Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

Treibholz
Treibholz
Treibholz
eBook831 Seiten12 Stunden

Treibholz

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

Dieses Buch beschreibt mein Leben von 1954 - 1991.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum3. Mai 2019
ISBN9783748275862
Treibholz

Mehr von Rainer Kintzel lesen

Ähnlich wie Treibholz

Titel in dieser Serie (2)

Mehr anzeigen

Ähnliche E-Books

Biografie & Memoiren für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für Treibholz

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    Treibholz - Rainer Kintzel

    Der Anstoß

    Weihnachten 2010, Zeit für die Familie. Eine wahre Bilderbuch-Weihnacht, mit dreißig Zentimetern Schnee. Es schneit noch immer leicht, am Hauseingang flackert die Kerze, hinten auf dem Grundstück ein Wispern und Raunen. Auf der einen Seite der Weihnachtsmann beladen mit Geschenken und einem gütigen Lächeln im Gesicht, auf der anderen Seite der Weihnachtsmann mit der Rute in der Hand und einem diabolischen Grinsen. Kampf und Einheit der Gegensätze oder so ähnlich, was natürlich nicht stimmt, aber durchaus so sein könnte. Eben Kinderträume, uralte Geschichten, Tradition. Ist es nun der erste oder zweite Feiertag, egal welcher von beiden, die Familie trifft sich. Meine Familie – das sind die große Yvonne, meine Frau, dann Jeanina, die älteste Tochter, gefolgt von Nico, meinen ältesten Sohn. Weiterhin Nico der jüngere (im Folgenden heißt es immer Nico groß und Nico klein), Nadine als Tochter Nummer zwo, André, der Sohn Nummer drei, gefolgt von den Zwillingen Yvonne (auch Schnecke genannt) und (klein) Rainer, dem Maße nach jedoch der größte. Ich, der Vater, heiße Rainer Kintzel, deswegen also klein Rainer. Mit den Zwillingen haben meine Frau und ich uns selbst ein Denkmal gesetzt, zumindest in Form der Namen. Wie es bei Familienfeiern so zugeht, man erzählt, sitzt gemütlich zusammen, trinkt ein Schlückchen, albert und lacht. Geschichten bahnen sich ihren Weg, Vergangenes wird wachgerufen, Dinge zitiert, über das Leben philosophiert. Zur späten Stunde erzähle ich aus meinem Leben, durchaus auch Sachen, die ich früher nicht erzählt hätte, aber zu mir gehören. Irgendwann kamen klein Rainer und André mit dem Vorschlag: „Schreib doch ein Buch über dein Leben. „Gut, das hatte ich ohnehin mal vor, sagte ich und tat trotzdem nichts. Später diskutierte ich mit groß Nico darüber, und er meinte: „Mach es doch, erzähle dein Leben und damit das Leben derer, die um dich sind, die um dich waren." Weihnachten, Familie, Wunsch der Kinder, dass ich meine Geschichte schreiben soll, also über mein Leben.

    Von Bertolt Brecht, aus dem Buch der Aufenthalt von Hermann Kant-Seite 6-Rütten-Loening Berlin 1977

    So bildet sich der Mensch

    Indem er ja sagt, indem er nein sagt

    Indem er schlägt

    indem er geschlagen wird

    Indem er sich hier gesellt

    indem er sich dort gesellt

    So bildet sich der Mensch,

    indem er sich ändert

    Und so entsteht sein Bild in uns

    Indem er uns gleicht und

    indem er uns nicht gleicht

    Die Jahre 1954 – 1965

    Das Holz wird in den Fluss geworfen.

    Geboren am 20. Mai 1954 in Woltersdorf in einem christlichen Krankenhaus an der Schleuse in der Nähe von Rüdersdorf. Diesen Vorgang verdanke ich meinen Eltern Ursula und Helmut Kintzel. Was sie wohl bewegte, mich auf diesen Planeten zu setzen, habe ich nie hinterfragt, war ja auch ihre Sache. Damals, soweit ich es weiß und aus den Erzählungen meiner Eltern und meiner Oma erfuhr, wohnten wir noch in Rüdersdorf. An meine Oma kann ich mich sehr gut erinnern, an meinen Opa – den ersten, denn es folgten noch zwei – gar nicht. Erinnerungen an diese Zeit sind nicht mehr auffindbar in meinem Kopf. Das Erste, was in meiner Gedankenwelt aufkreuzt, sind Bilder von dem Wochenheim in Eichwalde, in welchem ich war. An meinen Vater, der mich dorthin brachte, mal mit meiner Schwester Ute, mal ohne. Ich kann die Augen schließen, sehe im Vorgarten vom Heim ein altes Segelschiff, ein ausgeschlachtetes Auto. Erinnerungen an große Schlafsäle, Milchreis (damit kann man mich heute jagen), Bratkartoffeln (die ich noch heute liebe), ein Essensraum mit großen Tischen. Ich sehe eine Grube, meine Neugier trieb mich, da hineinzuschauen, ich fiel, ein Rettungswagen, eine aufgeschlagene Stirn, die Grube sollte der Buddelkasten werden. Erstes Abenteuer, kleiner Held, ich drei Jahre alt, so in dem Dreh, plus minus ein paar Tage. Ein großer Garten, Obstbäume, ein herrliches Weinspalier, ich mittendrin beim Naschen dieser lieblichen Früchte. Ein Name aus dieser Zeit hat sich eingeprägt, ich habe ihn bis heute nicht vergessen: Frau Küster. Sie muss eine Erzieherin gewesen sein, die auch in diesem Haus wohnte. Warum gerade dieser Name oder besser gesagt diese Frau, die sich mir eingeprägt hat? Meine Mutter arbeitete zu dieser Zeit als Staatsanwalt bei der Generalstaatsanwaltschaft der DDR, mein Vater studierte, schrieb gerade seine Doktorarbeit auf dem Gebiet der Philosophie. Zusammen mit meinem älteren Bruder Ralf und meiner jüngeren Schwester Ute waren wir drei Kinder. Das dürfte für meine Eltern ziemlich anstrengend gewesen sein. Deshalb, so vermute ich jedenfalls, war ich auch öfters über das Wochenende in Eichwalde, eben bei jener Frau Küster. Die Bilder dazu sind romantisch verschwommen, eine Dachwohnung, ein Schaukelpferd, eine Dame mit weißen Haaren – Realität? Keine Ahnung, dies sind die Bilder, die mir geblieben, ebenso wie die Tatsache, dass ich dafür, weil ich so lieb war, ein Plasteauto, gefüllt mit Bonbons, von ihr bekommen habe. Das mit dem Lieb sein änderte sich im Laufe der Zeit, vielleicht war es für den Anfang zu viel des Guten.

    Kurzer Einschnitt, erst wollte ich recherchieren, was zu welcher Zeit passierte, wie sich meine Eltern, meine Geschwister daran erinnern. Ich habe es aufgegeben oder besser gesagt, ich lass es sein und schreibe meine Geschichte so, wie sie in meinen Erinnerungen sich manifestiert hat. Also meine subjektive Widerspiegelung der Ereignisse mit den Augen eines Kindes, soweit es mir noch gegeben ist, mit den Augen eines Jugendlichen und eines nie erwachsen Gewordenen. Anspruch auf Richtigkeit, Objektivität gibt es nicht, geht auch gar nicht, nicht mal im realen Leben.

    Wenn zehn verschiedene Menschen ein gleiches Ding betrachten und sich darüber äußern, sind die Meinungen schon so verschieden, dass man sich fragt, ja, was fragt man sich eigentlich, aber egal. Ich bin jetzt 64 Jahre jung oder alt, sucht aus, was euch gefällt, kann die Augen schließen, Vergangenes sehen, Erinnerungen wachrufen, meinen Kopf durchforsten nach Ereignissen, und was mir auf dieser Wanderung durch mein Ich begegnet, schreibe ich auf. Ich bin sehr erstaunt, wie aus dem anfänglichen Fluss ein reißender Strom der Erinnerung wurde, muss aufpassen, nicht hinweg gespült zu werden. Dieses Wandern, Schauen von Vergangenem, macht großen Spaß und ähnelt dem Blättern in einem Buch, in dem man immer wieder nachlesen kann.

