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Herr Rehbein entdeckt seine Vergangenheit: Spiegelbilder des Schicksals
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Herr Rehbein entdeckt seine Vergangenheit: Spiegelbilder des Schicksals
eBook268 Seiten3 Stunden

Herr Rehbein entdeckt seine Vergangenheit: Spiegelbilder des Schicksals

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Über dieses E-Book

Hinterpommern und Ostpreußen - wer kann damit noch etwas anfangen? Vergangenheit! Doch wer sich mit Land und Leuten, ihren Eigenarten und Schicksalen der letzten 150 Jahre befasst, der entdeckt Erstaunliches! So geht es auch Heinrich Rehbein, dem in die Jahre gekommenen Erzähler. Er deckt überraschende und zum Teil verhängnisvolle Schicksale im Leben seiner Vorfahren auf und erkennt, dass viele davon selbst herbeigeführt worden - sozusagen 'menschengemacht' - sind. Doch die meisten Schicksalsschläge wurden veranlasst durch Fehlleistungen der politischen Mächte, also wieder verursacht von Menschen. Heinrich Rehbein fragt sich, ob das für immer so bleiben muss. Deshalb versteht er seine Erzählung als 'Lehrbuch' für die Nachgeborenen. Doch weiß er, dass sich der Mensch ungern belehren lässt. Deshalb tritt er nicht auf als Besserwisser, sondern als Erzähler charakteristischer, gleichwohl spannender Geschichten in der Hoffnung, dass diese aus sich heraus zu förderlichen Erkenntnissen bei den Zuhörern führen werden und hat Erfolg damit. Denn sein jugendlicher Freund und Dauerzuhörer, Hans Nemetz, hat das Anliegen des alten Rehbein verstanden und will dessen 'Lehrbuch' fortschreiben und seine Erkenntnisse an die nächste Generation weitergeben.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Juni 2021
ISBN9783347285200
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    Buchvorschau

    Herr Rehbein entdeckt seine Vergangenheit - Bodo Uibel

    Annäherung

    Beginne ich, über das Schicksal nachzudenken, verdichten sich meine Gedanken rasch zu Ereignissen und die Ereignisse zu Bildern. Ich frage bald nicht mehr, was ‚Schicksal‘ im Allgemeinen sei, was der Philosoph dazu meine oder der Arzt, der Theologe oder der Politiker.

    Ich frage bald nicht mehr!

    Denn in wenigen Augenblicken durchwandere ich vergangene Jahrzehnte, als seien sie Gegenwart. Es ist, als öffne sich tief drinnen in mir ein Verlies. Längst vergessen Gewähntes aus dem Leben derer, von denen die Nachgeborenen verbreitet hatten, sie seien unerreichbar in edlem Sinn und vorbildlicher Lebensart gewesen, bricht ins Bewusstsein ein.

    Ich begann, diesen Erzählungen nachzugehen und erwartete Glut. Doch fand ich eins ums andere Mal Asche. Elendes fand ich zuhauf – verschuldetes und unverschuldetes Elend, Elend – verursacht durch persönliche Fehlentscheidungen oder durch Fehlleistungen der politisch Handelnden. Von Menschen gemachte Schicksale! Ich suchte fort, weil ich nicht glauben konnte, dass verhängnisvolle Fehlurteile und eingeschlagene Irrwege schon alles sind, was sich mir aus der Vergangenheit eröffnen wollte. So fand sich zum Glück auch sensible Menschenfreundlichkeit – versteckt in aufrichtigen Haltungen, vollbracht in geräuschlosen Handlungen. Glut und Asche im Damals! Glut und Asche im Heute! Auf einmal wurde mir klar, wie sehr mein gegenwärtiges Sein geschichtlich und das Geschichtliche Gegenwart ist. Die vor uns lebten, waren also nicht anders als wir! Wir und sie – verklammert im Guten und Bösen. Wer kann sich aus dieser Verklammerung lösen? Ist das Schicksal?

