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My darkest prayer (eBook): Kriminalroman
My darkest prayer (eBook): Kriminalroman
My darkest prayer (eBook): Kriminalroman
eBook332 Seiten4 Stunden

My darkest prayer (eBook): Kriminalroman

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Über dieses E-Book

Nathan Waymaker arbeitet im Bestattungsunternehmen seines Cousins und ist nicht nur deshalb dafür bekannt, dass er weiß, wie man mit Leichen umgeht: Er, der ehemalige Marine und Deputy, hat sich in seiner Kleinstadt in Queen County, Virginia, einen Ruf als Mann aufgebaut, der helfen kann, wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft sind. Als ein beliebter Pfarrer tot aufgefunden wird, bitten die Gemeindemitglieder Nathan, sich die Sache einmal genauer anzusehen, weil die Polizei den Fall eher unter den Teppich zu kehren scheint. Bald findet sich Nathan in einem Wirrwarr aus Kleinkriminellen, Gangsterbossen, Pornostars, korrupten Polizisten und halbseidenen Predigern wieder – und muss dabei stets befürchten, dass auch seine eigenen dunklen Geheimnisse an die Oberfläche kommen ...
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum4. Mai 2023
ISBN9783747204665
My darkest prayer (eBook): Kriminalroman
Autor

S.A. Cosby

S. A. COSBY ist Schriftsteller und leidenschaftlicher Schachspieler und lebt im US-Bundesstaat Virginia. 2019 gewann er den Anthony Award für die beste Kurzgeschichte. Für »Blacktop Wasteland« erhielt er 2020 den LA Times Book Prize.

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    Buchvorschau

    My darkest prayer (eBook) - S.A. Cosby

    PROLOG

    Ich sah, wie die Scheinwerfer durch die Dunkelheit und den Nebel schnitten, die den Friedhof einhüllten. Skunk fuhr langsam und vorsichtig, weil die Fahrbahn voller Schlaglöcher und Spurrillen war. Die Gethsemane Baptist Church befand sich auf der anderen Seite des Countys am North River. Ein Grab hinter dieser Kirche auszuheben war wie einen Brunnen zu graben. Viele Jahre, bevor ich auch nur ein Schimmern in den Augen meines Vaters war, hatten die Kirchenältesten ein Feld in der Nähe eines Hains verwachsener Maulbeerbäume erworben. Die Äste erinnerten jetzt im Scheinwerferlicht an tanzende Skelette. Ich stand neben einem frisch ausgehobenen Grab, das mit zwei großen Sperrholzplatten abgedeckt war. Ich stützte mich auf meine kurze Campingschaufel wie auf einen Stock. Eine klappbare Trittleiter lag zu meinen Füßen.

    Skunk fuhr vor und stellte den Wagen so ab, dass der Kofferraum mit dem Rand des Grabes auf gleicher Höhe war. Er stieg aus, und ich hörte das Klirren seiner Schlüssel, als er den Kofferraum aufschloss. Ich hatte erwartet, von dem Gestank überwältigt zu werden, aber wir hatten die Leiche mit Klebeband und einer dicken Plane gut verpackt. Wir hoben die Sperrholzplatten zur Seite und legten den klaffenden Schlund des Grabes frei. Morgen würden die Totengräber eine tausend Kilo schwere, vorgefertigte Betongruft in dieses Loch hinablassen. Ein paar Stunden später würde ein hundertdreißig Kilo schwerer Sarg in das Gewölbe abgesenkt und das Ganze mit etwa fünfzig Kilo Erde bedeckt werden. Die Ränder würden aufgefüllt und festgestampft werden, und dann würden sich die Totengräber um ihren nächsten Auftrag kümmern.

    Nur Skunk und ich wussten, dass dies die letzte Ruhestätte für zwei tote Seelen war. In meiner Kehle war ein heißer, schmieriger Film, als hätte ich Whiskey mit Benzin getrunken. Mein Mund füllte sich schnell mit Speichel.

