Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Lebensgepäck: Wie viel Leid verträgt ein glückliches Leben?
Lebensgepäck: Wie viel Leid verträgt ein glückliches Leben?
Lebensgepäck: Wie viel Leid verträgt ein glückliches Leben?
eBook295 Seiten3 Stunden

Lebensgepäck: Wie viel Leid verträgt ein glückliches Leben?

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Nicht für alle waren die fünfziger und sechziger Jahre in der Bundesrepublik
eine Zeit des Aufbruchs. In kirchlichen Heimen wurden viele
Kinder jahrelang unter unvorstellbaren Bedingungen gedemütigt, geschlagen
und eingesperrt.
Die Autorin verliert mit drei Jahren ihre Mutter im Kindbett und wird
mit ihren drei Brüdern aufgrund der darauffolgenden Alkoholsucht ihres
Vaters in das Kinderheim »Heilig Kreuz« eingewiesen. In ihrer Autobiografi
e kehrt sie zurück in die Vergangenheit, an die Orte ihrer Kindheit.
Schmerzhafte Erinnerungen an eine Zeit der »Fürsorge« liebloser
Erzieher und Ordensschwestern werden wach, werfen aber gleichzeitig
die Frage auf, gab es keinen anderen Weg als die Heimunterbringung?
War diese menschenverachtende, von Prügeln, Zucht und Ordnung geprägte
Zeit wirklich die einzige Alternative?
Authentisch und einfühlsam erzählt sie über die Zeit vom Verlust der
Eltern, Trennung der Geschwister und jahrelanger grausamer Heimerfahrung.
Voller Wärme beschreibt sie die Erfahrungen mit anschließender Pfl egschaft
und Adoption und über das Glück, eine neue Familie gefunden zu
haben.
Stets spürt sie dabei der Frage nach, welche Bedeutung Freiheit und
Selbstverwirklichung in ihrem Leben heute haben und zeigt, dass es
keine einfachen Antworten darauf gibt.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum27. Apr. 2021
ISBN9783347302709
Lebensgepäck: Wie viel Leid verträgt ein glückliches Leben?

Ähnlich wie Lebensgepäck

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Lebensgepäck

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Lebensgepäck - Christa Heuermann

    Leben in der Baracke

    So bitte ich darum, meine Arbeit, mein Schreiben nicht zu missachten, vielmehr mir Lob zu spenden nicht für das, was ich schreibe, sondern für das, was ich weglasse.

    Zurück in die Vergangenheit!

    Wer bin ich?

    Was war mein bisheriger Lebensweg?

    Warum jetzt Rückblick?

    Geboren bin ich am 9. Dezember 1950. Auch anderen Menschen ist nicht so viel an Erinnerungen an die erste Zeit ihres Lebens vergönnt – und so ist es auch bei mir. Doch wann beginnt man damit, sein Leben zu erzählen und wie?

    Ob es in diesem Winter sehr kalt war oder mild, ich weiß es nicht, überhaupt – »Ich weiß es nicht« – ist sicher der meist verwendete Satz in meinen frühen Aufzeichnungen.

    Ganz sicher weiß ich nur, je älter ich werde und je länger der Anfang zurückliegt, je mehr und je deutlicher werden die Bilder in mir. Lange Zeit habe ich mich gefragt, will ich diese Bilder wirklich sehen und ihnen auch eine Berechtigung geben? Ja, ich möchte die Geschichte meines Lebens erzählen und versuchen, die Jahre Revue passieren zu lassen, damit sie für meine Familie und deren Nachkommen nicht in Vergessenheit geraten, ob es mir gelingt, ich weiß es nicht.

    Was bedeutet es für mich, in Gedanken den Weg zurückzugehen? Man sagt, beim Schreiben ist man viel allein, vielleicht stimmt das, aber man trifft auch immer wieder »alte Bekannte«, an die man sich Jahrzehnte lang nicht erinnert hat.

    Viele Ereignisse verschwinden nach gewissen Zeitabständen und Lebensabschnitten aus meinem Gedächtnis. Alle erlebten Ereignisse, wie der Verlust von Vater und Mutter, Verlust der Familie, Heimunterbringung, Trennung von den Brüdern, ja, der Verlust von Zugehörigkeit bleiben lebenslang in meinem Gedächtnis. Unabhängig davon, wo ich mich befinde, immer trage ich diese Erinnerungen in mir.

