Zwischen Weltkrieg und Staatsvertrag
Von Josef Thonhauser
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Über dieses E-Book
In diesem Buch geht es nicht um Dichtung, sondern um die
Rekonstruktion der als Kind erfahrenen Geschichte. Hier
meldet sich ein Autor zu Wort, den seine Kindheitserlebnisse
zwischen seinem vierten und zwölften Lebensjahr seit
sechzig Jahren beschäftigen. Was hier aufgeschrieben wurde,
ist gekennzeichnet durch das konsequente Bemühen, die
Erinnerungen von späteren Überlagerungen frei zu halten
und durch den Verzicht, in den Vordergrund zu rücken, was
heute gern gehört und gelesen würde. Dr. Josef Thonhauser
hat sich nicht von dem heute zeitgemäßen Jagdfieber anstecken
lassen, auf die Charakterbilder der handelnden Personen dunkle
Flecken aufzutragen oder sie in einem ungebührlich günstigen
Licht erscheinen zu lassen.
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Buchvorschau
Zwischen Weltkrieg und Staatsvertrag - Josef Thonhauser
Jeder Mensch hat persönliche Erinnerungen. Sie reichen unterschiedlich weit und unterschiedlich intensiv in die Kindheit zurück und sind durch spätere Erfahrungen, Verdrängungen und Umdeutungen verändert worden. Menschen, die zur gleichen Zeit in gleichen Erlebnisräumen aufgewachsen sind, haben deshalb gleiche Ereignisse unterschiedlich wahrgenommen, manchmal aber auch verschiedene zeitgleiche Ereignisse in ihrem Gedächtnis verähnlicht.
Es ist nicht die Aufgabe des Dichters mitzuteilen, was wirklich geschehen ist, sondern vielmehr, was möglich war und wie es geschehen sein könnte, schreibt Aristoteles in seiner Poetik.
Im Folgenden geht es nicht um Dichtung, sondern um die Rekonstruktion der als Kind erfahrenen Geschichte. Hier meldet sich ein Autor zu Wort, den seine Kindheitserlebnisse zwischen seinem vierten und zwölften Lebensjahr seit sechzig Jahren beschäftigen. Was hier aufgeschrieben wurde, ist gekennzeichnet durch das konsequente Bemühen, die Erinnerungen von späteren Überlagerungen frei zu halten und durch den Verzicht, in den Vordergrund zu rücken, was heute gern gehört und gelesen würde.
Ich habe mich nicht von dem heute zeitgemäßen Jagdfieber anstecken lassen, auf die Charakterbilder der handelnden Personen, zu denen ich ja in den meisten Fällen in einer sehr persönlichen Beziehung stand, dunkle Flecken aufzutragen oder sie in einem ungebührlich günstigen Licht erscheinen zu lassen. Ich bin jedoch überzeugt, in meinen Episoden Themen aufzugreifen, die in jener Zeit nicht nur für mich, sondern auch für den Alltag vieler Menschen von Bedeutung waren.
(Autobiographische) Literatur ist per definitionem indiskret, meinte Peter Turrini in einem ORF-Feature im Dezember 2008.
Das trifft auch auf meinen Text zu: Manche Personen, die in meinen Erzählungen vorkommen, zum Beispiel meine Eltern oder meine Geschwister, sind sehr leicht, andere, auch wenn ich sie nicht immer beim richtigen Namen nenne, wären mit geringer Anstrengung ebenso zu identifizieren wie die nicht genannten Örtlichkeiten. Ich hoffe indessen, meine Geschichten führen weder bei den Betroffenen noch ihren Angehörigen oder Nachkommen zu Befremden oder gar Verärgerungen. Das wäre aus zwei Gründen nicht angemessen und schon gar nicht von mir einkalkuliert: Die Erzählungen beanspruchen nicht historische Objektivität – was immer damit gemeint ist –, sie verstehen sich weder als Glorifizierung (vor allem nicht meiner eigenen Person) noch als Abrechnung.
Ich habe für meine Arbeit nicht eigens Recherchen angestellt. Es wäre nicht schwierig gewesen, Zeitangaben oder andere Details zu überprüfen. Damit wäre mein Vorhaben jedoch auf eine andere Ebene gehoben worden und hätte den Charakter der präsenten Erinnerungen verloren. Es ist daher leicht möglich, dass manche Leserinnen und Leser, die meiner Generation angehören, an der einen oder anderen Stelle spontan ausrufen möchten: „Das stimmt so nicht. Das war jemand anderer. Das war ein Jahr früher. Und das war nicht im Herbst. Etc." Wenn sie recht haben, bitte ich um Nachsicht. Die Episoden, die hier geschildert werden, entsprechen meiner Sichtweise von damals, als ich Zeitzeuge war. Ich habe diese Sichtweise nicht zurechtgerückt, auch wenn ich mit ihr heute als naives oder gar dummes Kind erscheinen mag. Haben die Erinnerungen nicht trotzdem – wenn auch in mehr oder weniger engen Grenzen – ihre eigene Gültigkeit für den erlebten Alltag?