    Skunk drehte sich um und starrte mich an. »Alles okay, Hoss?«, fragte er.

    Ich umklammerte die Schaufel. Am liebsten hätte ich gesagt, dass ich mich überhaupt nicht okay fühlte. Ich glaubte auch nicht, dass ich mich je wieder okay fühlen würde.

    »Ja, mir geht’s gut. Bringen wir es hinter uns«, sagte ich.

    1

    Ich kümmere mich um die Leichen.

    Das sage ich immer, wenn die Leute mich fragen, womit ich mein Geld verdiene. Ich habe festgestellt, dass es darauf zwei Reaktionen gibt. Entweder ziehen sie sich unauffällig auf die andere Seite des Raumes zurück und werfen mir den Rest des Abends verstohlene Blick zu, oder sie lachen nervös und lenken das Gespräch in eine andere, weniger makabre Richtung. Ich könnte natürlich einfach sagen, dass ich in einem Beerdigungsinstitut arbeite, aber wo bliebe da der Spaß?

    Als ich noch beim Marine Corps war, sah man mich hin und wieder in Dienstuniform bei Starbucks oder im Walmart, dem Mekka der Moderne. Manchmal erwischten sie mich in meiner Ausgehuniform nach einem Militärball, wenn ich noch schnell was essen wollte, bevor ich zum Stützpunkt zurückkehrte. Sie kamen auf mich zu und sagten: »Danke für Ihren Dienst.« Ich murmelte etwas wie »Nein, ich danke Ihnen für Ihre Unterstützung« oder eine andere markige Erwiderung, und sie schlenderten mit einem netten, zufriedenen Gesichtsausdruck davon. Manchmal hätte ich lieber gesagt: »Ich hab mich um die Leichen gekümmert. Die Leichen, denen die Beine weggesprengt oder die Hände zerfetzt wurden. Die Leichen voller Stahlkugeln und Nägel und dem, was irgendein Junge gefunden hat, um seinen Sprengsatz zu basteln. Ich hab die Leichen aufgeladen und sie zurück zum Stützpunkt gefahren, und dann bin ich erneut auf Patrouille und hab zu einem Gott gebetet, der nur halb zuzuhören schien, dass heute nicht der Tag war, an dem sich jemand um meine Leiche kümmern müsste.«

    Aber ich glaube eher nicht, dass das den Leuten das gleiche warme und wohlige Gefühl gegeben hätte.

    Jetzt kümmere ich mich um die Leichen im Walter T. Blackmon Funeral Home in Queen County, Virginia. Heute war’s die Leiche von Mrs. Jeatha Tolliver aus Mathews, dem benachbarten County. Momma J, wie sie jeder in der Gemeinde nannte, war Diakonin und Kirchenälteste, und sie starb im Alter von achtundsiebzig Jahren, als sie gerade ihre Bingo-Nachbarin beschimpfte, weil die ihre Glücksbringer-Jesus-Statue weggestellt hatte. Ich bin mir sicher, dass sie ihre Tirade mit so was wie »Vergelt’s Gott« beendet hätte, was bei uns im Süden so viel wie »Fick dich, du Schlampe« bedeutet, wenn sie nicht vorher tot umgefallen wäre.

    Ich stand im hinteren Teil der Kapelle des Beerdigungsinstituts, während Reverend Duke Halston etwas über Hölle und Verdammnis ins Mikro brüllte. Die Trauergemeinde rutschte auf ihren Plätzen hin und her, als könnte sie spüren, wie die Flammen an ihren Hintern leckten. Der Reverend hatte ein knochenverankertes Hörgerät, das wie eine Mini-Satellitenschüssel an seinem Hinterkopf saß. Er brüllte, wenn er nach der Predigt mit einem sprach. Er brüllte, wenn er im Supermarkt war. Ich glaube, er hat schon vor Jahren den Lautstärkeregler verloren. Sobald er nach den Bestattern rief, würden mein Cousin Walter, sein Kompagnon Curtis Sampson, der Bestattungshelfer Daniel Thomas und ich zum Sarg gehen und den Leichnam wie vier schwarz gekleidete Fährmänner des Todes weiterbefördern. Mein Anzug passte mir nicht so richtig, er schien in ungünstigen Winkeln geschnitten und genäht zu sein. Der Knoten in meiner Krawatte versuchte ständig, nach links oder rechts zu wandern, bevor er sich schließlich ganz löste. Das hatte ich nun davon, meine formelle Kleidung in einem Secondhandladen gekauft zu haben.