    Einiges wird mich sicher glücklich machen, denn es gibt verschüttete Situationen, die mir eine Erklärung für bestimmte Verhaltensweisen in meinem jetzigen Leben aufzeigen, anderes wird sehr schmerzhaft sein, stoße ich doch an Punkte, die ich bis heute verdrängt hatte, die aber immer in mir lauerten.

    Warum ich bei all dem Erlebten heute so eine relativ stabile Persönlichkeit geworden bin, muss an den mir mitgegebenen Genen oder an der Liebe in den ersten drei Jahren meiner Familie liegen.

    Zu dem Zeitpunkt bestand sie aus meinem Vater Johann (48), meiner Mutter Gertrud (29), meinen Brüdern Hans (3), Bernhard (2) Erwin (1) und meiner Stiefschwester Felizitas (8) aus der ersten Ehe meiner Mutter. Als die Kriegsflüchtlinge aus Schlesien nach Cloppenburg kamen, wurden sie nicht gerade mit offenen Armen empfangen. So erging es auch meinen Eltern.

    Das Gebiet am damaligen Rennplatz, Garreler Weg 2, eine Barackensiedlung, die damals typische Bezeichnung für eine Anhäufung von Holzbaracken, sollte ihre neue Heimat werden.

    Die Wohnung bestand aus einer Küche und einem Schlafraum, in der wir – sieben Personen untergebracht waren. Es gab ein großes Ehebett und zwei Eisenbetten an der Wand. Für etwas Wärme sorgte ein eiserner Ofen, der mit Kohle beheizt wurde. An Kälte kann ich mich in dieser Zeit nicht erinnern, wohl aber an wohlige Wärme innerhalb dieser Holzwände. Die Unterkunft war aus heutiger Sicht primitiv. Außer den Betten gab es kaum Möbel oder andere Einrichtungsgegenstände. Man hatte ja auf der Flucht nicht mehr mitnehmen können, außer das, was man am Leibe trug und was in ein kleines Köfferchen passte. Aber den Nachbarn ging es genauso und man war froh, ein Dach über dem Kopf zu haben. Wir mussten nicht hungern, denn die Verpflegung bekamen alle Vertriebenen mit ihren Familien aus dem St. Josefs-Krankenhaus in Cloppenburg.

    Dort wurden ich und meine vier Brüder geboren, fünf Kinder, immer im Abstand von einem Jahr. Wir hatten uns und unsere vier Wände, wohin wir uns zurückziehen konnten. In dieser Barackensiedlung waren die hygienischen Verhältnisse aufgrund der gemeinschaftlich genutzten sanitären Einrichtungen äußerst schlecht. Sie bestanden aus einem Plumpsklo und einem Brunnen auf dem Hof.

    Das hölzerne Toilettenhaus stand ca. zehn Meter vom Haus entfernt und wurde von drei Baracken genutzt. Im Sommer stellte diese Situation nicht das größte Problem dar, wenn man einmal von den Wartezeiten absah – es war mehr der Winter und die dunklen Abende oder Nächte, die jeden Gang zur Toilette für mich zum Horrorgang werden ließen.

    Vielleicht stammt daher heute noch der Wunsch, »alles so lang wie möglich hinauszuschieben« und dann »alles schnell zu erledigen«, und immer war dies mit der Angst behaftet, jemand zieht einen von unten in das offene Plumpsklo. Das wöchentliche Baden am Samstag fand nach mühseligem Aufheizen des Wassers auf dem Kohleherd in der Küche statt. In diesen ersten Jahren meines Lebens müssen mir meine Eltern einiges an Werten wie z. B Geborgenheit, Vertrauen, Sicherheit und Liebe vermittelt haben. Ansonsten kann ich mir nicht erklären, wie alles, was nach dieser Zeit kam, mich nicht für alle Zeiten geschädigt hatte, denn es folgte eine Zeit, die an Schwere nicht zu beschreiben war.