    Es geht weiter: Unserer Familie ist 1957 nach Altglienicke in den Gerosteig 5 gezogen. Das Haus, ein Zweifamilienhaus (es steht heute noch), wo wir eine Hälfte bewohnten, lag an einer Straße, hinter der sich ein großes Feld erstreckte. An der Straße eine Bushaltestelle, die Bushaltestelle für den Bus. Rechts vom Feld ein Friedhof, ein großer Friedhof, links vom Feld Häuser, Laubenpieper, am Ende des Feldes Westberlin, auf unserer Seite der Teil Berlins, welcher zu DDR gehörte. Dies war für ein Kind vollkommen unwesentlich. Altglienicke 1957, Stadtgrenze zu Potsdam, von uns hundert Meter entfernt auf der Schönefelder Chaussee oder besser gesagt an ihr ein Schild, von der einen Seite lesbar „Willkommen in Potsdam, auf der anderen „Willkommen in Berlin. Hinter diesem Schild gab es Felder, alte Bunker, herrliche Tümpel, Grundstücke bewohnt und unbewohnt, Platz für Abenteuer, Spiele, Höhlen und Fantasien. Ich sehe unser Grundstück vor mir, das Gartentor aus Holz, ein Holzzaun umzäunt das Grundstück, ich öffne das Tor, links stehen die Mülltonnen, rechts Rasen, der von Rosen umrahmt, auf der linken Seite Spalierobst, Birnen, Äpfel verschiedener Sorten, die sehr lecker schmeckten. An dem Haus eine Terrasse mit Steingarten, vor dem Fenster des Arbeitszimmers eine große Eibe. In Gedanken geh ich den Weg zum Eingang des Hauses. Linker Hand eine Schattenmorelle, nicht mein Ding, Süßkirschen waren mir lieber, aber die gab es auf unserem Grundstück leider nicht. Hinter dem Haus eine kleine Rasenfläche, in ihr thronte eine Klopfstange, dahinter je ein Kräuter- und Erdbeerbeet, Stachelbeeren, Johannisbeeren, ein Karnickelstall. Mein Vater war ein Hobbygärtner, das Grundstück glich einer Mini-Kolchose. Es wurde geerntet, frisch gegessen, eingekocht, gemostet. Für ein Kind ziemlich interessant, für die Erwachsenen wohl Schwerstarbeit. Selbst Bohnen, Tomaten, Kartoffeln und Schoten fehlten nicht. Dieses grüne Reich umfasste nicht mehr als sechshundert Quadratmeter und wurde vom Hobbygärtner Helmut Kintzel, also meinen Vater, ordentlich verwaltet. Wir beteiligten uns am Unkraut jäten und der Ernte. Ich habe mich spezialisiert, besser gesagt, hatte mich spezialisiert auf illegales Zwischenkosten. Verbotene Früchte schmecken besonders lecker, womit wir beim Sündenfall wären – schuld ist die Schlange oder doch eher die Gier? Nun gut, was auch immer, es schmeckte. Wir betreten das Haus. Öffnen die Haustür und stehen in einem kleinen Vorraum. Links ging es in den Keller. Eine Glastür führte zum Flur, von da aus ging es rechts zum Arbeitszimmer, das auch als Bibliothek diente nebst einem Telefon. Die nächste Tür rechts führte ins Wohnzimmer, dieses war über eine Schiebetür mit dem Arbeitszimmer verbunden, später wurde diese geschlossen und zugebaut. Dort stand dann im Wohnzimmer unser Esstisch, das aber erst viel später. Vom Wohnzimmer gelangte man durch eine Glastür auf die Terrasse, zurück im Flur ging es geradezu in die Küche, in der ein Tisch mit sechs Stühlen stand, wo unsere Familie die Mahlzeiten zu sich nahm. Hört sich vielleicht etwas gestelzt an, aber man sagt es so. In der Küche hing eine Gastherme, über welche das gesamte Haus mit Warmwasser versorgt wurde. Damals normal für mich, heute aber weiß ich, durchaus nicht alltäglich für die DDR. Neben der Küche links befand sich ein Vorraum mit Schuhregalen und einem Waschbecken, von dort ging es in die Toilette. Wieder zurück zur Glastür, hier führte eine Treppe in das Obergeschoss. Oben angekommen die erste Tür das Kinderzimmer, später das Schlafzimmer meiner Eltern, die zweite Tür das Schlafzimmer meiner Eltern, später das Zimmer von Ralf und mir. Geradeaus noch ein Kinderzimmer, in diesem Zimmer war erst Ralf, später folgten meine Schwestern Ute und Petra. Dann noch links ein Bad mit Badewanne, WC, einer Waschmaschine, dass alles schön gefliest. Für mich als Kind eine Normalität, spätere Vergleiche belehrten mich jedoch eines Besseren. Im Flur des Obergeschosses war eine Deckenluke oder besser gesagt eine Klappe, wenn man diese öffnete, kam eine Holztreppe heruntergerollt. Natürlich sehr spannend für uns, wir haben sie oft benutzt. Der Boden nicht ausgebaut, aber mit einer herrlichen Dachluke für den Schornsteinfeger versehen, für uns als Kinder war das ein wunderbarer Beobachtungsposten. Das Haus selbst gemütlich, groß genug für uns alle, man fühlte sich wohl. Jetzt fehlt noch der Keller, über den Eingangsbereich ging es links hinunter über eine steile Betontreppe. Im ersten Kellerraum standen die Regale mit den eingeweckten Früchten unseres Gartens nebst dem selbst produzierten Most, dies wurde später der Ort meiner Heimsuchungen. Im selben Raum befand sich die Kartoffelhorde, wo man dann für das gesamte Jahr seine Kartoffel einkellerte. Nicht wie heute, dass man sich bei Bedarf die Kartoffeln kiloweise kauft. Die Kartoffeln wurden gekalkt, um ein Keimen zu verhindern. Aus den letzten Kartoffeln der Horde wurden dann immer leckere Kartoffelpuffer gemacht. In diesen Raum, zumindest in der ersten Zeit, wurden in Tongefäßen Gurken eingelegt, leckere Gewürzgurken. Zum nächsten Kellerraum gehörte ein kleiner Vorraum, wo ein Teil der Kohle lagerte und der Holzklotz zum Holzhacken stand, dahinter befand sich der Raum mit dem großen Heizkessel, der das ganze Haus beheizte, im selben Raum lagerte auch der Koks. Als wir noch klein waren, zählte das Heizen zu den Aufgaben meiner Eltern, später wurden wir in diese anfangs noch abenteuerliche Arbeit eingewiesen und haben dann selbst geheizt oder nachgelegt. Der nächste Raum war der Handwerksraum meines Vaters, Bastelstube für die gesamte Familie. Hier wurden im Laufe der Jahre mehr oder weniger kreative Geschenke für Weihnachten oder andere Anlässe gebastelt. Der Keller war also groß, aus grauem Beton und für mich als Kind ziemlich gruselig, besonders wenn das Tageslicht ausfiel und man die Kellerbeleuchtung einschalten musste. Auf Bildern aus dieser Zeit, ich war da vier oder fünf Jahre alt, habe ich noch blonde Haare mit einem Pagenschnitt und sehe aus wie alle Kinder in diesem Alter. Eben niedlich oder so in dieser Richtung. Später färbten sich die Haare dunkel, dass niedlich sein fiel aus. Eigenartigerweise kann ich mich an meine Einschulung gar nicht mehr erinnern, aber ein Foto mit einer gewaltigen Schultüte lässt darauf schließen, dass dieses Ereignis stattgefunden haben muss. Auf dem Foto stehe ich mit der Schultüte im Arm, in kurzen Lederhosen neben meinen Eltern. Ich war jetzt in der ersten Klasse, in dieser Klasse oder besser gesagt, zu dieser Zeit fand mein erstes Abenteuer statt. Wie es dazu kam, was das Motiv unseres Handelns war, ist mir heute vollkommen unklar. Ich schiebe es einfach mal auf meinen älteren Bruder Ralf, der zu dieser Zeit in der dritten Klasse gewesen sein muss.

