Die Zeit kriegen wir schon Rom: Ein literarischer Reiseführer aus der Ewigen Stadt
Von Alex Burkhard und Patrick Salmen
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Über dieses E-Book
Jeder deutsche Schriftsteller, der etwas auf sich hält, sollte einmal eine Italienreise gemacht haben. Da geht es Alex Burkhard nicht anders als promintenteren Kollegen wie Johann Wolfgang von Goethe oder Patrick Salmen. Da Goethe schon tot ist, fliegen die beiden zu zweit los - ein Duo, das von seinen Gegensätzen lebt: Der eine hat Haare und Bart, der andere mehr die Frisur von Julius Cäsar. Der eine ist studierter Schöngeist aus München, der andere selbsternannter Schreiner aus dem Ruhrgebiet. Der eine ist Freund der literarischen und historischen Anspielung, der andere isst Pasta. Doch beide sind sie ausgezeichnete Bühnenkünstler und fasziniert von der Ewigen Stadt. Alex Burkhard erzählt mit Verve und Augenzwinkern von klassischen Eindrücken beim Schlendern, ge- fährlichen Strandausflügen und den unvermeidlichen Begegnungen mit anderen Deutschen. Patrick Salmen kommentiert das Geschehen nonchalant per Fußnote.¹
Und natürlich ist fast alles genau so passiert und gar nicht übertrieben.
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Buchvorschau
Die Zeit kriegen wir schon Rom - Alex Burkhard
an!«
TAG 1
DAS DREHBUCH
Als das Fahrwerk Kontakt mit dem Boden herstellt und das Gewicht des Flugzeugs durch mir unerklärliche hydraulische Sätze zu dämpfen vermag, kann ich meine Vorfreude kaum noch unterdrücken. Ich wollte unbedingt mal wieder nach Italien. An geheimen Plätzen meines Gedächtnisses liegen seit vielen Jahren Gedankenschätze vergraben, die von Sommerurlauben in diesem Land erzählen. Von Zeltplätzen, Kinderanimation und Sandstränden. Auch den Schiefen Turm von Pisa habe ich, glaube ich, schon einmal live gesehen. Aber viele Jahre des Verdrängens und des Wegschauens haben diese Zeit verblassen lassen, und so sind die Familienfahrten in den Süden nur noch in kaum zuzuordnenden Umrissen erkennbar: als wären sie überbelichtete Fotos im unübersichtlichen Album meiner Erlebnisse.
Außerdem habe ich italienische Vorfahren, die sich durch meinen Großvater mütterlicherseits in mein Blut geschlichen haben. Niemand aus meiner Kernfamilie kennt ihn persönlich, es ranken sich nur Gerüchte um sein kurzes Auftauchen im Leben meiner Großmutter. Mein Leben hat er vor allem durch unsere gemeinsamen Gene beeinflusst. Ich habe mal irgendwo gehört, dass die eigene Körperbehaarung auf den Großvater mütterlicherseits zurückzuführen ist, und mein Haupthaar ist in dieser Hinsicht ein Thema für sich. Wenn man Fotos von mir aus den letzten gut zehn Jahren chronologisch hintereinanderschneidet, könnte man meinen, man sähe die Zeitrafferaufnahme eines Gezeitenwechsels: Mein Haarmeer zieht sich zurück und gibt den Blick frei auf einen von den abschwappenden Wellen zerfurchten Stirnstrand, man könnte freigelegte Ohrmuscheln sammeln gehen, es fehlt eigentlich nur noch, dass permanent Möwen über mir rumfliegen und mir vergammeltes Treibholz ins Gesicht geschwemmt wird. Das alles habe ich also von einem Mann geerbt, den ich nie kennengelernt habe, und vielleicht ist diese Rom-Reise auch eine Möglichkeit, mich auf irgendeiner seltsamen Ebene mit diesem Teil meines Stammbaums zu versöhnen.