    Vage, verschwommene Erinnerungen dieser Zeit ziehen manchmal in kurzen Bildern an mir vorbei. Ich sehe einen kleinen, fast glatzköpfigen Mann in einem weißen Unterhemd mit maritimen Motiven an den Oberarmen tätowiert und eine kleine, etwas pummelige Frau mit schwarzen Kirschaugen und langen schwarzen Haaren, die zum Zopf geflochten sind und mit einer Kittelschürze gekleidet, vor einer grau angestrichenen Holzbaracke stehen.

    Von diesen Baracken gab es »Am Rennplatz« in Cloppenburg, mehrere einfach zusammengezimmerte, hintereinander aufgereihte Schuppen. In jeder Reihe waren ca. fünf ganz kleine Wohnungen. Alle Familien um uns herum waren wie meine Eltern »Vertriebene« und hatten mindestens drei Kinder. An ihrem Dialekt konnte man, wenn diese Menschen sprachen, erkennen, dass sie nicht aus Cloppenburg stammten. Viele kannten sich aus ihren Heimatdörfern und von ihren gemeinsamen Fluchtwegen.

    Es gab einen großen Zusammenhalt zwischen den einzelnen Familien. Aufgrund der beengten Wohnungen spielte sich vieles im Freien ab. Alle hatten nur sehr wenig und Reichtümer hatte niemand aus der Heimat mitnehmen können. Einiges war auf der Flucht verloren gegangen. Aber man hatte noch die Gemeinschaft. Abends traf man sich auf dem Hof und dann wurde auf dem Akkordeon, auf dem mein Vater spielte, musiziert und es wurde gesungen und aus der fernen Heimat erzählt.

    Mein Vater war 19 Jahre älter als meine Mutter, die zur damaligen Zeit noch in erster Ehe verheiratet war. Ihr erster Mann galt als verschollen, was immer das in der damaligen Zeit bedeutete – ich hab es nie erfahren. Sie wurde am 20. Oktober 1922 und mein Vater am 1. August 1904 in Schlesien geboren. Aus ihrer ersten Ehe stammte die 8-jährige Tochter Felizitas (genannt – Litze).

    Viele Bilder vermischen sich mit realen Bildern und überlieferten Erzählungen. Sicher ist, dass meine Eltern sehr gesellige Menschen waren, die gerne feierten. Auf Fotografien, die irgendwo einmal im Nachlass meines Vaters auftauchten, ist zu erkennen, dass Weihnachten z. B. im Kreise einer großen Familie gefeiert wurde.

    Die Fotos, die aus dieser Zeit stammen, zeigen mich, meinen Bruder Hans, meinen Vater, meine Mutter und viele Onkel und Tanten. Was ich aus dieser Zeit mitbekommen habe, weiß ich nicht, doch mein Wunsch, immer in geselliger Runde zu sein, kann auf dies Zeit zurückgehen.

    Vielleicht hat dieser Wunsch aber auch einen ganz anderen Grund das »Kinderheim Heilig Kreuz«, in Stapelfeld – was mein weiteres Leben bestimmte. Ab diesem Zeitpunkt gab es kein Alleinsein mehr alles geschah in einer »Gruppe« – doch dazu später.

    Alles war im Aufbruch in dieser Zeit, kurz nach dem Ende des Krieges wurden Maurer zum Aufbau der Stadt gebraucht. Mein Vater hatte eine feste Arbeitsstelle am St. Josefs-Krankenhaus in Cloppenburg und baute ab 1950 mit an dem Kinderheim »Heilig Kreuz« in Stapelfeld, das im Laufe unseres Lebens eine große Rolle spielen sollte. Durch diese regelmäßige Arbeit waren wir finanziell versorgt. Wenn Papa abends nach Hause kam, hatte er immer die Henkelmänner mit Essen für uns alle dabei. Wenn auch ärmlich und alles ein wenig anders als bei Menschen, die nicht aus ihrer Heimat vertrieben waren, war unser Familienleben nicht unglücklich.

    Es wurde jedoch durch die Geburt meiner Brüder, Bernhard (1952) und Erwin (1953), immer enger in der grauen Baracke. Anderen Familien ging es genauso, man hatte eben viele Kinder und die mussten satt werden. Mein Vater züchtete Hauskaninchen und das vor dem Haus ein nacktes, abgezogenes Kaninchen hing, war keine Seltenheit. Hunger mussten wir, glaube ich, nicht leiden. Außerdem hatten wir einen Hund, einen weißen Spitz. Sein Name war Molly.