    Es ist der erste Fluchtversuch aus heimischen Gefilden, Abenteuerlust, Sehnsucht nach Unbekanntem, Ausbrechen aus dem Alltag, keine Ahnung, was zwei kleine Menschen zu solch einer Handlung bewegte. Zusammen mit meinem großen Bruder oder mein großer Bruder mit mir, jedenfalls packten wir unsere Sachen. Es können nicht viele gewesen sein, ein paar Nahrungsmittel, eine Decke, ich glaube auch, zwei Regenmäntel. Wir wollten uns auf den Weg nach Königs Wusterhausen machen. Königs Wusterhausen war ein beliebtes Ausflugsziel unserer Familie, um dort zu baden, die Stelle, an der wir badeten, nannten wir „Spitze". Bevor wir uns aufmachten, meinten wir unsere Spuren verwischen zu müssen, gossen Bratensoße auf den Fußboden im Flur, verteilten Eier auf dem Fußboden, die beim Aufschlagen zerplatzten. Anschließend gingen wir los. Da es ein Montag war, die Sauce stammte vom Sonntagsbraten, hatten wir aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Schule geschwänzt. Also auf nach KW, bis zum Ende unserer Tage, bis zum Ende der Welt. Mit dem Bus zur S-Bahn, mit der S-Bahn nach KW, danach zu Fuß zur Spitze. Endlich waren Keule und ich (Keule ist das Pseudonym für meinen Bruder) an der Spitze angekommen und schlugen dort unser Lager auf. Die Spitze – eine Mini-Halbinsel, links Schleuse und Kanal, der in die Dame oder einen See mündet, rechtsseitig eine Bucht zum Baden. Aus unseren Regenmänteln bauten wir eine Art Zelt, zumindest sollte dieses so aussehen. Das Wetter von Anfang an mies, wurde und wurde nicht besser, die Nahrungsmittel waren aufgebraucht, die Stimmung erreichte ihren Tiefpunkt. Rückzug war angesagt, nur wer wann diesen Vorschlag unterbreitete, keine Ahnung. Ich gehe mal davon aus, dass es Keule war. Auf dem Rückzug nach Hause kam uns ein EMW entgegen, der BMW der DDR, dieser fuhr in eine Pfütze. Der Wagen bremste, Wasser spritzte. Wir machten uns anfangs noch lustig, weil das Auto in einer Pfütze hielt, die Tür ging auf, unser Vater stieg aus, in Uniform. Das Ganze fanden wir gar nicht mehr komisch, mein Vater ebenfalls nicht. Er hielt die Tür auf, wir stiegen wortlos ein, jeder bei sich, jeder in Gedanken, was da kommen mag. Wir wurden nach Hause gefahren, zu Hause Fragen nach dem Warum, dem Wieso, betretendes Schweigen, den Blick nach unten gerichtet, der Ältere in der Pflicht zu antworten. Ich, der Zuhörer, ging am nächsten Tag zur Schule, Ralf hingegen musste daheimbleiben, zur Beseitigung der Reste unserer Tarnung. Ich weiß noch wie heute, dass mich mein Lehrer fragte, was wir uns bei dieser Aktion gedacht haben. Nur diese Frage konnte ich damals genauso wie heute nicht beantworten, ich weiß es nicht. Es war das Jahr 1961, in diesem Jahr sah ich Panzer auf dem Feld auffahren, ich fand das äußerst spannend. Das war doch mal was, echte Panzer in Sichtweite, schätze mal, dass meine Eltern versucht haben, dieses Ereignis zu erklären. Ich glaube nicht, dass ich es damals verstand, was meine Eltern mir erklärt haben. Eher gehe ich davon aus, dass sie versucht haben, mir zu erklären, was der Grund für diese Aktion war, dass ab jetzt der Feind, also der Klassenfeind auf der anderen Seite der Grenze lebt. Als Kind nahm man zur Kenntnis, wo man wohnte, ohne sich des Umfeldes bewusst zu sein, das kam erst später, bei manchen gar nicht, es war eben Selbstverständlichkeit. Heute kann man sagen, klein Wandlitz vor dem wirklichen. Damals wohnten in nächster Nähe vom Gerosteig Generalleutnant Tunnert, Chef vom Strafvollzug des MDI der DDR. Der Minister für Kultur, der ums Leben kam, der Minister für Gesundheit oder besser gesagt Minister des Gesundheitswesens, der Chef vom VP-Krankenhaus. Etwas weiter entfernt der Chef der Frösi, alle möglichen Funktionäre des Fernsehens der DDR, der Post und viele Mitarbeiter der VP.

    Man lebte quasi in diesem Umfeld, an der Schule waren die Kinder dieser Funktionäre in den Klassen verteilt. So betrachtet schien man davon auszugehen, dass alle ohne Probleme miteinander leben könnten, ohne dass die Unterschiede in der sozialen Ausrichtung zu Konflikten führten. Der Name Wilkendorf ist mir noch besonders in Erinnerung. In den ersten Schuljahren war ich mit Reiner W. befreundet, man traf sich, ging zu Geburtstagen, war ja auch in derselben Klasse, seine Frühstücksstullen schmeckten besser als die eigenen! Also tauschten wir sie, er bekam meine, ich seine. Bei den Geburtstagsfeiern bei Reiner machte sein Vater mit uns Spiele im Garten, man konnte Kleinigkeiten gewinnen – es waren nie Massen versammelt, einfach gemütlich, dazwischen sein jüngerer Bruder Jörg. Es gab bei uns zu Hause die Frösi, ich las sie sehr interessiert, sie sprach die Interessen von Kindern bis hin zur Jugend an. Alles in allem ein guter Mix aus Abenteuern mit Wissen gepaart, Atomino war so eine Figur. Selbst damals gab es schon in dieser Zeitschrift 3D-Brillen, aus heutiger Sicht fast revolutionär, sie ist dann irgendwann aus meinen Leben verschwunden. Soweit ich weiß, war der Vater von Reiner Chef der Frösi. Mir ist noch im Gedächtnis haften geblieben, dass Reiners Vater irgendwann Probleme bekam, weil er eine andere Meinung vertrat als von ihm erwartet. Aber das sind Dinge, die einen im jungen Alter nur streifen, und da man sie kaum versteht, vergisst man sie unter all den Eindrücken, die das Leben einem so vor die Füße fallen lässt. Es ist ja auch die Phase, wo jeder – gleich ob Elternhaus, Schule, und hier die Pioniere, deren Mitglied man selbstverständlich war – einen politisch formen wollte, sollte im Sinne der Gesellschaft, in welcher man lebt. Aus heutiger Sicht kann das nur aus einem im Nachbeten vorgesetzten Wissen bestehen, wie auch anders – denn hätte man mich in dieser Zeit dazu erzogen, einen Nachttopf anzubeten, hätte ich es wohlgetan. Wäre mir zwar heute peinlich, aber nicht zu ändern. Ich bin also durch mein Elternhaus, die Schule auf den Sozialismus konditioniert worden, zu dem ich heute noch stehe, aber in meiner Lesart und mit meinen Erfahrungen nicht wie damals in Leitsätzen, nachplappern, ohne zu begreifen, schon sehr früh Kritik ausschließend.

    Es war die Zeit des Spielens, Rumstromerns, ordentlich Blödsinn zu machen. Platz dazu gab es in Hülle und Fülle, schöne Tümpel, wo man träumte, als Pirat Schiffe zu kapern, versunkene Schätze vermutete, Frösche beobachtete und hörte, andere fingen sie, um sie dann aufzublasen, bis sie platzten. Man konnte auf den Müllhalden in unserer Gegend noch alles finden: alte Münzen, Bücher, Orden, Schmuck, Postkarten, Möbelstücke, Uhren, der ganze Nazischeiß, Wehrmachtpässe, Naziorden bis hin zu Bajonetten und Stahlhelmen. Das war das eine – das andere war unser Indianerstamm, die Cowboys hatten nicht unsere Sympathie. Unser Stamm bestand aus drei bis vier Kriegern, die den Stamm aus dem Harrosteig bekämpften. Pfeile, die aus Goldruten gebaut, Bogen aus Weidenästen, gespannt mit Angelsehne, gehörten nebst Tomahawk und Plastemesser zur Ausrüstung. Die Indianerhaube durfte natürlich nicht fehlen, ich trug eine Häuptlingshaube. Die Friedenspfeife selbst gebaut, sie bestand aus einer ausgehöhlten Kastanie mit Strohhalm oder Schilfrohr, diese wurde mit Pfefferminztee gefüllt, das war wohl die Entdeckung der Menthol Zigarette. Bei Mangel einer Friedenspfeife wurde dann aus Buntpapier und Laub eine Zigarette gedreht, natürlich eine Friedenszigarette, das Ding jedoch hatte eine berauschende Wirkung.