    Nichts ist so prägend wie Schicksalsschläge – ob ich unterliege oder überstehe. Unterliege ich, werde ich einer Ratte gleich, die den Kot, in dem sie lebt, für das Paradies hält. Überstehe ich, so wird etwas Neues geboren in mir, und ich erkenne immerhin, dass der Kot Kot ist. Allein der Blick in die Höhe, auf den ‚letzten Sonntag‘, und – von ihm belebt – der aufrechte und nach vorn gerichtete Blick ist es, der das Reservoir der Hoffnung bildet, nicht klar umrissen wie eine Stadt auf dem Berge im Sonnenlicht, aber voller gut begründeter Ahnungen.

    Ich kann die Autonomie des Handelns der vom Schicksal heimgesuchten Altvorderen allein bei genauem Hinsehen entdecken. Denn zumeist scheint es, als seien die Ereignisse nach einem allgewaltigen Gesetz so eingetroffen, wie sie eingetroffen sind, gesteuert von fremder unsichtbarer Hand – einer vernichtenden in dem einen oder einer errettenden in dem anderen Fall. Gleichwohl gibt es sie, die Rolle des eigenständig Entscheidenden! Doch: Ist vielleicht auch die ‚eigene‘ Entscheidung gesteuert? Dann bedeutete diese Fremdsteuerung zugleich Entschuldung! Der Denkende nimmt aber für sich in Anspruch, nach eigener Erkenntnis frei entscheiden zu dürfen. Also ist er es letztlich doch, der die Weichen stellt. Dann aber erhebt sich die Frage: Überlegt er zuvor, worauf hinausläuft, was er entschieden hat und in Gang setzen will? In den Abgrund oder den Aufstieg? In den Tartaros oder auf den Olymp? Verantwortung oder Schuld?

    Allmählich und bruchstückhaft erkenne ich, dass alles, was vor mir geschah, auch mein Erleben ist. Es sind meine Ereignisse, von mir und denen, die vor mir waren, auf den Weg gebrachtes Elend, elende Ereignisse, die ihre Erbärmlichkeit auf Kindeskinder vererbt haben. Doch in einigen Fällen erkenne ich in Schicksalen auch erhebende Haltungen und Handlungen – hoffnungsvolle Beispiele für die Nachgeborenen, gefühlt wie Sonntage.

    Und so legen sich traumgleich die Schicksalsbilder aufeinander wie Blätter aus einer Druckerpresse und werden zu einem Lehrbuch. Aber dieses Buch ist nicht abgeschlossen. Es hat keine letzte Seite. Es wird fortgeschrieben werden – in die künftigen Generationen hinein –, illustrierte Beschreibung des Niedrigen und des Erniedrigenden. Doch ein wenig auch des Bewunderten und des Hoffnungsvollen.

    So wird es fortdauern – bis der letzte Sonntag kommt.

    Erstes Blatt

    Eines Tages gedachte ein älterer Herr namens Heinrich Rehbein, Jahrgang 1938, die Ergebnisse seiner Studien zum Elend der Menschheit zu ordnen und sie unter die Leute zu bringen, weil er glaubte, etwas Wesentliches entdeckt zu haben. Denn er hatte lange über die Verhältnisse der vergangenen hundertfünfzig Jahre nachgedacht, über seine Eltern und Großeltern, über die Menschen und das Land im Osten, das Pommerland, aus dem er stammte, und über das Masurenland, woher seine Urgroßmutter kam, und über die Netze der Bosheit und die Fußangeln des Schicksals, in die sie, seine Familie und damit auch er – beides: schuldlos und schuldbeladen – geraten waren. Und er dachte nach über die bittere Wahrheit, dass keine deutsche Biografie aus diesen hundertfünfzig Jahren geschrieben werden kann, in der nicht von Kriegen gesprochen werden muss.