    Auf unseren nächtlichen Touren, von denen ich später schreibe, saß er häufig mit in meinem Fahrradkörbchen.

    Des Weiteren hatte die ganze Barackengemeinschaft ein Hausschwein, das in einem Holzverschlag von unseren Abfällen lebte und gemeinsam geschlachtet wurde. Hausschlachterei war in den 50er-Jahren üblich. Es war zwar verboten, aber es hielt sich niemand dran, man war froh, dass man zu Essen hatte.

    Es gibt Bilder in meinem Kopf und auch Fotos, auf denen mein Vater mit einer langen Metzgerschürze und einem großen Messer in der Hand ein vor sich hängendes Schwein verarbeitete.

    Vielleicht wäre in den folgenden Jahren alles gut so weitergegangen doch ein böses, einschneidendes Ereignis veränderte den Verlauf unserer Familie.

    Meine Mutter wurde ein weiteres Mal schwanger. Sie war zu dieser Zeit 32 Jahre alt und hatte von 1949 bis 1954 fünf Kinder geboren. Ich war noch zu klein, um diesem Ereignis in der Erinnerung Bedeutung beizumessen. Meine Erinnerung setzte erst zu einem späteren Zeitpunkt brutal wieder ein. Diese Bilder trage ich bis heute in mir. Obwohl ich damals erst drei Jahre alt war, sehe ich noch heute das Bild vor mir – meine Mutter in der Leichenhalle im Cloppenburger Krankenhaus. Sie war ganz weiß, blutleer (heute, weiß ich, sie hatte bei der Geburt viel Blut verloren). Sie war eine junge, gesunde Frau, die ein Baby bekommen sollte. Komplikationen und der starke Blutverlust führten ganz unerwartet und plötzlich zum Tod von Mutter und Kind. Es war ein Junge, Paul – und meine Mutter hielt dieses Kind auf dem Totenbett in ihren Armen, ebenfalls weiß und blutleer. Meine Mutter hatte vom Nasenbluten noch getrocknetes Blut unter der Nase. Das Baby sah aus wie eine kleine Porzellanpuppe. Noch heute sehe ich manchmal dieses Bild, – es erinnert mich ein bisschen an »Schneewittchen im Sarg«. Beide sind am gleichen Tag verstorben.

    »Gib Mama noch einen Kuss, Pippi«, hörte ich meinen Vater sagen.

    Woher mein Vater die Kraft nahm, mit seinen beiden ältesten Kindern am Sarg seiner toten Frau zu stehen, ist mir vollkommen unverständlich.

    Damit setzt erst mal die Erinnerung an ein unfassbares Geschehen aus. Die Leichenhalle vor dem Cloppenburger Krankenhaus sollte mich noch viele Jahre später, als ich schon in meiner Pflegefamilie war, wie ein Magnet anziehen. Oft bin ich viele Jahre später, als ich bereits bei meinen Pflegeeltern lebte und ein eigenes Fahrrad besaß, zu dieser Tür gefahren und habe durch das Schlüsselloch geschaut. Es war irgendwie gruselig und erschreckend, doch es hat mich nicht abgehalten hinzufahren – ich war auf der Suche nach etwas, was ich auch bis heute nicht verarbeitet habe.

    Nach dem Tod meiner Mutter sind mir keine Erinnerungen oder Gefühle an sie geblieben, die ich heute beschreiben könnte. Viele Jahre später, im Jahr 1971, als meine Schwägerin Karin in dem St. Josefs-Krankenhaus ihr erstes Kind zur Welt brachte, wurde sie von einer schon älteren Stationsschwester gefragt, ob sie mit den Irmers aus den 50er-Jahren verwandt sei. Sie erinnere sich noch genau an die lang zurückliegende, schmerzliche Geschichte der Gertrud Irmer, meiner Mutter, die bei der Geburt ihres fünften Kindes starb und vier kleine Kinder mit dem Vater allein zurückließ. Man fand sie damals verblutend im Badezimmer.

    Das Leben sollte weitergehen. Ein Witwer mit vier kleinen Kindern!

    Natürlich konnte das nicht gut ausgehen.

    Was sollte geschehen mit der Familie Irmer?

