Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Liber Thanatamor: Das Buch von Tod und Liebe und 16 weitere magische Kurzgeschichten
Liber Thanatamor: Das Buch von Tod und Liebe und 16 weitere magische Kurzgeschichten
Liber Thanatamor: Das Buch von Tod und Liebe und 16 weitere magische Kurzgeschichten
eBook261 Seiten3 Stunden

Liber Thanatamor: Das Buch von Tod und Liebe und 16 weitere magische Kurzgeschichten

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dirk-Boris Rödel führt den Leser in siebzehn magischen Kurzgeschichten in die Zeit des Dreißigjährigen Krieges, wo ein mordgeübter Landsknecht auf ein sterbendes kleines Mädchen trifft, zu einer Sippe von Steinzeitmenschen, die sich am Rande eines Moores von einer furchteinflößenden Hexe Beistand gegen übermächtige Angreifer erflehen, und immer wieder in tiefe Wälder, in denen der Leser auf Hexen, Geister, Einhörner und schließlich sogar auf Erlkönigs Tochter trifft.Die Magie-durchtränkten Geschichten pendeln stets zwischen den beiden großen Polen Tod und Liebe - mal schlägt das Pendel zur einen, mal zur anderen Seite aus. Und manchmal werden Tod und Liebe eins .
SpracheDeutsch
HerausgeberTelescope Verlag
Erscheinungsdatum20. März 2020
ISBN9783968582719
Liber Thanatamor: Das Buch von Tod und Liebe und 16 weitere magische Kurzgeschichten

Ähnlich wie Liber Thanatamor

Ähnliche E-Books

Allgemeine Belletristik für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Liber Thanatamor

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Liber Thanatamor - Dirk-Boris Rödel

    Dirk-Boris Rödel

    Liber Thanatamor

    Das Buch von Tod und Liebe

    Impressum

    © Edition Outbird

    Imprint im Telescope Verlag

    www.edition-outbird.de

    www.telescope-verlag.de

    Herausgeber: Tristan Rosenkranz

    Lektorat: Tristan Rosenkranz

    Coverlayout: Holger Much

    Autorenfoto: Tobias Kircher

    „Magie, tu was Du willst!"

    Ein sehr persönliches Vorwort

    „Es hat in unserer Mitte Zauberer und Zauberinnen, aber niemand weiß es", sagte einst Hugo von Hofmannsthal. Nun, zärtlich und liebevoll möchte ich Herrn von Hofmannsthal hier in Teilen widersprechen. Nicht was den Teil mit den Zauberern und Zauberinnen anbelangt. Denn, das ist zumindest meine ganz persönliche, subjektive Erfahrung vor allem der vergangenen Jahre, es gibt sie selbstverständlich, jene magischen Menschen, die diese Aura haben, diese Ausstrahlung, diese Magie eben, die den Raum erfüllt, sobald sie ihn betreten, mag es zum Guten oder zum Bösen sein.

    Doch dass es niemand weiß, dass es diese Menschen gibt, das sehe ich so nicht. Im Gegenteil. Denn je mehr man sich des leise fließenden und schaffenden Wirkens in der Welt bewusst wird und jener, die sich dieser Ströme bedienen – oder derer sich die Ströme bedienen – und sich dafür öffnet, umso mehr wird man immer mehr all der Menschen gewahr, die all dies sehr wohl zur Kenntnis nehmen und zu einem, wie auch immer gearteten, Teil ihres Lebens gemacht haben.

    Magie – was ist das? Schon das Wort klingt, ja, nach Zauber und Schönheit. Ganz sicher wird sie nicht zustande gebracht von zauberstabschwingenden Leuten in wallenden Roben, auch wenn ich ein großer Fan von Harry Potter bin.

    Während frühere, evolutionistische Deutungen Magie als etwas tendenziell Primitives, Atavistisches und dunklem Aberglaube Verhaftetes ansahen, gehen neuere magische Weltbilder und Konzepte davon aus, dass alle Geschehnisse und alle Dinge in Vergangenheit, Gegenwart sowie in der Zukunft untrennbar miteinander in Verbindung stehen.