    »Jetzt, äh, legen wir den, äh, Gottesdienst, äh, wieder in die, äh, Hände der, äh, Bestatter«, stammelte Reverend Duke. Walter nickte mir zu, und wir machten uns auf den Weg durch den Mittelgang der Kapelle. Obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren lief, war die Luft abgestanden und stickig. Das Flattern der Handventilatoren erinnerte mich an einen Bussardschwarm, der sich nach einer warmen Aasmahlzeit in die Lüfte schwang. Während wir Momma J zu ihrer letzten Autofahrt brachten, wiesen wir die stoischen Sargträger an, sich direkt vor der Tür der Kapelle aufzustellen, drei auf der einen und drei auf der anderen Seite. Die Sargträger, die Enkel der Toten, hatten offenbar keine Lust gehabt, zur Beerdigung ihrer Großmutter Anzüge anzuziehen. Einige trugen ihre Hemden über der Hose, andere hatten Basketballtrikots und T-Shirts mit dem Gesicht von Momma J an. Ich bin sicher, dass Momma J mit Stolz vom Himmel herabblickte, während die Darsteller eines Low-Budget-Hip-Hop-Videos sie in unseren Leichenwagen luden. Als Daniel begann, die Trauergemeinde zur Tür zu führen, damit wir zum Friedhof aufbrechen konnten, winkte Walter mir zu. Mein Cousin war eine pummelige Schokokugel von Mann, der mit beeindruckender Hartnäckigkeit am Michael-Jackson-Lockenschopf festhielt und dessen karamellfarbene Stirn ständig verschwitzt zu sein schien. Sein schwarzer Anzug war teurer als meiner, aber jeder Knopf an seinem Jackett schien um Hilfe zu rufen.

    »Nate, du fährst den Blumenwagen. Ich werde Curtis bitten, den Leichenwagen zu fahren. Hoffentlich verlieren wir auf dem Weg zum Friedhof ein paar Leute, dann sind wir um vier wieder zurück. Ich bin so hungrig, dass ich schon krummbeinige Brötchen die Zuckersirupstraße runterwackeln sehe«, sagte Walter. Er verzog das Gesicht zu einem leicht finsteren Ausdruck. Mein Cousin liebte drei Dinge: seine Frau, sein Geld und sein Essen. Ich merkte, dass er bereits die Zeit berechnet hatte, die er brauchen würde, um am Friedhof anzulangen, Momma J unter die Erde zu bekommen und rechtzeitig ins Büro zurückzukehren, um noch das Tagesgericht in Nick’s Restaurant bestellen zu können. Bevor ich etwas erwidern konnte, hörten wir laute Stimmen und Rufe direkt vor den Türen der Kapelle.

    Ich schlüpfte an Walter vorbei. Momma Js Sohn Carter und seine zukünftige Ex-Frau mit dem misslichen Namen La’Unique stritten sich neben dem Leichenwagen. Ich sah einige Leute, die ihre Handys hochhielten.

    Außerdem sah ich Leute, die versuchten, die beiden zu trennen. Das mussten die Angehörigen sein, die noch an die Achtung vor den Verstorbenen glaubten. Eine geschmeidige Gestalt schlüpfte durch die Menge. Sie hatte etwas Metallisches in ihrer Hand. Es fing das letzte Licht der untergehenden Sonne ein und glitzerte einen Augenblick lang.