    Die familiäre Situation des Johann Irmer:

    Hans, geboren am 31.01.1949, Christa (ich), geboren am 09.12.50, Bernhard, geboren am 20.07 1952 und Erwin, geboren am 05.07.1953. Ab dem 29. August 1954 hatten wir vier Kinder nun keine Mutter mehr. Für unsere Betreuung musste eine Lösung gefunden werden. So etwas wie Inobhutnahme, Pflegefamilien o. Ä. gab es damals noch nicht.

    Man sprach von einer vorübergehenden Lösung. Was aber sollte vorübergehen? Die Verhältnisse konnten nicht ohne Weiteres geändert werden. Es gab keine Verwandten, die sich zusätzlich zu ihren eigenen Kindern noch vier weitere dazu genommen hätten und dazu noch so kleine.

    Erwin war ein Säugling und Bernhard ein Kleinkind. Felizitas kam zu ihren Verwandten aus der ersten Ehe meiner Mutter. Ich habe sie erst Jahre später als junge Frau wiedergesehen.

    Eine neue Ehefrau für den Witwer Johann Irmer war weit und breit nicht in Sicht. Wer hätte sich das denn auch angetan?

    Mein Vater wurde so mit einem Schlag vom Familienvater zum einsamsten Menschen der Welt. Er konnte diese Welt nicht mehr verstehen. Die Ehefrau gestorben, mit uns kleinen Kindern vollkommen überfordert, verlor er den Halt – und griff immer mehr zum »Tröster« Alkohol.

    Ein Kreislauf begann – mein Vater trank, weil er allein war und weil er sich Ablenkung versprach, aber das Erwachen am nächsten Tag machte seine Situation nicht besser. Ein vollberufstätiger Mann mit vier kleinen Kindern, das war schier unmöglich zu bewältigen, er war hilflos und total überfordert. Als die Last für unseren Vater immer größer wurde, suchte er sich abends ein Ausbrechen aus dem Elend der Doppelbelastung. Inzwischen wurden auch die Behörden durch Familienangehörige und Nachbarn auf den tragischen Schicksalsschlag aufmerksam gemacht.

    Die Hilfsbereitschaft war zwar groß und mein Vater hatte bestimmt sein Bestes versucht, es allen Recht zu machen. Es war nur eine Frage der Zeit und die Familie galt als »sozial auffällig«. Heute würde man sagen »asozial«.

    Vom Jugendamt wurde eine sogenannte »Fürsorgerin« Fräulein Stärk beauftragt, sich um uns und die Familie zu kümmern. Von Anfang an war uns Kindern und unserem Vater diese Frau verhasst. Allein schon ihr Aussehen und ihr Auftreten – heute würde man sagen, sie war ein Dragonerweib, machte uns Kindern angst.

    Groß, von kräftiger Statur, strenger Haardutt, eine »Glasbausteinbrille«, immer schwarze Säcke als Kleidung, so habe ich diese Frau in Erinnerung. Zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, mit welchem Ziel und Zweck wir von Fräulein Stärk »überwacht« wurden, denn der Tagesablauf lief zunächst einmal wie gewohnt weiter. Unser Mittagessen holte unser Vater weiterhin in Henkeltöpfen aus der Großküche des Cloppenburger Krankenhauses. Eine Mitarbeiterin vom Jugendamt (Fräulein Thea) kam, um den Ablauf des Tages zu koordinieren, d. h. Waschen, Putzen, Einkaufen.

    Es gab aber auch noch ein paar Nachbarn, die für uns da waren. Es war jedoch vorgezeichnet, dass das nicht lange gut gehen konnte. Vom Jugendamt kam Fräulein Stärk nun immer öfter, um nach dem Rechten zu sehen. Wir spielten ihr jedes Mal Theater vor, waren sauber, wenn auch ärmlich gekleidet, Papa brachte uns Essen und abends waren wir in unseren Betten. Die Abstände der Behördenbesuche wurden immer kürzer. Zu diesem Zeitpunkt wurden meine beiden jüngeren Brüder bereits in das »Kinderheim Heilig Kreuz« in Stapelfeld bei den Thuiner Ordensschwestern untergebracht. Fräulein Stärk hatte eine Zwangsunterbringung wegen Vernachlässigung der Kinder angeordnet. Uns beiden, meinen Bruder Hans und mich hatte man meinem Vater gelassen – anscheinend wurde ihm zugetraut, dass er seinen Alltag wegen der Kinder vielleicht doch noch in den Griff bekommt.

