefleht hatte mitzukommen. Sie erklärte mir immer wieder geduldig, daß ich lernen müßte, die paar Schritte alleine zu gehen, und wenn es dann wirklich eilte, stand ich tränenüberströmt auf, stolperte los und rannte prompt in den nächsten Tisch oder den ersten Kellner, dem ich begegnete. Das ist vielleicht nicht jedesmal so abgelaufen, denn irgendwann habe ich begriffen, daß meine Mutter nicht nachgeben würde, aber meine Erinnerung an diese Expeditionen ist so stark, daß ich heute noch das Restaurant, »unseren« Tisch und den hindernisreichen Weg zu »Damen« zeichnen könnte.

    Meine Mutter hatte zwar keine glückliche Kindheit gehabt, aber sie hatte das mitbekommen, was man Kinderstube nennt. Dazu gehörten selbstverständlich gute Tischmanieren, und so konnte ich bereits im zarten Alter von drei Jahren sehr gut mit Messer und Gabel umgehen. Ich saß »anständig« am Tisch, rannte nicht im Restaurant herum und verschüttete keine Getränke. Ich glaube, meine Mutter hätte mich zu Hause gelassen, wenn ich das alles nicht schnell gelernt hätte; für gewisse Nachlässigkeiten hatte sie schon damals kein Verständnis. Im Grunde genommen fand ich das alles auch ganz gut, außer eben der Sache mit der Toilette.

    Und wenn ich alleine zu Hause geblieben wäre? Na, dann hätte ich eben wie eine »kleine Große«, wie mich meine Mutter nannte, das Telefon bedient und meiner Mutter bei ihrem Nach-Hause-Kommen erzählt, wer angerufen hat und mit wem ich lange Unterhaltungen gehabt hatte. Oder ich hätte mir die Zeit mit meinen zahlreichen Spielsachen vertrieben oder im Kleiderschrank herumgestöbert – einem dieser alten, dreiteiligen mit einer Spiegeltür in der Mitte –, wo unten, in Seidenpapier verborgen, Schätze lagen. Dort fand ich zum Beispiel die Abendtasche meiner Mutter, die einen Knipsverschluß hatte. Offenbar konnte ich stundenlang damit spielen, wobei der Knipsverschluß bald einmal keiner mehr war und das Gelenk der Seidentasche zurechtgebogen werden mußte, damit die Tasche wieder schloß.

    Mein Lieblingsschatz war jedoch der Fuchs, den man sich so malerisch umlegen konnte. Es kostete mich zwar etwas Überwindung, ihn anzufassen, denn damals nahm man noch das ganze Tier, und ich hatte irgendwie Angst vor seinen kralligen Extremitäten. Aber die Mischung aus dem Parfüm meiner Mutter, den Mottenkugeln und dem eigentlichen Tiergeruch übte eine große Faszination auf mich aus, und wenn es auch eher so aussah, als ob der Fuchs mit dem kleinen Mädchen herumlief, so guckte ich doch gerne in den Spiegel und fand mich ganz »grande dame«.

    Ach ja, die Eitelkeit! Sie hat uns einmal sogar in Lebensgefahr gebracht. Meine Mutter hatte ein Kleid für mich geschneidert aus einem schwarzen und einem schwarz-weiß karierten Stoff, das ganz leicht anzuziehen war. Es war das »Kellerkleid«, das ich beim ersten Ton der Alarmanlagen alleine anziehen konnte, während meine Mutter alles andere zusammensuchte, was sie wieder einmal mit ihren zwei Händen in den Luftschutzkeller schleppen wollte. Eines Nachts bin ich offenbar sehr ungnädig aufgewacht und habe auf totale Verweigerung gemacht. Ich wollte dieses doofe Kleid nicht anziehen, und als meine Mutter mir dann schließlich das Ding über den Kopf stülpte, ließ ich eine kleine Szene vom Stapel. Es ist mir deshalb in Erinnerung, weil es eine der wenigen Male war, wo meine Mutter die Beherrschung verlor und mich schlug. Obwohl die britischen Flieger eigentlich keine Zeit für so etwas ließen, muß sie mein Geschrei in einem solchen dramatischen Moment dermaßen genervt haben, daß sie ins Kinderzimmer stürzte, wo ihr Vorzeigekind auf dem Bett auf und ab hopste und schreiend verkündete, daß es dieses Kellerkleid nicht anziehen wollte, dieses Vorzeigekind umdrehte und ihm den Popo versohlte. Unnötig zu betonen, daß wir danach nie wieder ein Problem mit dem Kellerkleid gehabt haben.