    Ich drängte mich vor und ergriff den Arm des dünnen Mannes, als er ihn gerade hinter Carters Kopf hob. Er hielt den Kugelkopf einer Anhängerkupplung in der Hand. Seine kleinen rattenähnlichen Augen musterten mich mit einer Mischung aus Schock und Wut.

    Carter drehte sich um. »La’Unique, siehst du, dass dein Typ mir in den Rücken fällt wie eine kleine Bitch? Und für den hast du mich verlassen? Fick dich und ihn!«, schrie er.

    Der Mann versuchte sich aus meinem Griff zu befreien, aber meine Hand war größer als sein ganzer Arm. Er drehte den Kopf und wollte mir in die Innenseite des Unterarms beißen. Ich trat ihm mit dem rechten Fuß in die linke Kniekehle, und er ging zu Boden, als würde er mir einen Antrag machen. Es war eigentlich nur ein kleiner Schubser. Ich wollte ihm nicht das Bein brechen. Ich drehte sein Handgelenk gegen den Uhrzeigersinn und nahm ihm die Anhängerkupplung ab.

    »Bitte begeben Sie sich jetzt alle zu Ihren Fahrzeugen«, sagte ich so laut und tief wie möglich. Ich muss lauter gewesen sein, als ich dachte, vielleicht hatte aber auch der Anblick, wie ich Ratboy entwaffnete, die Menge beruhigt, denn die meisten gehorchten.

    Nachdem Carter in seinen Wagen gestiegen war, ließ ich Ratboys Arm los und gab ihm seine Anhängerkupplung zurück. »Geh und steig in dein Auto, Mann«, sagte ich.

    Wenn Blicke töten könnten, wäre ich in diesem Moment auf dem Tisch für die Einbalsamierung gelandet. Er humpelte rückwärts und behielt mich dabei die ganze Zeit im Auge. »Wir sehen uns noch mal, Alter«, sagte er.

    Ich zuckte in meinem schlecht sitzenden Anzug mit den Achseln und kehrte ins Gebäude zurück. Ich hatte ihn gerade vor seiner Frau lächerlich gemacht. Wenn er mir nicht gedroht hätte, wäre ich enttäuscht gewesen.

    Walter wartete auf mich. »Narren und Mücken können mich nicht verzücken, aber je mehr ich über Narren weiß, desto mehr sind Mücken der heiße Scheiß«, meinte er grinsend.

    Ich lächelte zurück. Sinn für Humor war eine der Voraussetzungen für die Arbeit im Bestattungsgewerbe. »Hoffentlich gibt’s am Grab nicht noch mal Ärger«, sagte ich.

    »Ja, hoffe ich auch. Wir müssen nur noch Trudy Wise überstehen, die am Grab ihre Pfingstkirchlernummer abziehen und einen auf superfromm machen wird. Ach ja, die Damen von Reverend Watkins’ Kirche haben gerade angerufen. Sie haben endlich seine Tochter erreicht. Ich muss Gloria wohl bitten, mir was zum Abendessen vorbeizubringen«, sagte Walter, als wir zur Vordertür gingen. Seine Schultern hingen merklich herunter.

    Reverend Esau Watkins war der Pfarrer der New Hope Baptist Church in Mathews County gewesen. Vor ungefähr zwei Wochen war er tot in seinem Haus aufgefunden worden. Sheriff Laurent und seine Leute hielten sich bedeckt, was Einzelheiten betraf, aber in der örtlichen Gerüchteküche munkelte man von Selbstmord. Reverend Watkins war Witwer und hatte keine Geschwister. Seine einzige Tochter hatte die Stadt ein paar Jahre nach meinem Eintritt in die Marines verlassen. Seitdem hatte man nichts mehr von ihr gehört. Ich konnte es ihr nicht verdenken.