    Alles ist eins, wie unten so oben … und wenn wir, jeder und jede Einzelne von uns, selbst ein Teil dieses großen, komplexen Ganzen sind, so müssten jede und jeder von uns auch die Möglichkeit haben, gewisse Dinge zu beeinflussen, manchmal nur dadurch, dass wir uns von den Wellen treiben lassen, auch wenn dazu Mut gehört. Doch dann können wunderbare, magische Dinge passieren …

    Allein die Tatsache, dass ich nun, im Januar 2020, hier sitze und das Vorwort zu diesem Buch von Dirk-Boris Rödel schreiben kann, gehört für mich persönlich zu dieser Alltagsmagie, die von selbst tätig wird, wenn man sie nur lässt.

    „Magie, tu was Du willst, sagt Peter S. Beagles glückloser Zauberer Schmendrick in „Das letzte Einhorn und bewirkt nicht zufälligerweise immer dann Großes …

    Kennengelernt haben Dirk-Boris und ich uns in den alten, von den sagenumwobenen Fluten des Neckar umflossenen Gemäuern des Universitätsstädtchens Tübingen, wo wir beide unter anderem Empirische Kulturwissenschaft studierten, ein Fach, das anderswo noch „Volkskunde" heißt. Danach verloren wir uns für Jahrzehnte aus den Augen.

    Vor einigen Jahren tauchte Dirk-Boris dann plötzlich unverhofft wieder in meinem Leben auf (oder ich in seinem?), als einer jener wunderbaren magischen Menschen, die Teil meines Lebens sind, seit ich bewusst die für viele Jahre von mir verschlossene Tür zur Kunst wieder geöffnet hatte und die unerwartete, beglückende und teilweise in ihrer Stringenz schon fast wieder erschreckende Erfahrung gemacht habe, dass sich die Wege jener, die gemeinsam wirken sollen, wie von selbst kreuzen.

    So ist auch dieses Buch, in dem der Autor siebzehn unterschiedlichste, teils grausame, teils mysteriöse, aber stets tief empfundene und fesselnde Erzählungen versammelt hat, nicht unser erstes gemeinsames Werk. Dass ich nun für das „Liber Thanatamor" sowohl das Cover erschaffen durfte als auch das Vorwort schreiben, hat auch damit zu tun, dass wir beide ein vitales Interesse für das große Feld der Magie haben und diesbezüglich instinktiv wissen, was der andere fühlt und meint.

    Im vorliegenden Werk, dies darf ich wohl verraten, ohne allzu sehr zu spoilern, hat Dirk-Boris Rödel seine magische Weltsicht in Geschichten und Erzählungen verpackt, ähnlich wie es übrigens schon der Crowley-Vertraute Kenneth Grant in seinem Buch „Gegen das Licht" getan hat, für das ich ebenfalls das Cover beisteuern durfte. Natürlich lassen sich die vorliegenden siebzehn Geschichten auch ohne diese Brille genießen, doch man sollte der Magie immer ein Türchen im Herzen offen lassen, nicht wahr?

    Denn dass sie existiert, die Magie, beweist allein schon die Existenz dieses Buches. Und dies ist, wie ich finde, ein wunderbarer, ein ermutigender, eben ein herrlich magischer Gedanke.

    Holger Much, Albstadt, Januar 2020

    - Dramen -

    Das Hexenmädchen von Brucricj

    Draußen toste der erste Wintersturm des Jahres um den Landsitz und ich konnte hören, wie der Wind an den großen Bäumen im Garten rüttelte und ums Haus heulte. Bereits am Nachmittag hatte leichter Schneefall eingesetzt, und nun, um elf Uhr in der Nacht, fegte ein wahrer Blizzard über Lydford. Hier am westlichen Rand des Dartmoor in der Grafschaft Cornwall waren solche Schneestürme eher selten. Umso mehr genoss ich das prasselnde Kaminfeuer, das leise und gemütlich vor sich hin knisterte und eine behagliche Wärme ausstrahlte, während ich in meinem Lieblingssessel die Zeitung studierte, eine gute Pfeife in der Linken und ein Glas Cognac auf dem Beistelltisch rechts neben mir.