Weil ich mich an Flughäfen immer gerne möglichst frei und gedankenleer bewege, habe ich außer einer Zeitschrift und meinem Ausweis wie üblich alles eingecheckt. Den Preis dafür zahle ich nun, da ich seit einer Stunde handy- und auch sonst ablenkungslos vor dem Gepäckband lümmle. Die Zeitschrift war zwar interessant, aber zweimal muss ich auch nicht lesen, wie Santorin vor dreitausendsechshundert Jahren zerstört wurde, und der Typ, der mich von meinem Ausweis anschaut, ist auch nicht gerade unterhaltsame Gesellschaft. Ich bin etwas nervös, habe mich innerlich noch nicht an den Urlaubsrhythmus gewöhnt, in dem es im Optimalfall keine Zeit zu geben scheint. Stattdessen rede ich mir ein, dass ich es bei diesem unübersichtlichen Gepäckband gar nicht mitbekäme, wenn jemand meine Reisetasche klauen würde. Gut, mir blieben die Zeitschrift und mein Ausweis, aber es wäre schon schade. Mein Geist begibt sich in eine dieser bei mir so beliebten Situationen, in denen ich unmöglich abwägen kann, ob ich bleiben soll, wo ich bin, oder mich lieber auf die andere Seite des sprichwörtlichen Zaunes begeben will, in diesem Fall auf die andere, gefühlt Hunderte Meter entfernte Seite des Bandes, dort, wo die ganzen grüneren Koffer rauskommen. Aber in der Zwischenzeit würde ich die Tasche vielleicht verpassen, wie sie an meinem jetzigen Aufenthaltsort vorbeigeschlendert kommt. Ich bitte den überraschten Urlauber neben mir, mir eins mit der zusammengerollten Zeitschrift überzuziehen. Danach geht es wieder. Meine Reisetasche kommt, niemand reißt sie mit wilden Augen vom Band und haut damit ab, und so trete ich fast völlig entspannt aus den milchig abgetönten Türen.³
Patrick ist etwas früher von Düsseldorf aus geflogen. Ich hatte ihm im Frühjahr, damals noch halb im Spaß, eine Nachricht geschrieben und gefragt, ob er im Juni mit mir nach Rom kommen wolle, und kurz darauf ein »Ich hab eh nix anderes zu tun« zurückerhalten. Und weil das der höchste Grad an Zuneigung und Begeisterung war, den ich in dieser Phase erfahren habe, ging das klar.
Patrick ist ein feiner Kerl, wie er mich jetzt in Carhartt-Cap, weinrotem Carhartt-V-Shirt und lehmbeigen Carhartt-Hosen angrinst, als hätte er gerade einen Carhartt-Gutschein geschenkt bekommen. Patrick ist ein Freund, den ich auf zahllosen Poetry Slams kennen und mögen gelernt habe. Er kommt aus Wuppertal, aber weil ihm das nicht schön genug war, lebt er jetzt in Dortmund. Er hat ein verschmitztes Grinsen im Gesicht, und wenn man ihn googelt, bekommt man vermutlich mehr Treffer, als wenn man es nicht tut. Außerdem war er mal Deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. Seine Bartfarbe pendelt gerade irgendwo zwischen rostfarben und hellbraun, denn es ist Frühsommer.
»Na, alter Racker«, begrüßt er mich, »alles gut?«
»Jemand hat mich mit einer Zeitschrift verprügelt«, sage ich. »Sonst ja. Bei dir?«
»Heute Morgen war Chaos auf den Autobahnen, schlimme Unwetterfolgen, überall Bäume und Kühe und Kamerateams. Ich bin eine Minute vor Schließung des Check-ins am Flughafen angekommen; dann habe ich erfahren, dass mein Flug zwei Stunden Verspätung hat«, sagt er. »Sonst ja.«
»Jemand hat mich mit einer Zeitschrift verprügelt«, sage ich und schaue wie ein Hund, den man mit einer Zeitschrift und so weiter.
Wir schlängeln uns durch die Mitankömmlinge und Abflugbereiten und folgen den Zeichen, die wir für Zugsymbole halten, um in die Stadt zu kommen. Wenn Edmund Stoiber die ersten der zahlreichen Haltestellen der Bummelbahn miterleben könnte, die uns zum Bahnhof Trastevere bringen soll, der unserer Residenz für die nächste Woche am nächsten liegt, würde er vermutlich so lange »Transrapid« rufen, bis sie ihn abtransportieren. Ich weiß eh nicht, worüber er sich damals so aufgeregt hat. Als wäre er auch nur ein einziges Mal mit der S-Bahn zum Flughafen gefahren, der alte dienstwagennutzende Dummschwätzer.