    Nachdem Heinrich also genug nachgedacht hatte, begann er zu erzählen, was ihm beim Denken aufgefallen war. Doch die es hörten, glaubten ihm nicht. Denn manches, was er erzählte, erschien den Leuten so übertrieben, dass viele ihn für einen Gaukler oder gar Lügner hielten. Indes trat er auf wie ein ernsthafter Poet, dann wieder wie ein Spaßvogel mit einer gehörigen Portion Ironie. Ob seine alten Geschichten also unglaubwürdig waren oder nicht, er sprach mitreißend und amüsant. Was und insbesondere wie er es vortrug, vertrieb jede Langeweile. Deshalb stellte er sich der Frage nach der Tatsächlichkeit der erzählten Abläufe schließlich nicht mehr. Hauptsache, die Zuhörer begriffen das Eigentliche, die inneren Triebkräfte, die er ‚Wahrheit‘ nannte, die hinter dem Erzählten steckte.

    Doch da war einer, der ihm alles abnahm: ein junger Mann, den er in sein Herz geschlossen hatte, sein noch recht jugendlicher Freund Hans Nemetz, Jahrgang 1975.

    Wer ist Hans Nemetz, der um 37 Jahre jüngere Dauer-Zuhörer? Und wie kam es zu dieser ungewöhnlichen Freundschaft zwischen dem seinerzeit 43-jährigen Heinrich Rehbein und dem damals sechsjährigen Hans?

    Das könnte Hans Nemetz eigentlich selbst erzählen. Aber er will nicht. Deshalb muss ich, Heinrich Rehbein, übernehmen:

    Die Kindheit und Jugend des Hans Nemetz verliefen überaus beklagenswert: Seine ledige Mutter, eine Ursula Nemetz, hatte ihn im Gefängnis zur Welt gebracht. Sie hatte den Erzeuger ihres Kindes kurzerhand vom Leben zum Tode befördert. Wie sie das im Einzelnen angestellt hatte, hat sie niemandem je mitgeteilt – auch dem Gericht nicht. ‚Nur eins wolle sie offen bekennen und vor Gericht festgehalten wissen: Der Vater des Kindes habe schlechtweg abgestritten, der zu sein, der er war. Er habe sie darüber hinaus in beleidigender Weise bezichtigt, zu der fraglichen Zeit – und eigentlich durchweg – mit anderen Kerlen etwas ‚gehabt‘ zu haben. Aber sie wisse ganz genau, dass das erstunken und erlogen sei. Das habe er nur behauptet, um die Vaterschaft abzustreiten. Und als sie ihm gedroht habe, die ganze Angelegenheit vor Gericht klären zu lassen, sei er rabiat geworden, habe sie in den Bauch getreten und gebrüllt: „Ich bringe dich um!" Da sei sie ganz schnell stiften gegangen. Und am anderen Tag sei er dann eben tot gewesen. Das sei die ganze Geschichte. Und sie bekenne sich dazu und bereue nichts.‘

    Die Obduktion ergab: ‚Tod durch Gift‘. Das Schwurgericht in seiner Urteilsbegründung: ‚Giftmord; Täterin immerhin geständig, gleichwohl ohne Reue‘. Man befand Ursula Nemetz des Mordes schuldig und verurteilte sie zu einer 15-jährigen Freiheitsstrafe.