    Die abendliche Zeitungslektüre war mir eine liebe Gewohnheit geworden, ebenso wie die Pfeife und das Glas Branntwein, die ich mir als kleines Laster im Alter erlaubte. Diese drei Dinge schlossen für mich nicht jeden, aber doch die meisten Tage ab, und waren umso genussvoller, je unwirtlicher das Wetter draußen tobte – und in stürmischen Nächten wie dieser empfand ich die wohlige Wärme des offenen Feuers, den süßlich-würzigen Rauch des Perique-Tabaks und den feinen Geschmack eines Cognacs aus einer kleinen Brennerei an der Loire als eine besondere Wohltat.

    Ich wollte gerade meine Zeitungslektüre beenden um mich zu Bett zu begeben, als mir beim Zusammenlegen der Zeitung etwas ins Auge sprang – ein Wort, eine Überschrift, irgendetwas hatte für den Bruchteil einer Sekunde meine Aufmerksamkeit erhascht, viel zu kurz, als dass es bis zu meinem Bewusstsein hätte vordringen können. So blätterte ich die Zeitung erneut auf und ließ meinen Blick über die Seiten gleiten, danach Ausschau haltend, welche Reportage, welcher Bericht es war, der mir da ins Auge gesprungen war. Bei einer Notiz unter der Rubrik „Aus aller Welt" wurde ich schließlich fündig. Kein Zweifel; diese kurze Meldung war es, die meine Neugier erregt hatte, doch nun, da ich sie las, konnte ich mir keinen Reim darauf machen, weshalb sie für mich von Relevanz sein sollte. Ich studierte die Meldung, nur wenige Sätze lang, ein zweites und drittes Mal, und obwohl ich mich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass etwas darin lag, was mich berührte, konnte ich nicht sagen, was es war. Schließlich rückte ich meine Lesebrille zurecht und studierte sie ein viertes Mal, Wort für Wort, suchend, welche Information darin etwas in meinem Unterbewusstsein zum Schwingen gebracht hatte. Die Nachricht selbst war wenig spektakulär, der ganze Abschnitt las sich wie folgt:

    Ungeklärtes Viehsterben in Siebenbürgen, Rumänien

    In der Region Banat im rumänischen Siebenbürgen geben zahlreiche bislang ungeklärte Todesfälle bei Rindern, Schweinen, Gänsen und weiterem landwirtschaftlichen Nutzvieh den Veterinären Rätsel auf. Zum Einen konnte bislang kein bekannter Erreger wie Schweinepest, Vogelgrippe oder BSE als Auslöser für das Massensterben unter den Tieren nachgewiesen werden, zum Anderen scheinen die stark gehäuften Todesfälle ausschließlich auf landwirtschaftliche Betriebe rund um die Ortschaft Brucricj beschränkt zu sein. Die Landwirtschaft in dieser Region war bereits im Sommer des vergangenen Jahres durch eine ungewöhnlich lange Trockenzeit stark in Mitleidenschaft gezogen worden, die wenigen Niederschläge fielen allesamt in Form starken Hagels, der die spärlichen Erträge der Bauern in dieser Region gänzlich zunichte machte. Viele Betriebe in und um Brucricj müssen nun um ihre Existenz bangen. Das rumänische Landwirtschaftsministerium verhängte vorsorglich eine Sicherheitszone rund um Brucricj.

    Ratlos legte ich die Zeitung beiseite und nahm meine Lesebrille ab. „Brucricj …", murmelte ich leise vor mich hin – und nun, da ich den Ortsnamen ausgesprochen hatte dämmerte es mir; der Name klang seltsam vertraut, obwohl ich immer noch kein Bild vor Augen hatte. War ich dort schon mal gewesen, in Brucricj in Siebenbürgen? Aber wann wäre das gewesen? Es musste lang, sehr lange her gewesen sein. Ich versuchte, mich zu erinnern.

    Ich war gerade zwanzig Jahre alt geworden, als ich eine beträchtliche Erbschaft machte, die es mir ermöglichte, ein sorgenfreies Leben zu führen und vor allem zu reisen! – zu reisen wohin ich wollte, ohne mir um meinen Unterhalt Gedanken machen zu müssen. Meine finanzielle Situation hätte es mir schon damals erlaubt, die luxuriösesten Kreuzfahrtschiffe und die komfortabelsten Züge zu nutzen, doch nicht aus Geiz, sondern aus schierer Abenteuerlust und jugendlichem Übermut fuhr ich oft gerade auf den heruntergekommensten Seelenverkäufern über die Meere oder ließ mich auf Ochsenkarren über holprige Landstraßen kutschieren, oft ohne überhaupt danach zu schauen, wohin der Weg führte.

