U8 Untergrundminiaturen: Anthologie
Von Poljak Wlassowetz, Sven Pfizenmaier, Marius Hulpe und
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Über dieses E-Book
24 Stationen. 24 Welten. 24 Vorurteile. Es gibt hierzulande wohl kaum eine U-Bahnlinie, die einen dubioseren Ruf hat als die U8: überfüllt, laut, dreckig, abgründig, gefährlich, verdrogt, unberechenbar. Tatsache ist: Die U8 ist eine spezielle U-Bahnlinie, ein Schmelztiegel und Hexenkessel, ein Hieronymus-Bosch-Gemälde in Bewegung. Wer sich auf sie einlässt, ihr und ihren Passagier:innen vorbehaltlos begegnet und mit ihnen durch die pulsierende Hauptschlagader treibt, wird diese Stadt, die aus den Fugen geratene Welt und die zukunftslose Gegenwart vielleicht besser verstehen.
Die in dieser Anthologie versammelten Miniaturen und Kurzgeschichten nähern sich auf stilistisch und inhaltlich unterschiedliche Art und Weise dem Mythos U8 an. Die 13 Texte der mal bekannten, mal weniger bekannten Autor:innen werden von Zeichnungen des Künstlers Cris Koch begleitet. Er hat die U-Bahnlinie 8 ikonografisch erfasst und den vorliegenden Texten einen visuellen Rahmen gegeben.
»Berlin ist nicht mehr Berlin«, hört man die Leute oft sagen, wenn sie die Vergangenheit überhöhen und die Tatsache außer Acht lassen, dass die Dinge schon immer in Bewegung sind. »Noch ist die U8 die U8«, sagen wir, und hoffen, dass die Dinge auch in Zukunft in Bewegung bleiben werden.«
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Buchvorschau
U8 Untergrundminiaturen - Poljak Wlassowetz
Vorwort
Die U-Bahn-Linie 8 durchquert Berlin von Norden nach Süden auf einer Länge von etwa 18 Tunnelkilometern. 24 Stationen. 24 Welten. 24 Vorurteile. Es gibt hierzulande wohl kaum eine U-Bahn-Linie, die einen dubioseren Ruf hat als die U8: überfüllt, laut, dreckig, abgründig, gefährlich, verdrogt, unberechenbar. Wie so oft stellen sich die Dinge bei genauerer Betrachtung differenzierter dar. Tatsache ist: Die U8 ist eine spezielle U-Bahn-Linie, ein Schmelztiegel und Hexenkessel, eine Miniaturabbildung unserer Welt, ein Hieronymus-Bosch-Gemälde in Bewegung. Wer sich auf sie einlässt, ob freiwillig oder notgedrungen, ihr und ihren Passagier:innen vorbehaltlos begegnet und mit ihnen durch die pulsierende Hauptschlagader treibt, wird diese Stadt, die aus den Fugen geratene Welt und die zukunftslose Gegenwart vielleicht besser verstehen.
Die in dieser Anthologie versammelten Miniaturen und Kurzgeschichten nähern sich auf stilistisch und inhaltlich unterschiedliche Art und Weise dem Mythos U8 an. Die 13 Texte der mal bekannten, mal weniger bekannten Autor:innen werden von Zeichnungen des Künstlers Cris Koch begleitet. Er hat die U-Bahn-Linie 8 ikonografisch erfasst und den vorliegenden Texten einen visuellen Rahmen gegeben. Die skizzenhaften Zeichnungen sind binnen eines Tages entstanden, inmitten der Schnelllebigkeit der Untergrundszenerie, der ständigen Durchmischung, Türen auf, Türen zu, Überlagerung, Ordnung und Zerstreuung.
»Berlin ist nicht mehr Berlin«, hört man die Leute oft sagen, wenn sie die Vergangenheit überhöhen und die Tatsache außer Acht lassen, dass die Dinge schon immer in Bewegung sind. »Noch ist die U8 die U8«, sagen wir und hoffen, dass die Dinge auch in Zukunft in Bewegung bleiben werden. Also tief Luft holen, einsteigen und mit uns im Untergrund versinken.
Kopf & Kragen Literaturverlag,
Berlin, Herbst 2022
Typomania
Die Haltestelle
// Veronique Homann
Andel hatte starke Kopfschmerzen. Im oberen Stirnbereich zwischen den Schläfen hatte sich eine Spannung festgesetzt, die darauf pochte, dass er sich unverzüglich aufmachte. Andels Weg war nicht weit, zurückgelegt werden musste er. Die Anzeigetafel am Rosenthaler Platz bedeutete beim Umstieg aus der U8 in die Straßenbahn: Noch vier Minuten.
Konnte der Unterstand Abhilfe verschaffen? Die Vorstellung, sich in die Obhut einer überdachten Stelle zu begeben, die im Ansatz Raum vortäuschte und somit Geschützt-Sein, erzeugte in Andel Aussicht auf Abwehr gegen diese Beschwerde, die begonnen hatte, seine Arterien hervortreten zu lassen.