    Meine Mutter war eine leidenschaftliche Berlinerin, und wie die meisten leidenschaftlichen Berliner war sie in der Provinz geboren: in Pommern – etwas, was sie dem Schicksal übelnahm. Nachdem sie ihre pommersche Herkunft abgestreift hatte, wurde sie eine hundertprozentige Städterin. Alles, was nicht Berlin war, war Provinz. Kein Wunder also, daß sie die Stadt freiwillig nie verlassen hätte, und so blieben wir fast unverantwortlich lange in Berlin, das zum Zentrum der Luftangriffe wurde. Zweimal ist unser Haus durch Bomben beschädigt worden, während wir im Luftschutzkeller waren. Ich spüre heute noch die kalte Zugluft, die durch die Wohnung fegte, als wir wieder oben waren. Die Fensterscheiben hatten beide Male dem Luftdruck nicht standgehalten und lagen danach als Tausende von Splittern buchstäblich überall herum.

    Zweimal konnte man den Brand löschen, die Scheiben wieder ersetzen, aufräumen und weitermachen. Als das Haus dann einen Volltreffer abbekam, waren wir zum Glück nicht mehr in der Stadt, und während alles, was wir besaßen und nicht nach Ostpreußen hatten mitnehmen können, unter einem gewaltigen Trümmerhaufen verschwunden war, waren wir unverletzt. Natürlich mußte meine Mutter sehen, ob noch etwas zu retten war; wie es ihr gelungen ist, mit mir wieder nach Berlin zu reisen, weiß ich nicht, aber ich werde nie den Anblick vergessen, wie sie tränenüberströmt mit bloßen Händen die Trümmer durchgrub, um vielleicht doch noch etwas zu finden, was uns einmal gehört hatte.

    Bilder, die in der Erinnerung leben. Da fällt mir noch eins ein, das zwar auch mit Bombardierungen zu tun hat, aber amüsant ist. Ich bin, wie gesagt, als kleine Erwachsene erzogen worden, und aufgrund der Nähe zu meiner einzigen Bezugsperson war ich auf Stimmungen oder Verhaltensweisen meiner Mutter sensibilisiert. Eines Tages, als ich offenbar noch nicht völlig toilettenfest war, hat sie mich aufs Töpfchen gesetzt, mir ein Bilderbuch in die Hand gedrückt, und mir erklärt, daß sie schnell zum Laden um die Ecke gehen müsse, um einzukaufen. Während sie anstand, gab es Alarm – zum erstenmal fand ein Fliegerangriff am hellichten Tag statt! Sie unten, in der Schlange, und das Kind oben alleine in der Wohnung! So schnell sie rennen konnte lief sie zurück, und schon beim Aufstoßen der Wohnungstüre rief sie mir zu, daß ich mich sofort anziehen sollte, weil wir in den Keller müßten. Bis dahin hatten wir über Tag nur Probe-Alarm gehabt, und ich begriff nicht, warum sie so aufgeregt war. Ich wollte sie beruhigen und sagte tröstend, während ich auf dem Töpfchen sitzenblieb: »Aber das ist doch nur Probe-Alarm.« Wenn Sie glauben, SIE hätten Probleme, wenn Sie Ihrer Tochter oder Ihrem Sohn irgend etwas erklären müssen, stellen Sie sich mal vor, was es heißt, ein Kind davon zu überzeugen, daß man diesmal den Ernstfall probt. Offensichtlich muß es ihr gelungen sein – ohne Tracht Prügel –, aber auch der Ernstfall des ersten Tagesangriffs, dem natürlich weitere folgen würden, hat sie nicht dazu bringen können, freiwillig Berlin zu verlassen.

    Eines Tages, im Sommer 1943, gab es dann aber keine andere Wahl mehr; es wurde der Zivilbevölkerung befohlen, die Stadt, die laufend bombardiert wurde, zu verlassen. Unser Ziel war ein Kaff namens Kreuzingen in Ostpreußen, wo man uns in Sicherheit glaubte.