J. T. Salzburg, im Februar 2010
I. Die Kriegsjahre
(1) Nikoloabend 1942
An den hohen Festtagen verbreitete sich daheim immer eine feierliche Stimmung. Alles musste frisch geputzt und aufgeräumt sein und nach einem vielfach erprobten Plan auf den jeweiligen Höhepunkt zulaufen. Häufig luden meine Eltern Verwandte oder Bekannte, die selbst keine Kinder hatten, ein, was für uns Kinder für gewöhnlich weitere Geschenke bedeutete. So stellten sich in der feierlichen Stimmung jeweils auch gespannte Erwartungen ein, was es wohl in diesem Jahr wieder werden würde – auch wenn uns die Erfahrung lehrte, dass Onkel und Tante manchmal vergessen hatten, womit sie uns bereits im Jahr davor beglückt hatten, und wieder auf den gleichen Einfall gekommen waren.
Meine frühesten Erinnerungen reichen zurück bis zum Nikoloabend 1942. Schon den ganzen Tag lag Spannung in der Luft. Denn schließlich konnte niemand sicher sein, ob der Nikolaus in seinem goldenen Buch über einen nur Gutes aufgeschrieben hatte oder der Krampus nicht doch ein unartiges Kind holen würde. Mein älterer Bruder, dem diese Rolle zugedacht war, erschien mir an solchen Tagen als besonders gefährdet. Die Mutter machte wie beiläufig Andeutungen, dass diesmal das ungleiche Paar höchstpersönlich vorbeischauen werde und es daher gelte, wenigsten tagsüber noch hilfsbereit und brav zu sein. Mir fiel es an jenem Tag gar nicht schwer. Denn Onkel Hans war – frisch vermählt mit Tante Christl – auf der Hochzeitsreise zu Besuch gekommen. Beide haben mir mächtig imponiert: Onkel Hans, weil er eine außergewöhnlich schöne RAD*-Uniform trug, Tante Christl, weil sie für eine Tante so jung aussah und zudem hochdeutsch sprach.
Der Abend rückte heran. Wir versammelten uns im Wohnzimmer. Meine Mutter, Tante Christl und meine Geschwister um den runden Tisch gegenüber der Eingangstür. Ich saß neben Onkel Hans, der mich mit seinem linken Arm an sich drückte, hinter ihnen auf dem breiten Klavierhocker. Die Spannung wuchs, da wir den Heiligen und seinen Knecht erwarteten. Vom Stiegenhaus her waren Schritte zu vernehmen. Bald mischten sich das Geräusch von Kuhglocken und das Rasseln von Ketten darunter. Der Nikolaus kannte selbstverständlich alle Wege in die Wohnungen der Kinder und brauchte nicht geführt zu werden. Plötzlich klopfte es an der Zimmertür. Der Krampus hopste noch einmal bedrohlich lärmend im Vorraum umher, bis meine Mutter mit freundlicher Stimme „Herein sagte. Da tat sich die Türe auf und draußen stand wahrhaftig der Nikolaus in prächtigem Gewand und mit einem goldenen Stab. Mit seiner hohen Mütze konnte er nicht ins Zimmer, ohne sein Haupt tief zu beugen. Als er den Türrahmen passiert hatte und aufschaute, erblickte er Onkel Hans in seiner feschen Uniform. Rasch erhob er seine freie Hand, von deren Mittelfinger ein Ring funkelte, streckte sie aus und rief: „Heil Hitler!
Ich habe die Bedeutung des Augenblicks naturgemäß nicht voll erfasst, doch spürte ich aus dem Verhalten aller, dass die geheime Regie dieses Abends ins Stocken geraten war. Ich weiß nicht mehr, wer als Erster die Sprache wieder gefunden hat. Der Heilige Nikolaus war es jedenfalls nicht. Sein obligates „Gelobt sei Jesus Christus! habe ich nicht gehört. Der Krampus blieb ebenfalls ruhig und verzichtete aufs Zupacken, weshalb mein Bruder noch einmal davon kam. Irgendwann verschwanden die beiden nach ihrem missglückten Auftritt wieder. Wir versammelten uns um den runden Tisch zum Abendessen, das immer wieder von einem „Nein, so etwas
unterbrochen wurde. Hat es überhaupt eine Bescherung gegeben? Oder hielt der Nikolaus seinen Gruß an diesem Abend für eine ausreichende Pflichterfüllung und dachte nicht mehr an seine eigentliche Bestimmung? Die Antworten auf diese Fragen habe ich nie erfahren. Ich selbst hatte sie mir im Augenblick, da der Nikolaus ex tempore seinen Gruß entboten hatte, gar nicht gestellt.