    Ich vermute mal, der Klebstoff vom Buntpapier war hier der Beschleuniger und ganz sicher war das die Erfindung des Joints in der DDR, ohne Anmeldung beim Patentamt, versteht sich. Man besaß aber auch Glasbucker, ein Taschenmesser, allen möglichen Müll bis hin zu Streichhölzern, die ganz wichtig. Wir machten Gefangene oder wurden gefangen, dabei setzten beide Seiten Brenneseln zum Traktieren der nackten Beine ein, oder sollte das gar eine Frühform zur Bekämpfung von Rheuma durch unseren Medizinmann sein? Wohl weniger. Trotz Pfeil und Bogen ist uns zum Glück nie schlimmeres passiert. Man hat sich draußen getroffen, in der Schule verabredet, ist zu den Kumpels gelaufen oder mit dem Fahrrad hingefahren, geklingelt, los ging es. Nach Oberspree oder Grünau zum Baden gefahren, später an die Bammelecke. Die Straßen so gut wie leer, der Mangel an Autos sorgte dafür, und wir hatten Platz zum Fahrrad fahren. Genau das würde der heutigen Welt auch guttun. Denn manchmal ist Mangel der perfekte Umweltschutz. Jedoch zu spät, die Welt fährt sich in die Klimakatastrophe, dafür ist es saubequem. Zu dieser Zeit ging man noch von Montag bis Sonnabend zur Schule, so wie die Erwachsenen arbeiteten. Ich ging an die 14. Oberschule von Altglienicke, später hieß sie POS. Es gab Morgenappelle zum Schuljahresanfang, zu Feiertagen oder zu wichtigen Anlässen, man trug Pionierbekleidung, die älteren FDJ-Hemd, einige weder noch. Nachdem die Vertreter der Klassen ihre Meldung abgegeben hatten, gaben der Pionierleiter und der Freundschaftsratsvorsitzende, dem Direktor die Anwesenheit der versammelten Schüler bekannt. Der Direktor hielt eine Rede, es wurden Sieger geehrt, Lobe verteilt, öffentliche Tadel ausgesprochen, Ziele verkündet, alles zum Wohle von Partei und Arbeiterklasse nebst der Verbündeten. Sehr militärisch, aber damals auch ziemlich aufregend, zumindest am Anfang, später dank der ständigen Wiederholung zu ertragender Langeweile, an der man dennoch keinen Schaden nahm. In den Pausen auf dem Schulhof bewegte sich alles im Kreisverkehr, es gab eine Hofaufsicht, die aber auch nicht überall sein konnte, und so geschah trotz Kontrolle genügend Blödsinn. In einer dieser Pausen machte ich mit Jörg S. eine Steinschlacht. Jörg S. unten, ich oben am Ende einer großen Treppe. Diese Treppe führte zum Hort, war etwa zehn bis fünfzehn Meter lang. Wir sammelten uns Steine in verschiedenen Größen, warfen die Steine so, dass sie so kurz wie möglich vor dem anderen aufschlugen. Der Kick bestand darin, so spät wie möglich auszuweichen, wenn man sah, dass sie einen fast trafen. Das versuchte ich auch, allerdings zu spät, er traf mich an der rechten Augenbraue. Ich sah kurz schwarz, dann lief das Blut. Jörg kam hoch-gerannt und wollte sich entschuldigen, aber das brauchte er nicht, denn es war mein Fehler bei unserer gemeinsamen Aktion. Also ab zum Arzt, die Wunde wurde genäht, dort habe ich heute noch eine fühlbare Narbe. Wir beide bekamen einen mündlichen Tadel, der allerdings nicht im Zeugnis stand. Aber wir waren für kurze Zeit die Helden, hätte ja auch die Schlacht im Teutoburger Wald sein können oder so ähnlich. Nach dem Unterricht wurde man im Hort betreut, machte dort unter Aufsicht seine Schularbeiten, wurde beschäftigt, konnte spielen. Im jungen Alter, in den ersten Klassen hielt man noch seinen Mittagsschlaf, später fiel dieser aus. Schließlich wurde man älter, und dann galt es als uncool, Mittagsschlaf zu machen. Die unteren Klassen wurden ohnehin von den höheren mitleidig betrachtet, später tat man dasselbe. Die 14. Oberschule, ein schöner alter Bau, lag an der Straße, die ins Dorf führte, so nannte man damals den Kern in Altglienicke. Kirche, Sparkasse, Freiwillige Feuerwehr, LPG Büro, Stumpfe Ecke (eine Eckkneipe) und das Kino bildeten den Dorfkern.

    Gegenüber der Schule befand sich der legendäre Schulberg. Hier wurde im Winter gerodelt und geschlittert – natürlich nur von den Kleinen – denn dieser Berg hatte nur einen Auslauf von wenigen Metern, aber wir waren klein und der Berg riesengroß. Hinter diesem Schulberg gab es eine Straße, wo man vom Dorf hochkam, die andere, welche runter führte, war genauso eine Einbahnstraße wie die erste. Abseits dieser Straße unser Sportplatz mit Umkleideraum und Dusche. Einer Kegelbahn für Erwachsene, einer so genannten Sportkneipe, meist auch Vereinskneipe eines Fußballvereins. Einen solchen gab es natürlich auch in Altglienicke, obendrein einen großen Fußballplatz, um diesen zu umrunden, musste man eine Strecke von achthundert Metern auf der Schotterbahn zurücklegen. Eine Anlage für Hochsprung, Weitsprung und Kugelstoßanlage – das alles in NAW (Nationales Aufbauwerk), sprich unter Einsatz von Freiwilligen in ihrer Freizeit, unentgeltlich aufgebaut. Stand draußen ganz groß dran, waren alle Beteiligten stolz darauf – konnten sie auch. Einen hauptamtlichen Platzwart gab es, der alles pflegte. Nicht zu vergessen auf der linken Seite eine Tribüne mit Holzsitzen. Für mich unvergesslich, denn wir mussten zwischen den Holzbänken, wo sich die Steintreppen befanden, hoch und runter sprinten, das hieß dann Treppentraining, sehr effizient und unglaublich anstrengend. Über dem Sportplatz auf einer Anhöhe, war noch der Bolzplatz für den Schulfußball, um den Rasen des Vereinsfußballplatzes zu schonen. Durchaus verständlich, nur war der Bolzplatz die reinste Sandwüste. Egal, nur so wird man Spartaner oder erfreut den Sportlehrer, der lächelnd die Sache passiv beobachtete. Heute würde ich sagen: Konditionierung der Ausdauer mit einem Hauch von Hobbysadismus. Zurück zur Schule, Eingang vorne mit schöner Steintreppe und die Tür mit Oberlicht aus Bleiglas sie wurde später leider wegen Baufälligkeit geschlossen und ganz später nach Sanierung wieder geöffnet. Hier kam man rein, es ging dann über die verschiedenen Etagen in die Klassen und Fachräume. Ganz oben eine schöne alte Aula mit Deckenbemalung, oder war das eine Holztäfelung? Dazu eine Galerie für Gäste. In der Aula eine große Bühne mit rotem Samtvorhang. Dort in der Aula fanden die Zeugnisausgaben für die zehnten Klassen statt, die Einschulungsfeier mit Kulturprogramm, Schülerkonzerte und was weiß ich nicht alles. Hinter der Bühne führte eine Treppe auf den Boden, hier standen alte Schulmöbel, Karten, Gerippe, Anschauungsmaterial, ausgestopfte Tiere, eine wahre Fundgrube (aus heutiger Sicht eine Schatzsammlung). Es ging noch eine Holztreppe höher zu dem Turm, der auf dem Giebel der Schule thronte. Dieser sah aus wie ein Sechseck mit Dach und wurde von der Sowjetarmee als Beobachtungsposten von Westberlin benutzt, also Tag und Nacht besetzt, der Zutritt verboten. Trotzdem schafften wir es einige Male, da oben aufzukreuzen. Wurden auch nicht verjagt und konnten den herrlichen, bei schönem Wetter wirklich weiten Ausblick genießen. Die Soldaten verschwanden, als die Grenze mit Mauer und Stacheldraht fertig war. Die Schulklos entsprachen dem Zeitgeist, zumindest jene der Jungs, andere habe ich nicht aufgesucht. Schwarz geteerte Pinkelrinne, wo man Körper an Körper stand, in Kopfhöhe Klappfenster, diese wurden Objekte des sportlichen Massenkampfes – wer schafftes, in selbige hoch zu pinkeln. Wahrlich olympiaverdächtig. Die Boxen für das andere Geschäft waren so gebaut, dass man erkennen konnte, welche besetzt waren – und zwar an den unten sichtbaren Füßen. Das Klo stank, wie solche Klos eben stanken, zumindest so lange, bis der Hausmeister grinsend davorstand und uns viel Spaß wünschte. Das waren dann diese Tage, wo er, womit auch immer, diese Kultureinrichtung gereinigt hatte.