    Als verantwortungsbewußte Mutter wird sich die meine im voraus Gedanken gemacht haben, was sie in diese Exilierung mitnehmen wollte, und vielleicht wird Ihnen das im nachhinein alles etwas komisch vorkommen. Also, da waren, wo immer wir hinmußten – Keller oder anderes Gebiet in Deutschland – vor allem die Federbetten. In jeder Hand trug meine Mutter eines dieser unförmigen Bündel, die sich, wenn man sie entbündelte, als wahre Schatzkammern entpuppten. Ein paar Dinge sind mir noch in Erinnerung:

    das Allernötigste an persönlicher Kleidung für uns beide

    Bettwäsche zum Wechseln

    das elektrische Bügeleisen

    ein paar Werkzeuge

    alle Papiere, ohne die man im Deutschland der 40er Jahre nicht auskommen konnte

    Fotos

    ein paar kleinere persönliche Erinnerungsgegenstände

    Sicher wird da noch manches andere drin gewesen sein, aber an die vorher erwähnten Gegenstände erinnere ich mich noch genau, besonders an das Bügeleisen, das schwer und unhandlich war, aber noch sehr lange in unserem Leben blieb und uns viele gute Dienste geleistet hat.

    Kreuzingen. Nicht Königsberg, sondern ein wirklich unterentwickeltes Dorf im Nordosten des damaligen Deutschlands. Die Dorfstraße hatte eine Molkerei, eine Metzgerei und eine Bäckerei. Es gab einen Gasthof, Zentrum des öffentlichen Gesellschaftslebens – und wir hatten das Glück, dort im zweiten Stock ein Zimmer zu bekommen. »Glück« bedeutet hier, daß alles andere noch viel schlimmer gewesen wäre, als es ohnehin schon war. Das Zimmer war klein und abgeschrägt; zwei Betten entlang den beiden Längswänden, vor einem der Eßtisch, anschließend an das andere der Gaskocher. An einem Ende ein Dachfenster, am anderen eine Waschgelegenheit. Ein Kleiderschrank und eine Kommode werden auch noch Platz gehabt haben, aber damit war das kleine Zimmer überfüllt. Ich erinnere mich an diese Möblierung sehr genau, aus verschiedenen Gründen:

    Ich habe mich offenbar bemüht, in das Jahr, das wir dort hausten, so viele Krankheiten wie möglich hineinzupacken. Meine arme Mutter! Da war zuerst einmal das, was die Einheimischen »die polnische Krankheit« nannten: Infolge unzureichender Hygiene war der Körper mit unzähligen roten Pusteln übersät, die grauenhaft juckten. Wenn man kratzte, entstanden häßliche kleine Narben. Ich hatte mich angesteckt beim Spielen mit den einheimischen Kindern, zu denen auch die der Knechte und Mägde gehörten, die auf dem zum Gasthof gehörenden Bauernhof arbeiteten. Die Heilung war fast schlimmer als die Krankheit: Meine Mutter hatte eine stinkende Tinktur erworben, mit der sie mich von oben bis unten einreiben mußte. Das Zeug brannte dermaßen, daß ich schreiend zwischen dem offenen Fenster und der geöffneten Tür hin- und herlief, damit der Luftzug, der dadurch entstand, mir etwas Linderung brachte. Die Ausmaße des Zimmers haben sich mir also eingeprägt, zumal ich es geschafft haben, in diesem einen Jahr gleich dreimal die Krätze zu kriegen!

    Damit es meiner Mutter und mir in den Zeiten dazwischen nicht langweilig wurde, bekam ich irgendwann Gelbsucht. Eine mühsam-langwierige Angelegenheit, der nur mit strikter Diät beizukommen war. Und krankheitsbedingte Diäten in Zeiten der Not sind alles andere als einfach einzuhalten. Während dieser Krankheit hatte ich viel Zeit, an die Decke zu starren oder meiner Mutter beim Kochen zuzusehen. Das Zimmer wurde mir sehr vertraut.

    Irgendwann habe ich dann einen Unfall bewerkstelligt: Jemand hat mich auf dem Gepäcknetz eines Fahrrads mitgenommen. Dort sollte man die Füße auf die Radnabe stellen oder ganz weit Wegstrecken. Ich fand beides überflüssig – und schon war ein Fuß in den Speichen des Hinterrads! Eine Narbe am rechten Knöchel zeugt noch heute davon. Wiederum hatte ich Gelegenheit, das Zimmer zu »genießen«.

    Schließlich setzte ich allem die Krone auf, indem ich Scharlach bekam. Windpocken, Keuchhusten und Masern hatte ich noch in Berlin abgehakt. Meine Mutter wartete mit angehaltenem Atem darauf, ob ich ihr jetzt noch Diphtherie antun würde, doch da habe ich sie enttäuschen müssen. Aber für ein Jahr waren dreimal Krätze, Gelbsucht, Scharlach und der Radunfall eigentlich auch genug, oder?