Kaum, dass er von diesem Gedankengang erfasst worden war und dessen Umsetzung anvisierte (Andel hatte soeben die Außenreklame der Seitenwand in Fahrtrichtung passiert, ohne Notiz davon zu nehmen), zerrüttete der Gedankengang: Jemand war ihm darin zuvorgekommen. Und Andel stockte. Noch drei Minuten.
Ein Obdachloser hatte Nachtquartier aufgeschlagen. Auf Hartplastik gebettet, erstreckte sich der Körper des Mannes über die Sitzreihe, die seiner Größe nicht gerecht war. Kein bisschen ließ sich von ihm erkennen außer ihm selbst: Der Länge nach und in Gänze zugedeckt, ruhte er und schlief augenscheinlich.
Andel hätte hinzutreten können. Aber er verspürte ein Gefühl aufkriechen, das ihn von einer Übergriffigkeit des Hinzutretens überzeugte. Ein Schritt in den Unterstand und Andel hätte fortan als Eindringling, Störenfried, Sündenfall von sich denken müssen. Ein Kopfziehen vergewisserte ihn: Noch zwei Minuten.
Es war ihm eine nicht öffentliche Angelegenheit geworden. Vorausgesetzt, dass sein Interesse nicht von einem Ort abhängig war, sondern von der räumlichen Eigenschaft eines Ortes, verlagerte Andel das Interesse auf einen Hauseingang direkt hinter dem Unterstand, worin er sich in Habtachtstellung platzierte.
Die rückseitige Verglasung und Andels Blickwinkel bedingten, dass Andel beim Nächtigenden eine Bewegung registrierte. Eine Regung, die sich im Innern zutrug. Ein Heben und Senken, Heben und Senken auf Hüfthöhe mit gelegentlichem Absetzen von kurzer Dauer, ehe erneut angesetzt wurde. Noch eine Minute.
Andel war der Lage gewahr geworden. Aus der Position des Ausgesetzt-Seins gefolgert, markierte der Zwischenfall gegenüber der Wohnungslosigkeit eine Leerstelle, deren er im Grunde zum ersten Mal Zeuge wurde. Die Reaktion auf das Gesehene richtete nicht den Obdachlosen, sondern die eigene Person.
Der Warte geschuldet, warf Andel die Frage auf: Hatte es nicht die Fixerstube für Masturbation zu geben? Eine (und es verzerrte, als es ihm einschoss, Andels Gesicht, als wenn ein weiteres Ziehen ihn dafür abstrafte, einzig wegen des Worts und nicht dessen Betreff) sogenannte Wichserstube?
Aus dem Abseits vernahm Andel, sodass er aufmerkte, ein Ächzen der Gleise. Nicht zu überhören, nahte nun die Straßenbahn und stoppte sogleich entlang der Plattform. Mit Blick darauf machte Andel, der gerade von der Linie abgekommen war, indirekt eine Beobachtung: Im Unterstand hatte sich abrupt eine verdächtige Ruhe eingestellt.
Gesetzt den Fall, der Ausgang der Begegnung war kein zufälliger, sondern eine Erwiderung auf die Ankunft. Lediglich der Agierende konnte der Geste entnehmen, welche Natur dahintersteckte, die für Außenstehende auslegbar, nicht aber zu verorten war und entgegen dem vermeintlichen zum eigentlichen Auslöser wurde.
Andel fühlte, dass der Kopf in Ungleichgewicht geraten war. Und zwar traktierte ihn die Lücke, die ihr Auftun ihm zugefügt hatte, ohne gewärtig gewesen zu sein, dass der Kopfschmerz sich während der Nacht dort einnisten und zuletzt zur Ursache werden sollte für das Erwachen am nächsten Tag.
Odds and Ends
// Sebastian van Vugt
»I’ll be gone in a day or two«, hattest du geflüstert. Das war an einem Dienstag. Der Wind hatte sich seither nicht gelegt. Er streunte zwischen den Häuserfluchten umher wie ein geschlagener Hund. Die Wolken zogen in rosa Schlieren über das Tempelhofer Feld. Ich konnte wieder nicht schlafen. Wie hätte ich auch schlafen sollen? Ich blickte mich um. Mit dem Erwachen des Morgens strömten immer mehr junge Menschen den staubigen Hang von der Herrfurthstraße kommend hinab – mit Skateboards und Rollschuhen unter den Armen, mit einem Bier um elf an den Lippen und ohne Zukunft im Gepäck. Mir schwindelte bei ihrem Anblick, bei all der Verschwendung, all der Zeit, die vor ihnen lag. Ich erinnerte mich. Noch gestern war ich bei dir gewesen, zwischen den weißen Laken und Kissen, zwischen all den Lichtern am Puls deiner Existenz. So also sah das Ende aus. Jetzt wusste ich, wo Gott wohnt.
Wo hatte das angefangen? Zwischen den Schienen der Staub aus Tausenden U-Bahn-Fahrten. Ich stand an der Waggontür der U8, den Kopf geduckt, wie jeden Morgen. Die Farben verschwammen. Ich setzte mich auf den letzten freien Platz, um zu lesen.
»Was liest du?«, lächeltest du mich an.
»Wie bitte?« Ich war neu in Berlin und kannte das nicht, angesprochen zu werden.
»Was du da liest,