    Damals erweckte es den Eindruck, dass dort Tränengas eingesetzt wurde, also keine Tage für sportliche Wettkämpfe im Klo, man kam heulend raus. Die nächste Einrichtung mit bleibendem Eindruck war der Essensraum fürs Mittagessen, alle anderen Speisen wurden im Klassenraum konsumiert. Außer dem zuvor erwähnten Eingang gab es noch einen an der Rückseite der Schule, dieser wurde benutzt, um zur Hofpause und zum Mittagessen zu gehen. Bevor man rausging, passierte man noch die Glas Loge des Hausmeisterpaares und ihres Hundes Pullermann (so hieß der wirklich, weil er überallhin pinkelte), einem Deutschen Wachtel-Jagdhund. Draußen angekommen, ging es links in den Raum der Schulspeisung, so hieß das nämlich. Man betrat diesen Raum, der alles andere als lecker roch und dessen Fußboden fettig von den Phrasen des Essens war. Natürlich hatte sich zuvor eine Schlange gebildet. Man stellte sich an, kam zur Luke der Essensausgabe bekam dann dort sein Essen aus grünen Armeethermoforen zugeteilt. Da das Essen schon eine Weile freudig in diesen Behältern zugebracht hatte, waren die Kartoffeln meist matschig, lecker gebratene Schnitzel nicht mehr knusprig, den größten Teil der dort angebotenen Leckerbissen konnte man genießen. Mit einer Ausnahme: „Tote Oma – Blutwurst mit Sauerkraut und Kartoffeln. Igitt, igitt, die Blutwurst sah aus wie ein frisch geschissener Kuhfladen. Zum Erlangen der Speisen benötigte man Essanmerken, diese konnte man sich am Ende eines Monats für den nächsten Monat im Voraus kaufen. Wahlessen insofern, dass man wählen konnte, es zu essen oder es auch sein zu lassen. Verhungern musste niemand, zumal man die berühmte Schulmilch bekam, die ja eigentlich mehr Nahrungsmittel als Getränk ist. Ja, das zur Schule, die ich immerhin elf Jahre besuchte, der Weg dorthin vom Gerosteig 5 zur Schule blieb elf Jahre lang der gleiche. Von daheim ging es los meist zu Fuß, so konnte man Fahrgeld sparen. Vorbei an Ein- und Zweifamilienhäusern, rechts immer die Grenze im Blickfeld, dort standen ja auch die Schilder „Grenzgebiet: Betreten ohne Passierschein verboten, und dies in drei Sprachen. Am Anfang Stacheldrahtzaun, Hunde mit Halsband, an dem Halsband ein Drahtseil, das Drahtseil an einer Rolle, die wiederum an einem Drahtseil lief, welches über ein begrenztes Territorium gespannt war, hier liefen die Hunde auf und ab. Davor Stolperdrähte, die bei Berührung Leuchtraketen aufstiegen ließen. Da wir noch viele Felder hatten und Meister Lampe noch aktiv im Einsatz war und nicht nur zu Ostern, kam es zum Öfteren Abschuss der Leuchtraketen, was immer ganz gut aussah, da sie an einem Fallschirm langsam zur Erde segelten. Gerade diese Fallschirme waren Objekte unserer Begierde, denn man konnte an ihnen Figuren befestigen, um sie daraufhin aus dem Fenster zu werfen. So glitten sie dann schön langsam in Richtung Boden. Später kamen noch die Türme mit ihren Posten, der offene Trabbi der Grenzer gehörte zur Normalität. Hinter der Grenze im Westberliner Teil, auf einem Müllberg, stand eine riesige Leuchtreklame, auf der man Nachrichten lesen konnte – andere als jene, wie man sie kannte. Nachts lief dann laut Musik, EFN hieß der Sender, auch hier Musik, die man im DDR-Radio nicht hörte. Irgendwann setzte die Gegenseite, die DDR, Generatoren ein zur Störung des Sendeverkehrs. Ansonsten Felder, verwahrloste Gärten mit wunderbaren Süßkirschbäumen, die zur Erntezeit riefen: „Schüttle mich und rüttle mich!" Was wir auch gerne taten, am besten gleich mit einem Ast, um sie als Wegzehrung aufzumampfen. Ich bevorzugte die Glaskirschen – hell, groß, lecker.

    Später habe ich nach ihnen gesucht, mich gewundert, warum die Dinger so klein waren. Zumindest bis mir irgendwann ein Licht aufging, dass die Kirschen nicht klein, sondern ich groß geworden war und der Bezugspunkt (nach Einstein benötigt man immer einen Bezugspunkt oder ein Bezugssystem, anhand dessen man Dinge erkennen und vergleichen kann) sich somit geändert hatte. Also mein Blickfeld aus einer anderen Perspektive, wow, so einfach ist das. Groß und Klein, Gegensätze, die sich bedingen, aber nicht ausschließen. Die Schule in den ersten Jahren hat mich kaum beeindruckt, es sind auch wenige Eindrücke aus dieser Zeit vorhanden. Die Zeugnisse waren noch gut, der Aufwand dafür hielt sich in Grenzen, die Eltern überwachten diesen Prozess, man spielte noch widerstandslos mit. Wie auch anders. Namen sind geblieben: Jörg S., Jürgen V., Viktor L., Jürgen K., Evamaria P., Rainer W., Stefan L., Klaus P. Dann begann in mir das Abweichen, Desinteresse, Tagträumen, nicht anwesend sein, obwohl körperlich präsent, Die Leistungen ließen nach, Viktors Mutter gab mir Nachhilfe in Rechtschreibung, gab sich große Mühe. Nur der liebe Rainer wollte nicht. Jede Mühe ist umsonst, wenn das Objekt der Bemühung nicht für selbige zu erwecken ist. Nicht etwa aus Boshaftigkeit, nicht aus Faulheit, sondern ganz einfach aus dem Unverständnis heraus, wozu, wofür, es gab doch weit wichtigeres zu durchdenken oder zu träumen. Der Druck erhöhte sich – Schule, ewiges Pauken zu Hause, Totalverweigerung des Delinquenten, Ausweichen, das Erfinden von Lügen. Dazu eine wachsende Unlust, ständig irgendetwas zu tun, weil es andere fordern, obwohl man selbst all dies nicht nachvollziehen kann. Es folgt der nicht auszubleibende Vergleich zu den Geschwistern Ralf und Ute – warum funktioniert es bei den beiden und bei Rainer nicht? All das öffentlich kommuniziert, damit wurde der Betrachtete stigmatisiert, er ist nicht wie seine Geschwister –das wiederum warf die Frage auf? warum nicht. Man wird auffällig, viel zu lange ins Bett genässt, schon wieder abweichen von der Norm. Als ob es einem 6- bis 10-jährigen Spaß macht, ins Bett zu pinkeln. Am Ende hat mich die Tatsache so belastet, dass ich früh, wenn ich wach wurde und das Bett wieder mal nass war (und das hat mich wirklich genervt), mir heimlich ein Bügeleisen besorgte und es trockenbügelte – ein Fleck blieb trotzdem, die Enttarnung also nur eine Frage der Zeit. Die Tagträume produzierten Vergesslichkeit, mal fehlte die Federtasche, verschwand der Füller, meine Sportbeutel waren ständig auf der Flucht, auf der Flucht vor mir. Meine Eltern reagierten dank der Verlustquote oft verzweifelt, das Zeug kostete schließlich auch Geld. Das Geld meiner Eltern – und so entstand die Frage nach der Ursache. Mutwillig oder was sonst war es, dass es dort bei dem lieben Rainer nicht so lief wie geplant. Eines weiß ich hundertprozentig damals wie heute, ich hatte keinen Plan, alles ja, aber den nicht. Die Matrix hatte mein Programm so gestaltet, der bewusst gesetzte Gegensatz, dass alles ohne mein Wissen. Wir gingen alle auf dieselbe Schule, Keule zwei oder drei Klassen höher, Ute eine tiefer. Außerhalb der Schule ging ich zum Leichtathletik-Training, Kurzstrecke, Mittelstrecke, mal ein bisschen Hochsprung, Training in Adlershof, entweder im Wachregiment „Feliks Dzierzynski" oder im Birkenwäldchen in Adlershof, das alles für Dynamo Berlin. Nahm an vielen Wettkämpfen teil, um zu sehen, wie gut die anderen sind, wie erfolgreich, wie erfolglos ich bin, habe es überlebt. Mein Motiv durchzuhalten – die Currybude in Adlershof. Magnet für mich, die am besten schmeckenden Würste des Universums. Deckungsgleich dazu gab es noch eine Bude am Bahnhof Grünau.