    Mein Vater hatte gute Freunde, die ihm auch sicher zur Seite standen. Ein besonderer Freund war Otto Kühn. Er hatte seine Frau Emma und zwei Töchter im Teenageralter. Das Besondere an der Familie Kühn war, dass sie eine Kneipe in Cloppenburg hatten.

    Nun war es ja früher nicht unüblich, nach der Arbeit noch einmal ums Eck zu gehen und mit Freunden ein Bier zum Feierabend zu trinken. Gerade bei Handwerkern vom Bau war das gang und gäbe. Doch hier begann dann die Problematik, die mein Vater bis zu seinem Tod begleitete. Aus den ersten Entspannungsbieren bei »Onkel Otto« wurden jeden Abend mehr und mehr »Trostbiere«. Wenn das Geld knapp wurde oder ganz ausblieb, konnte »angeschrieben werden«. Onkel Otto war da nicht so kleinlich.

    Mein Bruder Hans und ich waren auf diesen Zechtouren immer dabei. Im Großen und Ganzen fühlte ich mich wohl bei den Kühns.

    Wir wollten immer in Papas Nähe sein und wurden bis dahin nie allein zu Hause gelassen. An diesen Abenden erlebten wir komplettes Familienleben bei Familie Kühn, der wir Kinder leidtaten. Sie verwöhnten uns und wir spürten, dass Papas Stimmung abends nach ein paar Bier immer besser wurde und er nicht nur traurig war. Er konnte gut singen, das war noch aus den Zeiten, als er bei der Marine war. Mein Vater war dass, was man heute eine »Stimmungskanone« nannte. Er konnte an guten Abenden die ganze Kneipe mit seiner Stimmung anstecken. Die ersten Wochen und Monate genossen mein Bruder und ich die täglichen Ausflüge in die Kneipe. Aber immer häufiger folgten bald auf die schönen Abende gewaltige Abstürze. Unser Vater war schon bald jeden Abend »sternhagelblau«.

    Wenn ich meine Gedanken so weit zurückverfolge, sehe ich uns, meinen Vater und ein Fahrrad. Dieses Fahrrad hatte einen Gepäckträger mit Fußstützen und vorne an der Lenkstange ein geflochtenes Körbchen, dies war mein Platz. Molly, unser kleiner weißer Spitz, fuhr immer mit mir im Körbchen. Hinten saß mein Bruder. So fuhren wir jeden Abend los nach »Kühns«. Der Hinweg klappte in der Regel ganz gut, aber der Rückweg mit den vielen Bieren und Schnaps intus, war meist eine »Höllenfahrt«.

    Ich erinnere mich genau daran, dass so manche Fahrt buchstäblich im Graben endete. Wir Kinder trugen selbstverständlich leichte Verletzungen davon und das fiel natürlich auch anderen auf. Doch noch meldete niemand etwas den Behörden. Ich hatte immer Angst vor diesen nächtlichen Fahrten und wollte nicht mehr in mein Körbchen einsteigen. Von diesem Zeitpunkt an fuhren Papa und Hans abends ohne mich los.

    Ich musste allein in der Baracke bleiben und da weiß ich nicht mehr, was schlimmer war, die furchtbaren Nachtfahrten mit dem total betrunkenen Papa oder das Alleinsein in dem abgelegenen Haus im Dunklen. Außerdem war es doch immer so lustig bei »Kühns«. Wir zwei Kinder wurden von allen Gästen in der Gastwirtschaft verwöhnt, es gab Schokolade und Brause. Um Papas Tresenplatz war immer beste Stimmung. Solche Gäste hatte der Wirt gerne – aber immer mehr zog er meinen Vater in die Abhängigkeit vom Alkohol. Die nächtlichen Heimfahrten wurden immer gefährlicher. Es dauerte daher nicht lange, bis »Fräulein Stärk« unsere Schrammen, Beulen und blauen Flecke entdeckte. Plötzlich kippte die gute Stimmung um. Es wurden Nachforschungen angestellt und die Menschen, die unserem Vater

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1