    Ich wählte stets den Weg, der mir das größte Abenteuer versprach, und mehr als einmal hatte ich mehr Glück als Verstand, dass ich meine Sorglosigkeit nicht teuer bezahlen musste. Stets bei mir trug ich damals eine Kladde, in der ich mir wie in einem Tagebuch meine Erlebnisse notierte und besonders merk- und denkwürdige Begebenheiten niederschrieb. Rom, Paris oder St. Petersburg – solche Orte interessierten mich damals nicht und ich machte einen Bogen um die Metropolen der Welt. Mich faszinierten die Gegenden, in die möglicherweise kein Brite je zuvor seinen Fuß gesetzt hatte, die Ortschaften, in denen man Dinge entdecken konnte, die jedem anderen Reisenden verborgen blieben. Und so musste ich wohl irgendwann in diesem Ort gelandet sein, Brucricj … Doch immer noch stellte sich nach inzwischen nun immerhin mindestens sechzig Jahren keine brauchbare Erinnerung ein.

    Nachdenklich starrte ich ins Kaminfeuer, während draußen nach wie vor der Sturm wütete. Feuer … eine Flamme … ein Sturm und eine Flamme … ich begann, mich zu erinnern und langsam formte sich ein erstes Bild; eine Kerosinlampe, deren Flamme ein fahles Licht abgab, ein Sturm … und eine Hütte. Nein, keine Hütte – ein … ein Häuschen. Ein Bahnwärterhäuschen.

    Ja, das war es! Ich hatte nun das Bild vor Augen, wie ich vor über sechzig Jahren im rumänischen Brucricj beim Schein einer Kerosinlampe in einem Bahnwärterhäuschen saß, während draußen ein Schneesturm tobte. Ich versuchte, mich an Details zu erinnern. Ich saß an einem Tisch und da war … da war der Bahnwärter, und der Zugführer. Und noch ein dritter Mann war am Tisch … dann verschwamm die Erinnerung wieder vor meinem geistigen Auge.

    Ungeduldig legte ich die Zeitung beiseite, erhob mich aus meinem ledernen Ohrensessel und begann, auf und ab zu gehen, während ich an meiner Pfeife zog. Wie war ich in das Bahnwärterhäuschen geraten, was hatte ich dort verloren? War da noch ein dritter Mann gewesen? Wer war das gewesen? Ich blieb stehen, schloss die Augen und ließ das Bild tiefer in mein Bewusstsein sinken … und langsam, langsam hefteten sich weitere Bruchstücke meiner Erinnerung daran.

    Plötzlich hatte ich die Stimme des Lokführers im Ohr: „Ein Haltesignal, ich weiß nicht, was los ist. Wir dürfen nicht weiterfahren, vielleicht gibt es eine Störung."

    Dann sah ich den Bahnwärter vor mir, eine hagere Gestalt mit eingefallenem, bartstoppeligem Gesicht und einer alten, schlecht sitzenden dunkelblauen Bahnwärter-Uniform: „Durch den Sturm sind Bäume auf die Schienen gefallen, ihr könnt nicht weiter. Leute aus dem Ort sind schon dabei, die Gleise zu räumen, aber das dauert sicher noch die ganze Nacht. Kommt rein, ich hab Wurst und Schnaps!"

    So war es also gewesen; ich war auf einer Zugfahrt durch Rumänien in diesem kleinen Ort gestrandet, weil umgestürzte Bäume uns an der Weiterfahrt gehindert hatten, und der Bahnwärter hatte uns in sein Häuschen eingeladen.

    Nun sah ich den Tisch vor mir, um den wir saßen; der Bahnwärter goss uns von einem starken, selbst gebrannten Schnaps ein und schnitt uns von einer dunkelroten, fettigen Wurst auf. Plötzlich hatte ich, nach all den Jahren, wieder den Geschmack der ranzigen Wurst im Mund. Ich griff unwillkürlich nach meinem Cognacglas und nippte daran.