    Die Dinger waren Kult, ich konnte davon Unmengen verdrücken, neun Stück waren mein Rekord und das vorm Training, damals leider keine wettkampffähige Sportart. Zur selben Zeit des sportlichen Misserfolges durfte ich die einmalige Chance wahrnehmen, Akkordeon spielen zu lernen, dass dies nicht mein Wunschinstrument war, sei nur am Rande erwähnt. Es war eine echte Herausforderung, mit acht oder neun Jahren (das schließe ich aus Fotos dieser Zeit, als ich ein spackes Hämmeken war), ein Weltmeister-Akkordeon, eingepackt in einem Transportkasten, der halb so groß war wie ich, durch die Gegend zu schleppen. Zum Glück war der Ort des Geschehens oder besser das Haus, wo die Musiklehrerin auf ihr armes Opfer lauerte, nicht allzu weit von unserem Hause entfernt. Also das Ding, Akkordeon genannt, dorthin geschleppt, danach eine Stunde lang der heldenhafte Versuch der Dame, mir Noten und das Spielen besagten Instrumentes beizubringen. Mit viel Geduld und Verständnis für dieses vollkommen unbegabte Kind dort auf dem Stuhl (immerhin war es Privatunterricht, brachte zwanzig DDR-Mark ein pro Stunde), der Blick jedenfalls ließ unglaubliches Mitleid erkennen. Irgendwann konnte ich halbwegs das großartige Stück „Winter, ade! Scheiden tut weh …" spielen, der totale Brüller, der Hit aller Musikshows. In unserer Aula fanden Konzerte statt mit begabten Kindern und ihren Instrumenten, das fand ich gut, denn mir war klar – dort stehst du nie.

    Der Friseur

    Hier habe ich noch ein Erlebnis der besonderen Art in Erinnerung, heute muss ich darüber schmunzeln, bis hin zum Lachen. Damals jedoch habe ich vor Wut geheult, mich dermaßen geschämt, dass ich mir im Sommer eine Pudelmütze aufgesetzt habe. Warum? Das verhielt sich folgendermaßen: In regelmäßigen Abständen durfte, gar musste ich zum Friseur ins Dorf, entweder zu Fuß oder der Dienstwagen meines Vaters, sprich sein Chauffeur lieferte mich dort ab. Ich vermute, um meine Flucht zu verhindern. Der Scherer (Friseur) wusste bereits, welche Bombe er mir verpassen durfte, bezahlt war auch schon, das Urteil wurde vollstreckt, meist kurz, fast militärisch, weit entfernt von jedem Trend in dieser Zeit. Der Trost, den mir selbst der Täter, sprich Friseur, aussprach, lautete: „Die wachsen ja nach. Aber dieses eine Mal hatte sich der Künstler verschnitten, ich sah aus wie Bombenteo, schlimmer ging es nicht mehr. Ich also mit Pudelmütze im Sommer zum Akkordeon-Test 5060. Die Meisterin konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und überredete mich, dieses für den Sommer ungewöhnliche Schmuckstück abzunehmen, was ich auch tat. Lachend meinte sie: „Sieht doch gar nicht so schlimm aus, doch ich fühlte mich nackt. Irgendwann ließ man Gnade vor Recht ergehen, und die Akkordeon-Folter wurde beendet.

    Hosen aus Leder

    Aber nicht nur meine Frisur war total Stylig, nein, meine Bekleidung in jungen Jahren hatte auch etwas Romantisches. Pionierhemd und Lederhose – diese natürlich aus echtem Leder. Die Größe dieser herrlichen Buxe war so gewählt, dass mir die Dinger noch mit vierzehn Jahren passten, nur da trug ich sie natürlich nicht mehr. Meine damals dürren Beine ragten also etwas einsam aus diesen Ledertrichtern, aber dem nicht genug, das Ding hatte auch noch Träger, die in Brusthöhe durch ein Kunstwerk verbunden waren, in dessen Mitte ein aus Geweih geschnitzter Hirsch ruhte. Das war der Hammer, die Bayern hätten Beifall geklatscht (obwohl ich damals bestimmt nichts von diesem Völkerstamm wusste) ob ihres Vertreters im roten Preußen. Mit diesen Dingern war ich zum Glück noch nicht ganz allein, aber so richtig allein war ich, als die Steigerungsform zu meinen Lederhosen kam. Knickerbocker, wieder aus echtem Leder, dazu Kniestrümpfe und Wanderbotten, auch Schuhe genannt. Die einsame Boje auf dem Schulhof, die Gesänge wohl bekannt: „Sitzt der Dünnschieß noch so locker, nichts geht durch die Knickerbocker. Der einsame Krieger und seine Hose. Einige Mädels empfanden Mitleid, so dachte ich. Heute jedoch vermute ich, sie fanden es heiß, wie ich da einsam in meinen Hosen stand, sich unterscheidend von der Masse, ein wahrhafter Ritter, wofür auch immer. Das ist auch die Zeit, als sich mein Bruder öfters für mich prügelte, ich war dafür noch nicht reif, immer noch schwächlich, öfters krank, streckenweise sogar vom Sport befreit, dann auch vom Training. Meine Eltern machten sich wieder einmal Sorgen, deshalb bekam ich Vitamintabletten, die berühmten „Sumavit Forte und so weiter. Gegessen habe ich damals Unmengen, zehn Schrippen in Milch eingetunkt war keine Leistung, beim Kartoffelpufferessen unschlagbar, nur man sah es halt nicht.

    Weihnachten – Ostern

    Das Leben plätscherte so dahin, man ging zur Schule, freute sich auf Geburtstage, auf die Feiertage, besonders auf Ostern und Weihnachten und die Zeit davor. Dies war die Zeit für den Sammler und Jäger, für mich Abenteuer pur, Raubzüge grenzenlos. Weihnachten als Kind, noch unbeteiligt an den Vorbereitungen, außer dem Plätzchen backen. Meine Mutter buk Stollen, vorher wurden die Rosinen in Rum eingelegt, dann der Teig geknetet, man durfte auch naschen. Beim Backen vom Stollen der Duft in der Wohnung, die Aufregung, was bekommt man, wie lange dauert es noch. Später habe ich die Aufregung abgekürzt, indem ich vorher schon versuchte, die Geschenke zu finden, um zu schauen, was wer bekommt, was die Freude auf den Tag des Empfangs nicht verdorben hat – ich habe jedes Versteck gefunden. Das ist auch das Spiel aller Dinge, es gibt immer einen Gegenpart, der eine versteckt, der andere findet, der eine verschließt, der andere öffnet. Der eine hat ein Geheimnis, der andere lüftetes, der eine siegt, dann siegt ein anderer, und so könnte man die Beispiele bis ins Unendliche fortsetzen.