    Hans lernte also von Geburt an das Gefängnis von innen kennen. Dort verbrachte er zusammen mit seiner Mutter die ersten Lebensjahre. Sie ‚bewohnten‘ zwar eine eigene Mutter-Kind-Zelle. Aber bereits seinem frühen, noch unreflektierten ‚Ich‘ prägte sich die Abnormität dieses verdrießlichen Daseins ein, was zu einer chronischen Abneigung gegen derartige Einrichtungen staatlicher Fürsorge führte. Die Aversion gegenüber Gefängnissen entwickelte sich im Laufe der Jahre beinahe zu einer Art Platzangst, die durch die Besuche bei seiner Mutter regelmäßig neue Nahrung erhielt. Dies nun führte nahezu folgerichtig zu dem lobenswerten Ergebnis, dass der liebe Hans bereits bei seinem Schuleintritt heilige Eide schwor, niemals schuldhaft in eine solche Anstalt kommen zu wollen. Diesen Entschluss wiederum unterstützte das hiesige Jugendamt ausdrücklich und stellte ihm einen ‚gesellschaftlichen Begleiter‘ zur Seite, der ihn fürsorglich fördernd und formend unterstützen sollte. Da ich, Heinrich Rehbein, eine angesehene Stellung als Beamter bekleidete, verheiratet war, drei Kinder hatte und auch sonst ein ‚ordentliches‘ Leben führte, befand man mich als hinreichend geeignet, diese ehrenamtliche Tätigkeit zu übernehmen. Und so stand ich seit der Einschulung an der Seite dieses Hans Nemetz und übernahm so etwas wie die Funktion eines Vaters, bis Hans volljährig wurde. Damit endete zwar die offizielle Betreuung, nicht aber die persönliche Zuneigung. Vielmehr! Wir wurden Freunde einer besonderen Art – trotz unseres Altersunterschiedes –, Freunde in einer Verbundenheit, wie ich sie mir immer schon zwischen den weisen Lehrern der alten Griechen und ihren Schülern vorgestellt hatte: Er, ein wacher und wissbegieriger Kopf, geleitet oft von einer unergründlichen Mischung aus labiler Fügsamkeit und beharrendem Eigensinn. Ich, sicher kein Weiser im Sinne der griechischen Philosophen, aber doch ein durch Studium und Beruf hinlänglich erfahrener und im Lebensvollzug geformter Ministerialbeamter, der, wie ich unbescheidener Weise behaupte, Ernsthaftigkeit und Daseinsfreude zu verbinden verstand.

    Dieser Hans ist es, dem die Welt die Geschichte und die Geschichten vieler fremder Menschen und die meiner Familie aus dem Hinterpommerschen und Ostpreußischen, im Weiteren auch aus anderen deutschen Landen in schriftlicher Form verdankt. Denn er redete seit Monaten auf mich ein, ich sei ja mit meinen 67 Jahren inzwischen sehr alt geworden. Ich solle doch bitte alles aufschreiben, was ich da erzähle, damit er, mein jugendlicher Kamerad, alles schwarz auf weiß vor sich liegen habe, wenn sich sein bester Freund, also ich, Heinrich Rehbein, eines Tages nicht mehr unter den Lebenden aufhalten sollte. Er verspräche mir dafür auch aufrichtig, aus meinen Geschichten für sein eigenes Leben lernen zu wollen, was es irgend zu lernen gäbe! Da war es heraus, was Heinrich Rehbein mit seinem langjährigen Geschichtenerzählen beabsichtigt hatte: Hans Nemetz wollte lernen!

    Da Heinrich – wie in dessen Nachfolge auch der dem jugendlichen Alter entwachsene Hans – bestimmte gehaltvolle Getränke ungemein mochte, versprach er seinem jungen Freund in einem durch das harmonische Zusammenwirken von Bier und Korn gelegentlich wiederkehrenden frohgestimmten Zustand, dieser seiner Bitte nachzukommen, was er allerdings wegen der zu erwartenden aufwändigen Bemühungen bereits am nächsten Morgen zutiefst bereute. Dennoch, Heinrich hielt sein gegebenes Wort, machte sich ans Werk und begann so:

    „Ein krummes Balg, ein ‚Runzelkopf‘! Verwünscht, welch hässliches Gemächte! Der Teufel hätt‘ es sich nehmen sollen, eh‘ es den ersten Atem tat! Er hat es haben wollen. Er hätt‘ es sich auch holen sollen!"

    So wurde er begrüßt, mein Vater Friedrich Rehbein, Jahrgang 1907, als er eben geboren war. Und die es aussprach, war die mit dieser Geburt zum dritten Mal in den Stand einer Großmutter versetzte Caroline Sophie Rehbein, geborene Templin, Jahrgang 1865, aus dem Stamm der Templins, die weit im Osten, hart am Masurischen, beinahe fürstliche Ländereien besaßen.