    Reverend Esau Watkins war früher als E-Money Watkins bekannt gewesen, als Dieb, Drogendealer und illegaler Pfandleiher. Ihm hatte ein Friseurladen im Süden von Queen County gehört. Damals war das der einzige schwarze Friseursalon diesseits der Coleman Bridge. Ich weiß noch, wie ich als Kind mit meinem Vater dort hinging. Ich kann noch immer die Augen der Männer im Laden sehen, die meinen Vater musterten, während wir dasaßen und darauf warteten, dass ich an die Reihe kam. Die Toilette befand sich hinter einem kitschigen Perlenvorhang. Direkt vor der Toilettentür stapelten sich Videorecorder, Fernseher und allerlei Wertgegenstände, die die Leute zu E-Money brachten, um ein paar Dollar für die Stromrechnung, für Schulkleidung oder Nachschub für ihre glänzende neue Crackpfeife zu bekommen. Ich weiß noch, wie Watkins meinen Vater beäugte, als er mich auf den Friseurstuhl setzte. Erst als ich älter war, begriff ich, dass sie alle neidisch auf Dad waren, weil er ein weißer Mann war, der eine der hübschesten schwarzen Frauen im County geheiratet hatte.

    Irgendwann während meiner Zeit bei den Marines fand Esau Watkins zum Glauben, und als ich nach Hause zurückkehrte, war die New Hope Baptist Church die größte Kirche diesseits des James River. In der Woche, in der meine Eltern getötet wurden, hatte die New Hope gerade den Grundstein für ein neues Gotteshaus gelegt, das dreimal so groß war wie das erste. Die Menschen im County, Schwarze wie Weiße, waren entsetzt, als Reverend Watkins seine Kirche mitten in ein angebliches Naturschutzgebiet am Fluss baute.

    »Na, das ist ja mal interessant. Ich habe Lisa Watkins nicht mehr gesehen, seit sie auf der Highschool in Dramatische Literatur hinter mir saß. Damals war sie ein kleines, dünnes Ding. Ich dachte immer, wenn sie zu stark hustet, bricht ihr das Brustbein«, sagte ich.

    »Ich erinnere mich nicht an sie. Wir Oberstufenschüler hatten keine Zeit, euch Unterstufenschüler kennenzulernen. Wir mussten Toiletten in die Luft jagen«, sagte Walter.

    Ich schüttelte den Kopf. Eine langjährige Tradition der Abschlussklassen an der Queen County High School war es, am letzten Schultag Feuerwerkskörper in den Toiletten zu hinterlassen.

    Das gab der Redewendung »mit einem Paukenschlag gehen« eine ganz neue Bedeutung.

    Nach der Beerdigung von Momma J fuhr ich nach Richmond, um E-Money aus der Gerichtsmedizin abzuholen. Da nun seine Tochter kam, um alles Notwendige zu veranlassen, konnten wir die sterblichen Überreste in Empfang nehmen. Jedes Mal, wenn ich dorthin fuhr, begegnete ich einem anderen Pathologen, Praktikanten oder Pfleger. Die meisten waren trotz des morbiden Charakters unserer Branche fröhlich und freundlich. Nicht jeder, der in einem Leichenschauhaus arbeitet, ist merkwürdig oder schräg drauf. Auch das ist ein Klischee, mit dem Bestattungsunternehmer zu kämpfen haben.

    Ich war gerade wieder im Büro und hatte den Leichensack mit Watkins auf den Tisch für die Einbalsamierung gelegt, als es an der Tür klingelte. Ich ging durch den Flur und öffnete.