    Mein Vater legte frischen Grünkohl in die Wanne, zum Entsanden, der wurde dann gerupft und lecker zubereitet. Jetzt kam der Baum, meist eine Kiefer wegen der größeren Zweigabstände, was wiederum nötig war! Wofür? Natürlich für die echten Kerzen, denn die elektrischen kamen später, sind auch sicherer, aber mit echten, dass ein Bild, die Bäume dufteten nach Wald, nach Nadeln, nach Wind und frischer Luft. Und dann endlich der Tag, Aufregung – 18 Uhr – Bescherung, man wurde gerufen, sagte ein Gedicht auf oder quälte sich ein kurzes Lied von den Lippen. Danach auf zum Weihnachtsbaum, ran an die Geschenke und den Bunten Teller, ein Leuchten, ein Duften, eine Freude, ein Strahlen, Kinderempfindungen pur, ein Privileg des Kindseins. Die Geschenke eine Mischung: Skischuhe – Tschapka (Pelzmütze mit echtem Bärenfell – armer Bär, dafür warme Ohren) Handschuhe, Schlitten, später Ski, Bücher (habe schon früh gerne und viel gelesen) natürlich Spielzeug. Eine Eisenbahnplatte, die mein Vater gebaut hatte, wurde dann zu Weihnachten aktiviert. Ralf bekam dann Nachrüstteile für die Platte, war eine feine Sache, stand danach im Keller zum Spielen, da sie für die Zimmer zu groß war. Ein Kaspertheater hatte mein Vater auch gebastelt, dazu bekamen wir dann die Handpuppen Kasperle, Teufel, Großmutter, Gendarm, Gretel, König, Krokodil, Fuchs und Elster und was weiß ich nicht alles. Jetzt war das Fest im Gange, alle beschäftigt, abgelenkt, also meine Zeit. Sicherung des eigenen Bunten Tellers ging klar, Einnehmen der Rückenlage, Träumen vortäuschen, den linken oder den rechten Arm unauffällig auf einen der anderen Teller senken, Beute greifen und diese lustvoll in den Mund stecken. Marzipankartoffeln, Schokoplätzchen, Rumkugeln – eben alles, was die Teller so hergaben. Ralf und Ute – später auch Petra – staunten, wie schnell ihre Bunten Teller sich leerten, meiner hielt am längsten, er wurde ja auch gut bewacht von mir. Wir besaßen auch einen Kaufmannsladen, der für alle da war. Auch hier ging ich, getrieben von meiner bescheidenen Freude an Süßigkeiten, äußerst raffiniert vor. Ralf war da kein Opfer, er hätte mich durchschaut, nein, Rollenspiel, erst Ute, später Petra – sie Verkäuferin, ich Kunde. Die Dinge des Kaufmannsladens wurden von meinen Eltern nachgefüllt – eine kaum versiegende Quelle, manchmal aber selten wollten meine Schwestern Kunden sein, meine schlechte Bedienung, und der historische Satz „Gibt es nicht, ausverkauft ließ uns die Rollen wieder tauschen. Als dann Ute einen elektrischen Mini-Herd bekam, war es das Schlaraffenland für mich. Das Ding wurde konfisziert, ich saß stundenlang in der Küche, kochte mir Mini-Fadennudelsuppen und buk mir Ei in der Backröhre. Meine Mutter bremste schließlich die Aktivitäten, allein aus Angst, dass ich alle Vorräte der Familie aufbrauchte. Weihnachtliches Schlaraffenland, nie wieder wird es so sein – ein bisschen, aber auch nur mit dem heutigen Abstand muss ich gestehen, dass ich im geringen Maße, wenn überhaupt, etwas egoistisch war beim Beschaffen der leckeren Dinge – die nicht Essbaren weckten nicht mein Interesse und meine Kreativität. Beim Lesen dieser Zeilen kann ich mir das Lachen kaum verkneifen und sehe die Bilder vor mir. Nach diesem Tag lag man träumend im Bett, freute sich auf die folgenden Tage mit Gänsebraten, Stollen und Kartoffelsalat. Nicht zu vergessen die schönen Märchen im Fernseher, schwarz-weiß. „Die Schneekönigin, ein russischer Zeichentrickfilm aus der Sowjetunion, „Die vier Jahreszeiten, auch ein Zeichentrickfilm aus der SU, „Schwanensee, das Ballett, „Der Nussknacker, ein getanztes Märchen, „Peter und der Wolf, „Pittiplatsch und Schnatterinchen im Weihnachtswald" und so weiter. Heute weiß ich, für meine Eltern muss das echter Stress gewesen sein, aber schön war es trotzdem.

    Kinder, genießt eure Kindheit, eine Wiederholung ist in der Gebrauchsanweisung ausgeschlossen. Noch mal kurz zum Stollen, der wurde nach dem Backen in ein feuchtes Geschirrhandtuch gewickelt, ähnlich wie beim Spargel, und in den Keller ins Regal gelegt. Ich glaube, sogar noch in einer Plastiktüte. Am besten haben dann die überlebenden Stollen zu Ostern geschmeckt, durchgezogen, etwas klietschig von der Feuchtigkeit, aber köstlich. Meistens lag zu Weihnachten Schnee, man konnte seine Skier ausprobieren, sich durch das Schneegestöber kämpfen, seine Wege mit Eisbären kreuzen, das Trompeten der Mammuts hören und fürchtete den Säbelzahntiger. Fantasien, abgeleitet aus dem Buch „AO der Mammutjäger". Am zweiten Feiertag gab es den traditionellen Sauerbraten. Traditionell in unserer Familie, woher wirklich? Keinen Schimmer, mit Kartoffelklößen halb und halb, selbst gemacht, dazu Rotkohl. Ach so, ihr fragt, was wir unseren Eltern zu Weihnachten geschenkt haben? Ha, da haben wir Wochen vorher im Werkkundeunterricht oder in den so genannten Handarbeitsstunden die schärfsten Geschenke gebastelt. Klammerschürzen aus Scheuerlappen zusammengenäht, bunt bestickt, Stullen Bretter mit den Lötkolben traktiert oder besser Muster reingebrannt, in einen tiefen Teller Gips reingegossen, eine Öse eingelegt, um das Kunstwerk später an die Wand zu hängen, zum Schluss wurde das ganze Geschoss bemalt und zwar sehr bunt. Die Dinger hingen auch kurzzeitig an der Wand im Flur, aber sie entschwanden unauffällig, unvermisst, allein der gute Wille zählt. Es entstanden auch Kunstwerke, die man nicht betitelt konnte und welche Beuys Butterstuhl, sein Klo und seine Wanne in die Ecke gestellt hätten, nur keiner entdeckte sie.

    Ferienlager

    In die Zeit der Kindheit fielen auch die Ferienlager in Kohlmühle bei Wittstock an der Dosse. Ich hoffe, diese Bezeichnung ist korrekt, und staune selbst, dass mir der Name noch geläufig ist. Ferienlager des MdI, des Ministeriums des Innern, zu diesem Ministerium gehörten die VP (Volkspolizei), die TRAPO (Transportpolizei), die Wasserschutzpolizei sowie die Kampfgruppen, der Strafvollzug, die Zivilverteidigung, nur bei der GST weiß ich es nicht so genau. In diesem Ferienlager waren außer den Kinder und Jugendlichen aus der DDR auch Kinder und Jugendliche aus Polen, der ČSSR, der SU, aus den adäquaten Ministerien dieser Länder. Da mein Vater am MDI arbeitete, mit dem Dienstgrad eines Oberst der VP, als Stellvertreter der politischen Hauptverwaltung des MdI der DDR, waren wir einige Male in diesem Ferienlager, mal allein, mal mit meiner Schwester. Mein großer Bruder war auch dort, aber anscheinend nie in meinen Durchgang. Da die Sommerferien in der DDR für alle zur gleichen Zeit stattfanden, vom 7. Juli bis zum 29. August, waren die Ferienlager in drei Durchgänge eingeteilt, zu je zwei oder drei Wochen. Das Ferienlager lag idyllisch auf einer Halbinsel in einem Waldsee, mit eigenem Badestrand, einem Bootsausleih für Ruderboote, für die Großen die Minisegelboote namens „Dingi. Es gab ein Karussell, ein Zelt für Partys, heute würde man sagen „Discozelt – wo die größeren zum Tanz gingen. (Die kleineren konnten dort nur spannern). Weiterhin gab es K-Wagen zum Fahren, eine riesige Eisenbahnplatte, alles in AGs, also Arbeitsgemeinschaften – Basteln auch noch, Freiwillige Lagerfeuerwehr, Chor und vieles mehr.