    Entsprechend fühlte auch sie sich hier im Pommerschen beinahe wie eine Fürstin. Denn ihre einstige Mitgift konnte sich mehr als nur sehen lassen, so dass auch sie sich mit Recht zu den ersten Damen in der hiesigen Gegend zählen durfte. Da sie zudem auch nicht eben mit dem ärmsten Manne verheiratet worden war, nämlich mit dem Rittergutsbesitzer Heinrich Gustav Rehbein, Jahrgang 1860, konnten sie weiteres Land hinzuerwerben. Die Hälfte der riesigen Flächen bestand aus Wäldern und Seen, die andere Hälfte aus satter Weide und bestem Ackerland. Und in der Tat waren die Einkünfte der Rehbeins allein aus der Forstwirtschaft bereits so beträchtlich, dass man sich daraus den eigenen Förster nebst einem Gehilfen halten und jährlich noch eine ansehnliche Summe dem Familienkapital hinzufügen konnte. Auch die Jagd- und Teichwirtschaft brachten ihre Goldmark – ganz zu schweigen von dem Ackerbau und den Gewinnen aus der Viehzucht. So stand bei den Rehbeins im Pommerschen eigentlich alles zum Besten.

    Das traf im Großen und Ganzen auch auf die drei Kinder zu: Heinrich Gustav jun., Jahrgang 1885, Anna Sophie, Jahrgang 1887 und Marie Sophie, Jahrgang 1889.

    Ich beginne mit der Zweitgeborenen: Anna Sophie wurde anlässlich ihrer Heirat mit dem Geheimrat Arras aus Königsberg ausgesteuert. Mithin durften ihre familiären Umstände als gesichert gelten. Sie schenkte ihrem Gatten zwei Kinder, was dieser gleichmütig zur Kenntnis nahm. Viel mehr wusste Heinrich von diesem Familienzweig nicht zu berichten. Und da Anna Sophies Leben solchermaßen als normal bezeichnet werden muss, um nicht zu sagen, langweilig verlief, gab er sich auch keine Mühe, dieses durch die Erfindung künstlicher Affären mitteilenswert zu machen.

    Zweites Blatt

    Über den einzigen Sohn Heinrich Gustav jun. – oder auch Heinrich Gustav II betitelt – allerdings vermeldete Heinrich gern alles, was er ausgekundschaftet hatte. Denn zumindest der erste Teil seines Lebens barg etliche delikate Feinheiten, die mitzuteilen sich lohnte. Und er wusste, was die Leute gern hörten.

    Dieser Heinrich Gustav jun. nun hatte sich seit 1905 auf der Alma Mater in Halle an der Saale eingenistet und schickte sich nach acht Jahren emsigen Studierens an, das landwirtschaftliche Examen abzulegen. Es war sein dritter Versuch. Und wenn man das Alter des alten Heinrich Gustav recht betrachtete, so war es leicht auszurechnen, wie bald die Leitung der Besitzung in die Hände von Heinrich Gustav II übergeben werden musste.

    Indes gefiel es dem wackeren Studenten sehr gut auf der Universität. Da er von seinen monatlichen Dotationen aus der Schatulle des stolzen und hoffnungsvollen Papas nur einen bescheidenen Anteil als Hörergebühren oder zur Beschaffung wissenschaftlicher Bücher auszugeben gewillt war, konnte er sich mit dem verbleibenden größeren Teil ein vergnügliches Leben bereiten. Seine Logik in dieser Angelegenheit – er hatte im Studium Generale tatsächlich auch ein Semester Logik belegt – ließe sich etwa so zusammenfassen: ‚Je länger ich hierbleibe, desto kürzer muss ich mein Leben in bäuerlicher Pflichterfüllung und ländlicher Abgeschiedenheit weit im Osten Germaniens fristen‘.