    Den Scharlach habe ich übrigens nicht in dem Zimmer auskurieren können; ich wurde in das Kreiskrankenhaus eingeliefert. Eine einmalige Gelegenheit, das deutsche Spitalwesen im Kriegswinter 1943/44 kennenzulernen! Ich war auf der Quarantäne-Station im selben Zimmer mit drei Erwachsenen. Der Kontakt zur Außenwelt bestand darin, daß ich mit meinen Eltern (mein Vater war auf Weihnachtsurlaub) durch ein geschlossenes, vergittertes Fenster per Handzeichen kommunizieren durfte! Und ich hatte ihnen so vieles zu erzählen: Zum Beispiel, daß ich Hunger hatte und nicht genug zu essen bekam. Das nächste Mal brachte meine Mutter etwas mit. Ich aß nicht alles, hätte das aber gescheiter tun sollen. Das Übriggelassene hatte ich im Nachttischchen versteckt. Am nächsten Morgen war es nicht mehr da; dafür war der Nachttisch innen mit Mäusedreck übersät.

    Als ich nach einigen Wochen endlich den schrecklichen Ort verlassen konnte, hatte ich nur noch ganz dünne Zöpfe. Ob das der Beginn meiner Haar-Obsession war? Es könnte sein, denn ich hatte als Kind sogenannte Schiller-Locken, die fast jeden Abend auf Holzwickler (!) aufgerollt wurden. Eigentlich könnte ich alle meine Webfehler damit entschuldigen: Man stelle sich mal vor, was das meinem Gehirn angetan haben muß ... Oder vielleicht war es ein Webfehler meiner Mutter, die eigentlich viel zu intelligent war, um so etwas zu tun. Jedenfalls haben wir beide viel Zeit damit zugebracht, meine Haare so hübsch wie möglich zu präsentieren. Sie selbst hatte sehr dünnes Haar; vielleicht hat sie deshalb den Haaren ihrer kleinen Tochter so viel Aufmerksamkeit geschenkt.

    Ach ja, die Haare! Sie waren mein ganzes Leben lang ein Thema. Es gibt Fotos von mir, die mich mit dichten Haaren, ja hie und da sogar mit einer sogenannten Löwenmähne zeigen. Aber ich war nie wirklich zufrieden mit dem, was ich hatte, denn selbst wenn es gut aussah, hatte es ziemlich viel Hilfe seitens der Chemie gebraucht, was wiederum bedeutete, daß Nebel, Nieselregen, aber auch große Hitze jede Frisur in größte Gefahr brachten und ich total abhängig von meinem jeweiligen Coiffeur war. Man sagt ja, daß jede Frau zuerst das bei einer anderen (kritisch) anschaut, was sie selbst nicht hat oder womit sie selbst nicht zufrieden ist. Ich kann das bestätigen: Mein Blick fällt bei einem weiblichen Gegenüber unweigerlich zuerst auf die Haare. In meiner Zeit in den USA hatte das eine geradezu masochistische Komponente: Amerikanerinnen haben meistens sehr gutes Haar und sehr viel davon, und so hatte ich also immer wieder Grund, mit meinem zu hadern. Kein Wunder auch, daß die amerikanische Filmschauspielerin Farah Fawcett mit ihrer unglaublichen Haarfülle eines meiner Idole wurde.

    Als Fünfjährige fand ich die dünnen Zöpfchen auch nicht berauschend, aber sie waren ja kein Dauerzustand, und bald waren Krankheit, Mäuse und Haarausfall vergessen, besonders nachdem meine Mutter und ich wieder ein halbwegs normales Leben aufnehmen konnten. Dazu gehörte allerdings hie und da auch etwas Außergewöhnliches, wie zum Beispiel Kino. In Berlin hatte sie mich manchmal zu etwas Jugendfreiem mitgenommen. Das hatte mich damals wohl nicht so fasziniert, denn ich weiß noch, daß für mich das Wichtigste war, zu wissen, wo die Toilette war. Ich »mußte« einfach dauernd und hatte immer Angst, zu spät dorthin zu kommen.