    Ovidiu! Unvermittelt kam mir der Name wieder ins Gedächtnis. Der dritte Mann am Tisch hieß Ovidiu. „Schenk unseren Gästen mehr Schnaps ein, Ovidiu, und gib ihnen von dem Brot, es steht hinter dir!", hörte ich im Geiste die Stimme des Bahnwärters. Dieser Ovidiu war wohl ein Freund des Bahnwärters gewesen und zusammen vertrieben sie sich die langen Nächte im Bahnwärterhaus mit Schnaps und fettiger Wurst.

    Nun hatte ich ein recht vollständiges Bild vor Augen, wie wir damals zu viert in diesem Häuschen saßen und, wie ich mich erinnere, einen lustigen Abend verbrachten. Es muss noch mehr Reisende in dem Zug gegeben haben, aber ob die im Zug geblieben waren, ob sie im Dorf übernachteten und warum nur der Zugführer und ich mit dem Bahnwärter und seinem Freund beisammen saßen – das könnte ich heute nicht mehr sagen.

    Dennoch war ich noch nicht so recht glücklich mit dem Bild. Irgendetwas … irgendetwas fehlte noch, etwas wichtiges, hatte ich den Eindruck. Ich griff ein weiteres Mal zur Zeitung und las die Notiz über das Viehsterben erneut durch. Da war noch etwas in der Zeitungsmeldung, was mir bekannt vorkam.

    Ich setzte mich wieder in den Sessel und schloss die Augen. Wir hatten zusammen Schnaps getrunken, wir hatten fettige Wurst und trockenes Brot gegessen … aber über was hatten wir geredet? Es gab ein Thema, ein bestimmtes Thema, jemand hatte etwas erzählt … aber was?

    Wieder ließ ich den Blick über die Zeitungsnotiz schweifen und suchte darin den Schlüssel. Schweine … Gänse … hatte es etwas mit dem dritten Mann am Tisch zu tun, mit Ovidiu?

    Ich schloss die Augen und rief mir erneut die Szenerie von mir mit den drei anderen Männern am Tisch ins Gedächtnis. Ich weiß, dass ich mir, egal wohin es mich auf meinen Reisen verschlug, stets gern Geschichten der Leute vor Ort anhörte. Hatte ich das auch in Brucricj getan, hatte ich den Bahnwärter und Ovidiu nach Geschichten gefragt? Ich spürte wieder das Brennen des Selbstgebrannten im Rachen, ich roch das Kerosin der Funzel, die von der Decke hing, und schließlich hörte ich mich fragen: „Gibt es denn irgendetwas Besonderes hier in Brucricj?"

    „Hier gibt es gar nichts!, lallte der Zugführer, schon reichlich betrunken, „das ist einfach ein langweiliges Kaff, in dem kein Zug halten würde, wenn nicht gerade die Gleise blockiert wären!

    „Es ist ein ruhiger Ort, antwortete der Bahnwärter leicht beleidigt, „wir mögen es sehr gerne so.

    Ich war immer noch unzufrieden mit der Erinnerung. War das alles? Hatten die beiden mir wirklich nichts erzählt damals? In meiner Erinnerung versuchte ich, den Abend noch einmal Revue passieren zu lassen. Wir sprachen über Weltpolitik und über Frauen, über Reisen … irgendwann lag der Zugführer schnarchend mit dem Kopf auf dem Tisch. Dann blitzte eine weitere Erinnerung in meinem Gehirn auf:

    Der Bahnwärter – an seinen Namen kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern – beugte sich zu mir über den Tisch. „Du hast vorher nach Geschichten gefragt. Ovidiu kann dir eine Geschichte erzählen. Ovidiu – komm, erzähl ihm vom Hexenmädchen!"

    Die Erinnerung hatte mich elektrisiert – das war es gewesen! Das war es, woran ich die ganze Zeit versucht hatte, mich zu erinnern – die Geschichte vom Hexenmädchen!

    Ich war plötzlich hellwach, obwohl es bereits weit nach Mitternacht war. Ich konnte mich daran erinnern, wie der Bahnwärter Ovidiu bedrängte, mir die Geschichte zu erzählen und wie er nach viel gutem Zureden und noch mehr Schnaps schließlich nachgab. Doch dann stockte meine Erinnerung wieder. Da war ein Markt und es ging um ein Schwein, oder um mehrere Schweine – weiter kam ich nicht. Wie ich es auch anstellte, ich bekam die Geschichte einfach nicht mehr zusammen.