Der Zug ist nicht übermäßig voll, hat aber die dampfende, unangenehme Luftfeuchtigkeit eines Stadtbusses im Berufsverkehr an einem Regentag. Eine Frau verteilt abgegriffene Zettel, die auf Englisch und Italienisch verkünden, dass sie Hunger und außerdem mehrere Kinder zu versorgen habe, und nachdem wir bei ihrer Rückkehr nicht den Geldbeutel zücken, sondern nur peinlich berührt den Kopf schütteln, greift sie über unsere prall gefüllten Reisetaschen hinweg und nimmt den Fetzen wieder mit. Ich fühle mich sehr schlecht, wenn ich einer bedürftigen Person kein Geld gebe. Andererseits habe ich ausredensuchenderweise auch immer die Dreigroschenoper im Hinterkopf und rede mich oft damit heraus, als selbst mal wochenlang Nudeln essender Student und Künstler auch nicht jedem Einzelnen etwas geben zu können, der mich nach finanzieller Unterstützung fragt. Da bin ich ganz BAföG-Amt. Es sind einfach zu viele. Andererseits kann ich mir offenbar eine Rom-Reise leisten. Es ist also Jammern auf nicht ganz niedrigem Niveau. Es ist immer sehr anstrengend, wenn meine hochstrebenden Ideale auf die reale Welt treffen. Man weiß nie genau, was rauskommt.⁴
Die einschläfernde Atmosphäre des Zuges hat meine Sinne abgestumpft, und nun entlassen uns die Flügeltüren des Bahnhofs Trastevere ohne weitere Vorwarnung in den Trubel des römischen Feierabendverkehrs. Als Erstes fallen mir die Vespafahrer und Straßenverkäufer auf. Als wir aus dem Bahnhofsgebäude treten, werden wir von Ersteren beinahe augenblicklich überfahren; Letztere versuchen, uns für die kommende Woche stilvoll einzukleiden.
Ich habe mir genau aufgeschrieben, wie wir zur Unterkunft kommen. Auch wenn ich in Deutschland unterwegs bin, schaue ich mir immer den Weg zum Hostel genau an und schreibe mir Straßenbahnzeiten und -linien minutiös heraus, wofür ich schon viele hämische Kommentare über mich ergehen lassen musste. Doch ich fühle mich meist sehr wohl, wenn ich weiß, wie ich von A nach B komme.⁵ Mein Smartphone hat sich seinen Titel an irgendeiner rumänischen Universität gekauft, sodass es keine wirkliche Hilfe darstellt – schon gar nicht hier in Rom.⁶
Nach einem kurzen Blick auf meine Unterlagen teile ich Patrick mit, dass wir nur vier Stationen mit der Linie 8 fahren müssen und diese auch innerhalb der nächsten Minuten auftauchen sollte. Patrick sprüht jedoch plötzlich vor Tatendrang.
»Wenn die Straßenbahn jetzt hier gewartet hätte, okay, dann hätte ich sie vielleicht genommen«, erläutert er. »Aber jetzt warten? Nee, lass uns laufen!«
Und so verzichten wir auf unsere elektrische Transportmöglichkeit und stampfen vorfreudig durch die sich unterhaltenden und in ihrer Zielstrebigkeit trotzdem entspannt wirkenden Römer die Viale de Trastevere entlang.
»You want to pay less?«, fragt etwas später die Empfangsdame unseres B&B und schreibt zwei Zahlen auf einen Zettel, von denen eine kleiner ist als die andere.
»Ähm«, sage ich.
»Because then we delete your reservation in the internet, and you only pay to us.«
»Hm«, überlege ich. Sie will uns also finanzielle Unterstützung anbieten.
Die junge Frau deutet noch mal energisch und verführerisch zugleich auf die kleinere der beiden Zahlen und grinst uns an.
»No, thanks«, sagt Patrick. »We prefer to pay more money.«
Patrick ist ein sehr erfolgreicher Künstler. Er zahlt gerne mal mehr. In diesem Fall aber ist es okay, wie er mir später erklärt.