    Vor der Tür standen zwei überaus reizende ältere schwarze Damen. Die eine war groß und schlank und hatte ein leichtes Glitzern in den Augen. Die andere war kleiner und hatte ein Gesicht, das schon viele harte Tage gesehen hatte, doch die meisten ihrer Falten waren Lachfältchen. Mein Bewusstsein registrierte diese Damen, und ich nickte ihnen höflich zu. Das Tier, das südlich meiner Gürtellinie lebte, bemerkte jedoch die Frau, die hinter ihnen stand. Sie war ebenfalls groß, aber gebaut wie eine Sanduhr. Ihr Körper hatte Kurven an Stellen, wo die meisten Frauen nur Hoffnungen und Träume hatten. Sie trug eine schulterfreie, straff anliegende weiße Bluse und einen schwarzen Minirock, der so eng war, dass er auch ein Tattoo hätte sein können. Ihre langen Beine mündeten in schwarzen Stöckelschuhen, und ihre braune Haut war mit einem hellen, glänzenden Schimmer überzogen. Eine honigblonde Mähne fiel ihr über den Rücken bis zu ihrer schmalen Taille. Sie hatte ein hübsches Sümmchen für ihre Extensions ausgegeben, aber kein Mann, der ihr begegnete, hätte etwas dagegen gehabt. Ihre vollen Lippen schienen die Erfüllung jeder dunklen Fantasie zu versprechen, die man hatte, und sogar einiger, von denen man nicht einmal wusste, dass man sie haben konnte. Ihre smaragdgrünen Augen musterten mich kurz, dann wurden sie kalt und dunkel.

    Ich bat die drei Frauen, hereinzukommen. »Äh, Mr. Blackmon ist hinten, aber ich kann die Damen schon mal in sein Büro bringen. Er wird gleich bei Ihnen sein«, stammelte ich.

    Die beiden älteren Frauen lächelten mich an und bedankten sich, während sie zu dem Büro links vom Eingang gingen. Die junge Frau folgte den beiden. Ihr Minirock wippte bei jedem Hüftschwung. Sie lächelte nicht, und sie sagte auch nichts. Ich versuchte mich an die Drei-Sekunden-Regel zu halten, während ich ihr hinterherstarrte: Wenn ich länger als drei Sekunden hinsah, betrat ich perverses Terrain. Ich nahm an, dass die beiden älteren Frauen Mitglieder des Verwaltungsrats der New Hope waren. Was das dritte Mitglied dieses Triumvirats betraf – nun, ich schätze, Lisa Watkins war wohl erwachsen geworden.

    2

    Ich steckte den Kopf in den Umkleideraum, wo Walter seine formelle Kleidung gegen legere Klamotten tauschte und vor sich hin grummelte, weil Gloria im Krankenhaus Überstunden machte und ihm kein Abendessen vorbeibringen konnte. Dann ging ich in das winzige Kabuff im hinteren Teil des Gebäudes, das ich mein Zuhause nannte, zog den Konfektionsanzug aus und meine Alltagsklamotten an: schwarzes T-Shirt, Jeans und schwarze Kampfstiefel. Anschließend ging ich durch die Garage nach draußen und machte mich daran, Leichenwagen und Transporter zu waschen. Das Wetter hatte diese perfekte Temperatur erreicht, die es im Süden nur zwischen Ende September und Anfang Oktober gibt. Tagsüber wurde es nicht mehr wärmer als vierundzwanzig Grad, und nachts ging es selten unter sechzehn Grad runter. Gutes Wetter zum Schlafen, wenn man dazu bereit war. Ich brachte es normalerweise nur auf drei oder vier Stunden die Nacht.

    Ich spritzte gerade den Leichenwagen ab, als ich das unverwechselbare Klackern von High Heels auf Beton hörte. Ich warf einen Blick um die Ecke des Carports und sah die Frau, von der ich vermutete, dass sie Lisa Watkins sein musste, an einen schwarzen Lexus gelehnt. Sie paffte an einer Zigarette, als wäre sie vergiftet worden und das Gegengift würde sich im Filter befinden. Ich drehte das Wasser ab und ging um die Ecke.

    »Hey, bei Ihnen alles okay?«, fragte ich. Ich war es gewohnt, dass Leute aus dem Büro stürzten, wenn sie die nötigen Vorkehrungen für eine Beerdigung trafen. Einen geliebten Menschen zu verlieren war eine Sache, aber die Einzelheiten der letzten Ruhestätte schwarz auf weiß zu sehen, machte manchen erst die Endgültigkeit der ganzen Geschichte klar. Manchmal war das einfach mehr, als sie ertragen konnten.