(2) Hilfsbereitschaft
Obst und Gemüse waren tägliche Nahrungsmittel. Man hatte sie entweder im eigenen Garten oder bezog sie von einer Gärtnerei. Einmal in der Woche boten die Bulgaren an einem Stand nahe ihrem Garten ihre Ware feil. Diese war frisch und billig. Deshalb wurde über die Bulgaren freundlich – fast wie über Einheimische – gesprochen, obwohl sie ihre Kundschaft, wenn auch freundlich und zuvorkommend, mit deutlich vernehmbarem fremden Akzent bedienten.
An einem Tag im Juni, an dem jene gerade nicht Markt hatten, ging ich mit meiner Mutter zu unserer Frau Bauernfeind, deren Gärtnerei ein Stück vor der Stadt lag. Es war eine große, mit einem hohen Zaun geschützte Anlage. Durch das Tor an der Straße führte ein von Obstbäumen gesäumter Weg zu ihrem Haus, aus dessen Keller sie in der Regel holte, was meine Mutter brauchte. In der großen Gärtnerei gab es keinen Gärtner, jedoch den einen oder anderen Angestellten. Die bekam man kaum zu Gesicht, höchstens sah man einen einmal von hinten in gebückter Haltung oder vor einem Beet kniend bei der Arbeit.
Das Tor war untertags nicht abgesperrt, und so betraten meine Mutter und ich die Anlage. Frau Bauernfeind hatte uns schon erblickt, legte beiseite, was sie gerade in ihren Händen hielt, und kam uns entgegen. Ich lief einige Meter zu ihr hin, sie hob mich freudig auf, schwenkte mich in ihren Armen und rief anerkennend aus, wie groß ich schon geworden sei. Weniger angetan von dieser begeisterten Begrüßung war ihr Wolfshund. Dieser missverstand die Szene gründlich und hielt sie für eine Bedrohung seines Frauchens. Flugs sprang er an uns hoch und biss mich heftig in den rechten Oberschenkel. Augenblicklich schoss Blut aus drei großen Bisswunden hervor. Die beiden Frauen packte das Entsetzen. Frau Bauernfeind züchtigte ihren Wolfi und sperrte ihn weg, um gleich darauf mit einer Schüssel reinen Wassers, Verbandszeug und einem Angebot an frischen Kirschen zurückzukommen. Da ich das Bein bewegen konnte, fassten die beiden Frauen wieder Mut und ihre Angst, der Hund könnte mir einen Knochen oder eine Sehne verletzt haben, wich der Hoffnung, es sei doch nur eine Fleischwunde. Mir war die Angst hingegen nicht so leicht auszutreiben, hatte ich doch vorher noch nie so viel Blut an mir gesehen. Frau Bauernfeind versuchte, mich mit Weichseln, frisch vom Baum, zu beruhigen. Ich konnte ihren herben Geschmack in dieser Situation allerdings nicht wirklich schätzen. Schließlich wurde ich in einen kleinen Leiterwagen gesetzt. Um mich herum lud Frau Bauernfeind reichlich Gemüse und Obst auf – alles gratis, versteht sich.
Meine Mutter zog mich nach Hause und dann gleich weiter zum Arzt, der beruhigend auf uns einredete und bestätigte, dass ich trotz der tiefen Wunden noch einmal glimpflich davon gekommen sei. Er machte mir einen neuen Verband und äußerte keine Bedenken, dass meine Mutter und ich am nächsten Morgen die geplante Zugreise nach Innsbruck antreten könnten. Allerdings nahm er uns das Versprechen ab, dass das Bein einige Tage ruhig gestellt bleiben würde.
Große Erleichterung. Bei meiner Mutter, weil die Sache noch einmal leidlich gut ausgegangen war, und bei mir, nachdem ich mich von dem Schrecken erholt hatte, weil die Fahrt nach Innsbruck, auf die ich mich schon gefreut hatte, gerettet war. Aber da gab es doch noch ein Hindernis. Der Zug fuhr knapp vor fünf Uhr früh ab. Wie sollte ich ihn erreichen, da wir doch dem Arzt versprechen hatten müssen, mein Bein streng zu schonen? Wäre es meinen Geschwistern zumutbar, mich zu früher Morgenstunde mit dem Leiterwagen zur Bahn zu ziehen und dann, bis vor Schulbeginn, noch einmal weiterzuschlafen? Da begegneten wir auf dem Heimweg vom Arztbesuch meiner Tante Hilde, der sofort die besonderen Umstände mit Leiterwagen und dickem Verband ins Auge fielen. Von meiner Mutter über den Hergang und das Problem unterrichtet, bot sie ohne Umschweife ihre Hilfe an. Tante Hilde war damals eine der wenigen Frauen in der Stadt, die über ein eigenes Fahrrad verfügten. Das kam uns sehr zu gute.