    Allerdings war sich Heinrich Gustav II auch klar darüber, dass irgendwann der Tag kommen würde, an dem er zurückkehren musste. Und diese Zeit – so hatte er es den väterlichen Ermahnungen unschwer entnehmen können – sah er nunmehr heranrücken und bereitete sich, so gut er konnte, auf den dritten Versuch, das landwirtschaftliche Examen abzulegen, vor. Ist dieses sodann geschafft – so dachte er bei sich und hatte es auch bereits mit einem Kommilitonen derselben Coleur aus der medizinischen Fakultät besprochen – würde er, der Nachkommenschaft und seiner eigenen Gesundheit wegen, zum wiederholten, aber nun gewiss zum allerletzten Male sein Geschlecht nach bestimmten Krankheiten absuchen und gegebenenfalls kurieren lassen und dann mit dem Examen in der Tasche als ehrbarer, akademisch gebildeter Landwirt in die Heimat zurückkehren, sicher nicht ohne von den langjährigen Freunden und Freundinnen wehmütig, aber ausgiebig Abschied genommen zu haben.

    Und so geschah es.

    Aber Achtung, lieber Hans Nemetz! Jetzt gibt es etwas zu lernen:

    Heinrich Gustav II legte das Examen mit einiger Mühe ab und unterzog sich bei seinem medizinischen Freund besagter Untersuchung. Da geschah es: Er musste sich kurieren lassen – zum ersten Male! Das gesamte Studium hindurch musste er keine diesbezüglichen Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen – freilich bis auf die präventiven Untersuchungen bei seinem medizinischen Kommilitonen. Ausgerechnet zum Abschluss stolperte er in dieses Kaleika hinein, was ihm weitere Wochen des Aufenthalts nach dem Examen in Halle einbrachte.

    Endlich war er wieder ganz gesund und kehrte als solcher im Jahre des Kriegsbeginns 1914 nach Hause zurück – hoch angesehen und ob seines akademischen Fleißes und Erfolges dort allseits geachtet.

    Doch Heinrich Gustav II trug zeitlebens eine gewisse Unsicherheit mit sich herum. Denn sein medizinischer Freund hatte ihm jene Information mit auf den Weg gegeben, nach der die besagte Krankheit bei ihm zwar als geheilt gelten könne, dass sie aber auch ohne außereheliche Kontakte nicht für immer aus der Welt geschafft sei. Er möge sich derhalben regelmäßig selbst überprüfen und bei dem geringsten Verdacht sofort einen Arzt aufsuchen.

    Demgemäß musste Heinrich Gustav II bis an sein Lebensende mit dieser unappetitlichen Aussicht leben, die ihm bei jeder noch so geringen Unpässlichkeit stets gewaltige Ängste bescherte, was wiederum zu übermäßigem Gejammer führte, von dessen wirklichem Grund niemals jemand aus der Familie Kenntnis erhalten hat – bis auf mich, Heinrich Rehbein, den Erzähler, natürlich.

    Drittes Blatt

    In den Lebensabschnitten, in denen noch alles ‚in Ordnung‘ war in der Familie Rehbein im Pommerschen, plagte Caroline Sophie lediglich eine Kleinigkeit, die zwar ihren Gemahl betraf, die dieser aber regelmäßig abtat, wenn sie darauf zu sprechen kam. Denn der ehrenwerten Dame war es durchaus nicht genug, wohlhabend und deshalb angesehen zu sein. Sie vermisste schlicht den Ehrgeiz ihres Gatten, auch im öffentlichen Leben etwas darzustellen. Denn dem Respekt vor der bäuerlichen Autorität ihres Heinrich Gustav müsse unbedingt noch die Hochachtung durch die Berufung in ein öffentliches Amt hinzugefügt werden, meinte sie, so, wie es bei den Templins im Osten, hart am Masurischen, ihrer Heimat, der Fall war.

    Daher hielt sie es geradezu für intrigant, dass ihr Nachbar, der Wilhelm Rabsath, der mit weit weniger Land und Goldmark gesegnet war als ihr Heinrich

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