    In Kreuzingen hingegen gab es diese Gefahr nicht, denn es gab gar kein Kino! Manchmal aber schafften ein paar Filmrollen den weiten Weg bis fast an die Ostgrenze des damaligen Deutschlands, und dann gab es in einer großen leeren Scheune eine Filmvorführung! Allerdings nur für Erwachsene, was meine Mutter nicht daran hinderte, mich mitzunehmen. Wir warteten, bis das Licht ausging, und schlichen uns dann hinein. Bis dahin waren alle Sitzplätze besetzt, und wir mußten stehen. Wenn ich mich als fast einziges Kleidungsstück an den Pelzmantel meiner Mutter erinnerte, dann nur, weil sie ihn leicht öffnete während der Vorstellung, damit ich daraus hervorgucken konnte, und sie mich irgendwie darunter verbarg, wenn beim Wechseln der Filmrollen das Licht wieder anging. Jedenfalls sind wir nie geschnappt worden, obwohl sie sich mit solchen Eskapaden immer wieder in potentielle Konflikte mit offiziellen Organen brachte.

    Ich kann mich nicht erinnern, einen Mangel an Spielzeug gehabt zu haben, sogar in der Evakuation. Wie viele Kinder träumte aber auch ich von einem Fahrrad, besonders angesichts der Tatsache, daß es in diesem Kaff keine andere Transportmöglichkeit gab als Radfahren, Laufen oder allenfalls von einem bäuerlichen Leiterwagen ein Stück mitgenommen zu werden. Und das Wunder geschah: Mein Vater bekam nochmals Urlaub, bevor er die Fleischtöpfe Frankreichs verlassen mußte und an die Ostfront verschoben wurde, und brachte ein nagelneues rotes Kinderfahrrad mit! Mein Gott, mitten im Krieg, nein, am Ende des vorletzten Kriegsjahres kommt ein Vater mit einem wunderschönen Fahrrad auf Urlaub! Wie ihm das gelungen ist, weiß ich nicht, aber ich konnte es kaum erwarten, bis das Wetter es zuließ, daß wir dieses Wunderding einweihen konnten.

    Die meisten Erwachsenen können sich nicht so recht erinnern, wie sie radfahren gelernt haben. Sie konnten es eines Tages einfach. Ich nicht, und daher erinnere ich mich sehr gut – nicht zuletzt auch, weil es um diese Lernerfahrung herum die erste große Auseinandersetzung mit meinem Vater gab. Und das ging so: Vater geht mit Kind und Rad in ein Kornfeld, wo es breite Schneisen, aber keine Menschen gibt. Kind darf Rad selbst schieben. Vater zeigt, wie das aussieht, wenn man richtig radfährt – als nicht sehr Großgewachsener gelingt es ihm sogar, dem Kind das auf dem Rad selbst vorzumachen. Kind besteigt Rad – und fällt hin. Vater erklärt erneut – mit dem gleichen Resultat. Kind macht aber Fortschritte – es fährt einige Meter, bevor es wieder hinfällt. Vater wird zunehmend gereizt; es gibt die erste Ohrfeige. Kind weint jetzt, sieht noch weniger, wohin es fährt – und: Resultat wie gehabt. Zweite Ohrfeige von entnervtem Vater, was immer noch keinen Lernerfolg auslöst. Schließlich Drohung von Vater an Kind: »Herrgott, begreifst du denn gar nichts?! Wenn du noch einmal fällst, verkaufe ich das Fahrrad!« Den nächsten Versuch hätte sich das tränenüberströmte Kind eigentlich sparen können; es hat das Resultat nur um ein paar Minuten hinausgezögert. Natürlich bin ich wieder hingefallen – und, ja, das Rad habe ich nach diesem Nachmittag nie mehr gesehen. »Natürlich«, sollte ich auch hier noch hinzusetzen, obwohl ich das damals noch nicht gewußt habe. Mein Vater drohte nie einfach so. Er hielt seine Versprechen. Ich würde später lernen, seine Drohungen ernst zu nehmen.

    Wenigstens haben wir von diesem Fahrrad ein paar gute Mahlzeiten gehabt. Im Frühsommer 1944 haben sich die Bauern noch um solche Raritäten gestritten und in Tauschgeschäften überboten, ein Jahr später hätten sie dafür nur noch ein müdes Lächeln aufgebracht, denn da lagen die Perserteppiche schon in ihren Kuhställen, weil sie so viele davon gegen ein Pfund Butter, ein paar Kilo Kartoffeln oder zehn Eier eingetauscht hatten. Sobald mein Vater sich als Fahrlehrer aus meinem Leben verabschiedet hat, habe ich selbstverständlich radfahren gelernt. Wie gut ich das später konnte, habe ich als Dreizehnjährige unter Beweis gestellt, als ich für einen Lesezirkel die wöchentliche Auslieferung in der Altstadt Duisburgs übernahm und

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