    Die Frau paffte erneut an ihrer Zigarette. Ihre Augen waren trocken. »Mir geht’s gut. Die beiden alten Damen glauben zu wissen, wer mein Daddy war, aber sie haben nicht die geringste Ahnung. Sie sitzen da drin und reden über schicke Särge und bestellen Limousinen, in denen seine Diakone zum Trauergottesdienst kommen. Als wäre er der verdammte Papst gewesen. Ich bin nur zum Unterschreiben hier, damit sie seinen Arsch unter die Erde bringen können. Aber diesen Scheiß muss ich mir echt nicht anhören«, sagte sie zwischen zwei Zügen.

    »Hast du nicht in Dramatischer Literatur hinter mir gesessen? Bei Mrs. Stone? Sie hat damals Ärger bekommen, weil sie immer versuchte, vor dem Unterricht mit uns zu beten. Weißt du noch, wie sie zu Tim Dawson gesagt hat, er kommt in die Hölle, weil er Danzig hörte, und wie er ihr geantwortet hat, sie kommt in die Hölle, weil sie die Jungs des Basketballteams beim Training anglotzt?«, fragte ich.

    Die Frau lächelte einen Sekundenbruchteil. Hätte man geblinzelt, hätte man es nicht mitbekommen. »Tut mir leid. Ich kann mich nicht an Sie erinnern.«

    Ich streckte die Hand aus. »Nathan Waymaker. Alles cool. Ich war in der elften und du in der neunten. Hätte auch nicht gedacht, dass du dich an mich erinnerst. Lisa, richtig?«

    »Ja. Dann kanntest du meinen Dad?«, fragte sie.

    »Als kleiner Junge war ich ein paarmal im Friseurladen. Aber in seiner Kirche war ich nie.«

    Sie nickte. »Die Kirche. Diese armen Ladys da drin quälen sich mit jeder kleinsten Kleinigkeit ab. Weißt du, was mein Dad mir über diese Kirche gesagt hat, als ich das letzte Mal mit ihm gesprochen hab?«

    »Nee, weiß ich nicht.«

    Sie nahm einen tiefen Zug an ihrer Zigarette. »Er hat gesagt, das wär die beste Abzocke, an der er je beteiligt war. Noch viel besser als die Drogenbranche. So war er, mein Dad.«

    Ich war nicht sicher, was ich darauf antworten sollte, also flüchtete ich mich in den braven Bestatterjargon, den ich bei Walt aufgeschnappt hatte. »Wir werden ihn sauber um die Ecke bringen, Lisa.«

    Zuerst reagierte sie gar nicht, doch dann lachte sie. Es war ein spitzes, sprödes Geräusch. Wie eine Glasscheibe, die in der Kälte splittert.

    »Es interessiert mich einen Scheiß, wie ihr ihn um die Ecke bringt. Schaufelt ihm einfach ein schön tiefes Grab, damit er so nah wie möglich an der Hölle ist«, sagte sie und schnipste die Kippe weg.

    Bevor mir noch ein weiterer brillanter Bestatterspruch einfallen konnte, kam Curtis angerollt und hüpfte aus seinem winzigen Hybridauto.

    »Hey, Nate. Hallo, Ma’am«, sagte er, als er sich uns näherte. Curtis war klein, aber so sauber und adrett wie neues Geld. Die Falten seiner Hose waren scharf genug, um Käse damit schneiden zu können. Sein Bart war penibel gepflegt. Ich hatte den Verdacht, dass er sich überall rasierte, hatte ihn aber nie gebeten, das zu bestätigen. Ich sah, wie sein Blick Lisa abtastete.

    »Hallo«, sagte sie, drehte sich dann um und verschwand wieder im Büro.