Um halb fünf Uhr in der Früh wartete sie schon vor unserer Wohnungstür. Ich wurde über die steilen Treppen von der Wohnung im zweiten Stock zum Fahrrad, das vor der Haustür stand, hinunter geschleppt und auf den Gepäcksträger gesetzt, der von Tante Hilde vorsorglich mit einem kleinen Polster bequem hergerichtet worden war. So schob sie mich zum Bahnhof und setzte mich in den Zug, wo ich zwei Plätze beanspruchen durfte, und wünschte meiner Mutter und mir alles Gute für die siebenstündige Reise über Spittal und durch den langen dunklen Tauerntunnel. Nach mehrfachem Umsteigen, an dessen nähere Umstände ich mich nicht mehr erinnern kann, erreichten wir den Bahnhof Innsbruck, wo uns meine Taufpatin erwartete. Obwohl sie eine sehr fromme und strenge Frau war, meinte sie, die paar Schritte vom Bahnhof zur Bushaltestelle, von wo uns der Bus hinauf nach Rinn bringen würde, dürfte ich schon zu Fuß machen. So streng habe es der Doktor sicher nicht gemeint. Das fand ich auch.
(3) Judenstein
Meine Taufpatin betrieb mit meinem Onkel in der Nähe von Rinn bei Innsbruck eine Pension, die ich sehr liebte, weil es in ihr verwinkelte Treppen bis hoch hinauf zu kleinen Türmchen gab. In dieser Pension waren wir öfters zu Gast. Zum ersten Mal war ich als noch nicht Vierjähriger im Herbst mit meiner Mutter dort. Meine Tante pflegte meine blinde Großmutter. Da war es ihr sehr recht, wenn meine Mutter sie einige Tage unterstützte. Dazu gehörte unter anderem, mit Großmutter täglich am Vormittag und am Nachmittag Spaziergänge zu machen. Die erste Station auf diesen Spaziergängen war jeweils die nahe Kirche, die den Namen Judenstein trägt.
Während meine Großmutter betete, erklärte mir meine Mutter, was rechts in einer Ecke mit Figuren eindrücklich dargestellt war: Drei Männer mit grimmigen Gesichtern und Messern in den Händen waren gerade dabei, ein kleines Kind zu töten. „Das ist das heilige Anderle von Rinn. Es wurde vor langer Zeit hier von den Juden umgebracht. Ich war tief beeindruckt. Da das nackte Kind, über dessen weißen Körper das Blut floss, dort drei starke, schreckliche Männer. Irgendwie schien ich das Verbrechen an dem wehrlosen Kind schon zu begreifen. Den Männern fehlte kaum ein Attribut, das sie zu Bösewichten stempelte: dunkle, grimmige Gesichter, lange Haare, spitze Bärte. Dass sie „obendrein noch Juden
waren, konnte ich in seiner Tragweite freilich noch nicht erfassen, habe mir aber auch dieses Detail eingeprägt, was mir bald großen Nutzen bringen sollte.
Wir hatten die Kirche verlassen. Meine Großmutter mit ihrem weißen Blindenstock ging am Arm meiner Mutter über die große Wiese zum angrenzenden Wald. Ich trottete hinterdrein. Mit den Gedanken war ich aber noch bei dem schrecklichen Kindesmord und seiner Darstellung. Da erfasste mich der heftige Wunsch, mir das Ganze nochmals anzuschauen, und ich kehrte um. Da meine Großmutter nur langsam gehen konnte, würde ich sie bald wieder einholen. Der Eindruck in der Kirche war beim zweiten Mal nicht schwächer. Ich schwankte zwischen dem Erbarmen mit dem unschuldigen Kind und der Bewunderung, wie man Böses mit den Figuren so genau darstellen konnte. Endlich riss ich mich los und lief zurück auf die Wiese. Ich sah Mutter und Großmutter gerade noch im Wald verschwinden. „Da nehme ich eine Abkürzung," dachte ich fatalerweise und bog gleich in den Wald ein, den ich schräg durchqueren wollte. Aber ich fand aus ihm nicht mehr heraus. Bald musste ich die Hoffnung aufgeben, über meine Abkürzung wieder auf den Weg zu kommen. Denn der Wald wurde dichter und neigte sich zunehmend steiler nach unten. Ich musste aufpassen, ja nicht auszurutschen. Trotzdem versäumte ich daneben nicht die Gelegenheit, kleine Schwammerln