    Frustriert sank ich tiefer in meinen Sessel. „Warum hab ich mir die Sachen denn damals nur nicht aufgeschrieben!", schalt ich mich selbst – und schlug mir mit der Hand vor die Stirn. Aber das hatte ich doch gemacht! Die Kladde! Darin hatte ich mir doch damals alles aufgeschrieben! Ich ließ meinen Blick über die Bücherwand schweifen, aber ich wusste, dass sie nicht in meiner Bibliothek war … wo hatte ich die Kladde damals hin geräumt? Ich glaubte mich zu erinnern, dass ich sie zuletzt vor vielen Jahren in einer hölzernen Reisetruhe auf dem Dachboden gesehen hatte.

    Ungeachtet der Uhrzeit erhob ich mich, stieg die knarrende Holztreppe hinauf, entriegelte die Tür zur Dachluke und stieg in den Raum unters Dach, wo es bitterkalt war. Ich tastete nach dem Lichtschalter, und eine nackte Glühbirne erhellte den großen Raum gerade so weit, dass man sich notdürftig orientieren konnte. Auf dem Dachboden standen weit mehr Kisten und Kartons als ich gedacht hatte, dennoch hatte ich die hölzerne Truhe rasch entdeckt. Ein Umzugskarton, ein defekte Lampe und ein Stapel alter Zeitungen lagen auf ihr, und auch wenn es mich in meinem fortgeschrittenen Alter ein wenig Mühe kostete, die Sachen beiseite zu legen, hatte ich die Truhe bald frei geräumt. Mit einem Lappen wischte ich notdürftig den dicken Staub vom Deckel, bevor ich ihn anhob. Obenauf lag ein Säbel aus Afghanistan, darunter ein seidenes Gewand aus Indien, das die Zeit nicht gut überstanden hatte, und ein alter britischer Militärmantel. In Zeitungspapier eingewickelt fand ich eine chinesische Schale, daneben einen mongolischen Dolch und eine kleine Statue des ägyptischen Gottes Thoth.

    Ich widerstand der Versuchung, mich von diesen Erinnerungsstücken ablenken zu lassen und forschte weiter in der Truhe nach der Kladde. Schließlich wurde ich fündig, doch meine Erinnerung hatte mich insofern getäuscht, dass ich auf meinen Reisen nicht nur eine, sondern mehrere Kladden vollgeschrieben hatte; sechs Stück fand ich in der Truhe. Direkt unterhalb der Glühbirne stand ein alter Sessel auf dem Dachboden, verstaubt und mit löchrigem Bezug. Ich legte das indische Gewand darüber, hüllte mich in den Militärmantel und setzte mich, die Kladden auf meinen Schoß gelegt. Das fahle Licht, die Kälte, der Sturm, der gegen das Dach brauste – mir war, als befände ich mich wieder in jenem zugigen Bahnwärterhäuschen in Siebenbürgen, vor so vielen Jahren. Ich schlug die oberste Kladde auf und Wehmut überkam mich beim Anblick der ersten Seiten – war das einmal meine Schrift gewesen? Große, raumgreifende Buchstaben füllten die Seiten, mit mutigem Schwung und jugendlicher Energie niedergeschrieben.

    Ich massierte mir gedankenverloren meine faltigen, gichtgeplagten Hände … inzwischen sah meine Handschrift wahrlich anders aus. Auf, ermahnte ich mich, nicht faul sein! Du musst eine Geschichte finden! Doch das war tatsächlich nicht so einfach. Zwar war meine Schrift gut lesbar und alle Einträge waren datiert, doch ich konnte mich nicht erinnern, in welchem Jahr ich durch Rumänien gereist war. So blieb mir nichts übrig, als eine Kladde nach der anderen zu durchblättern, um einen Anhaltspunkt zu finden. Den Gedanken, dass die Sammlung möglicherweise nicht vollständig war und vielleicht gerade die Kladde mit der gesuchten Geschichte fehlen könnte, wollte ich gar nicht erst aufkommen lassen. Immer wieder blieb ich an einzelnen Seiten hängen; Geschichten aus Turkmenistan und Weißrussland, aus Syrien, aus Marokko, aus Litauen und von der Seidenstraße buhlten um meine Aufmerksamkeit und versuchten,

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1