    Nachdem sie fort war, sah Curtis mich an und nickte mir verschwörerisch zu. »Das ist wirklich erstklassiges Biofleisch! Ich glaube, ich bin gerade meiner nächsten Ex-Frau begegnet.« Im zarten Alter von fünfunddreißig Jahren war Curtis bereits dreimal verheiratet gewesen. Auch ich hatte einen gesunden Appetit auf das andere Geschlecht, aber während ich nur ab und zu mal meine Partnerin wechselte, war Curtis geradezu unersättlich. Er schnitzte Kerben in seinen Bettpfosten, wie sich Jäger Trophäen an die Wand hängen.

    »Du brauchst Hilfe, Mann. Das ist Esau Watkins’ Tochter. Ich bin mit ihr zur Schule gegangen. Obwohl ich zugeben muss, dass sie im Unterricht nicht annähernd so ausgesehen hat«, sagte ich lachend.

    »Echt? Ich hab das Gefühl, ich kenn sie von woandersher.« Er kniff die Augen zusammen und dachte eine Sekunde darüber nach. Dann ließ er es auf sich beruhen. Curtis war kein Mann für die gründliche Introspektion. »Wie lange sind die schon hier? Ich muss mir noch meinen Scheck für den Gottesdienst heute abholen«, sagte er und klaubte eine verirrte Fluse vom Revers seines Blazers.

    »Nicht so lange. Vielleicht gehst du in den Fernsehraum und wartest da. Ich denke, das dauert noch ein bisschen«, sagte ich.

    Curtis runzelte die Stirn. Das war offensichtlich nicht das, was er hören wollte. Er wollte schon etwas sagen, als Lisa Watkins wieder aus dem Gebäude trat. Diesmal marschierte sie ohne ein Wort schnurstracks zu ihrem Lexus. Der Wagen sprang röhrend an, und die Reifen drehten durch, als sie von unserem Parkplatz fegte und auf die Route 33 einbog. Ich sah zu, wie die Rücklichter in der Ferne verschwanden.

    Wenige Sekunden später tauchte Walter in der Tür auf. »Nathan, die Damen möchten mit dir sprechen«, sagte er. Seine Stimme war gedämpft, und ein mürrischer Ausdruck schlich sich in sein Gesicht.

    Als ich an Walter vorbeirauschte, raunte er mir ins Ohr: »Vielleicht ein Job für dich. Das Büro gehört dir.«

    Ich biss auf die Innenseite meiner Unterlippe. Die beiden älteren Frauen saßen in Walts Büro und starrten mich an. Ich konnte das Gewicht ihrer Erwartungen bereits auf meinen Schultern spüren. »Was kann ich für die Damen tun?«, fragte ich, als ich den Raum betrat. Sie sahen einander an, dann mich, dann wieder einander. Ihre Gesichter waren nervös, aber entschlossen.

    »Ich bin Eloise Parrish«, sagte die größere Frau. »Wir sind Mitglieder der Gemeinde von Reverend Watkins in der New Hope Baptist Church. Sie sind Gordon Waymakers Junge. Schrecklich, was Ihren Eltern zugestoßen ist. Einfach nur schrecklich. Und dass dieser Vandekellum-Junge einfach so davongekommen ist. Jesus, ich habe damals für Sie gebetet. Aber Ihre Eltern wären sehr stolz, wenn sie Sie jetzt sehen könnten. Sie haben Jim Sutter geholfen, sein Mädchen zurückzubekommen. Meine Tochter arbeitet mit seiner Frau unten im Altersheim. Sie hat mir alles erzählt.«

    Ich sagte nichts.

    »Ich bin Louise Sheer. Wir … wir wissen, dass Sie ein gutes Herz haben, Nathan«, stammelte die andere Frau. Dann wurde ihre Stimme zu einem leisen Flüstern. »Ich habe gehört, dass Sie sich um diesen Hewitt-Jungen gekümmert haben, der die Kinder in der Tagesstätte betatscht hat.«

    Die beiden Frauen wirkten wie regelrechte Musterbeispiele für Würde und Anstand und hielten ihre grau gewordenen Köpfe hoch erhoben. Ich wollte ihre Seifenblase wirklich nicht zerplatzen lassen, aber ich hatte kein gutes Herz. Mein Herz war an dem Tag

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