    Geschlafen wurde in Armeezelten, ausgestattet mit Schränken und Holzrosten am Boden. Man schlief in Doppelstockbetten. Es gab eine große Essensbaracke aus Stein, ein Sanitätshaus, eine zentrale WC-Anlage und Duschen, natürlich eine Lagerleitung, Pionierleitung sowie FDJ-Leitung für die älteren. Der Tag begann mit dem Morgenappell in Pionier- oder FDJ-Kleidung, danach Antreten vor dem Zelt, Zeltdurchgang für den Wettbewerb, wer die beste Ordnung hält. Jede Gruppe hatte einen Gruppenwimpel, der ständig dabei sein musste, auch „Touristikwimpel" genannt, damit peitschte man durch das Gelände. Sportfest mit Weitsprung, 60- oder 100-Meter-Lauf, Schlagball-Weitwurf, Hochsprung, Staffel, Fußball und Volleyball. Man war begeistert dabei, es gab einzeln Bewertung und für die Gruppe, Urkunde, Medaille, Eis und Kuchen für die Sieger, man gab sich Mühe, hatte seine Fans. Mädels waren ja auch anwesend, man musste sich also aus zig Gründen produzieren und sei es, um zu imponieren. Danach der Sportlerball mit Kinderbowle und Grillen. Man schloss Freundschaften mit anderen, die dann meist nach dem Ferienlager endeten. Ich hatte einen Lagerfreund und eine Lagerfreundin aus der ČSSR, beide konnten relativ gut Deutsch, dies lernten sie in der Schule. Das war 1965, wir schrieben uns Briefe und schickten uns Pakete, sie mit Hurvinek und Spejbl, ich mit unseren Kultfiguren und natürlich Süßigkeiten. All das hielt bis 1968.

    Ferienlager, das machte Spaß, man hatte seine Freunde, selbst solche Dinge wie Zeitungsschau und aktuelle Wandzeitung gestalten störten noch nicht, kannte man schließlich von der Schule von zu Hause. Wir ging baden, es gab Grillfeste, Wanderungen durch Wald und Feld, ein spektakuläres Touristenlager dauerte drei Tage und zwei Nächte, mitten im Wald gelegen mit Zugang zu einem See. Man lebte in kleinen Zelten, gekocht wurde in einer Gulaschkanone, es gab Küchendienst, da durften wir Kartoffeln schälen, Holz hacken für die Gulaschkanone (die natürlich keinen Gulasch verschoss, sondern eine Armeekochmaschine war, die man durch die Gegend fahren konnte und mit Holz beheizt wurde), Wasser aus dem See anschleppen. Tische decken und abwaschen, das erledigte der Innendienst. Der Rest tobte durch das Gelände, Touristikmarsch über einige Kilometer, dabei wurden Bäume bestimmt und Himmelsrichtungen, wir lernte den Kompass einnorden, mussten Karten lesen, Wetterseiten an Bäumen erkennen, fanden Pilze, sahen Wild, übten Handgranaten-Ziel Wurf mit einer Imitationshandgranate. Diese sah aus wie eine Keule oder eine Eierhandgranate, es gab schließlich Feinde, an die man immer erinnert wurde, die man nie vergessen sollte – politische Konditionierung, damals Normalität. Also kein Grund zur Aufregung, es machte Spaß, sprach ja auch die Abenteuerlust an, Auf dem Weg zum Touristenlager lag ein Fließ, umgeben von Sumpf, über das Fließ führte eine Zugbrücke, die wurde bewacht – man musste eine Parole sagen, erst dann durfte man passieren. Zu diesem Zweck wurde dann die Zugbrücke herabgelassen, der Wachhabende hatte ein Luftdruckgewehr. Wir waren auch mal mit dieser Aufgabe dran, leider nachts. Zwei Mann, Taschenlampe, hin zur Brücke, Ablösung und danach alleine, hochgezogene Brücke, das Summen der Mücken zum Anfang, dann das Knistern im Walde, das Schreien der Gemeuchelten, das Krachen der Äste – alles Zeichen dafür, dass der Mörder auf dem Weg zu uns war. Urgeräusche alter Dämonen, das Kreischen der Hexen, man sah sich schon an den Spieß gebunden und zum Braten vorbereitet.

    Man hatte Angst, ging ständig pinkeln, blieb nach außen hin natürlich gelassen, unbesiegbar, kampfbereit. Freunde schlichen sich ran, wollten erschrecken, hatten sie auch, sich selbst und uns, man lachte, sie gingen, es blieben die Finsternis und wir mit unserer Phantasie und der Angst. Nach drei Tagen Einmarsch der Helden ins Hauptlager, Wiedersehensfreude der Zurückgelassenen, Geschichten erzählt, sehr gruselige für diejenigen, die jetzt hingingen. Wir unterhielten uns über die Arbeit unserer Eltern, über ihren Dienstgrad, ihren Dienstwagen. Mein Vater, wie schon erwähnt, war Oberst und Dr. der Philosophie, sein Dienstwagen war ein Tatra, man war stolz, prahlte. Es wurde entweder geglaubt oder als Übertreibung abgetan – nur einmal, da kam mein Vater mit einer Delegation ausländischer Partner zur Eröffnung des Ferienlagers. Er machte seinen Rundgang, stellte seinen Sohn Rainer vor, und die Fragen zu meinem Zeugnis beantwortete er selbst mit dem Satz: „Könnte besser sein. Warum ich das erwähne – weil ich dann zum ersten Mal den Neid der anderen spürte. Hatte man sonst die Chance, alles als Angeberei abzutun, so ging es diesmal nicht, da der Beweis leibhaftig vor ihnen stand. Einige staunten, anderen war es egal, aber nicht wenige pflegten einen unerklärlichen Neid. Ich noch das Hämekin, bekam dann bei passender Gelegenheit, ein paar Mal ordentlich was auf die Fresse („ins Gesicht geboxt, das würde sich irgendwie schräg anhören). In der Regel folgte dann der Satz: „Da nützt dir dein Alter gar nichts, du Schlaffi." Noch war ich ein solcher, steckte ordentlich ein, ohne Gegenwehr, nur die Festplatte registrierte. Manchmal prügelten sich dann meine Freunde für mich, was auch nicht allzu prickelnd war. Gut, ich war noch nicht so weit, mich meiner zu erwehren, außer im Traum, da gab es keine Gegner, die mir gewachsen waren. Es ist aber auch das Alter, wo man durch Erleben lernt, auch wenn man nur mal registriert, führt es dann irgendwann, am Punkt einer bestimmten Reife, zur Erkenntnis über die Menschen und deren Verhalten. Die Naivität schwindet, die Einfachheit der Zuordnung verwischt, auch so ein Beispiel aus meiner Ferienlagerzeit. Mein Gruppenleiter, den ich und die anderen sehr mochten, hatte im Lager eine andere Gruppenleiterin als Freundin, die uns ebenfalls sehr sympathisch war. Irgendwann kam eine Frau zu Besuch, für uns eine Fremde, denn jedes Ferienlager ist eine Welt in der Welt. Man sagte uns, dass sie seine Frau sei, was mich damals sehr irritierte. Schließlich hatte er doch eine Freundin im Lager, wie konnte er da noch eine Frau haben? Sie verschwand, wir stellten keine Frage, er hatte wieder seine Freundin, die Welt, diese Welt, sie stimmte wieder.

    Angeln, Pilze suchen

    Es war auch die Zeit, wo mein Vater mich in die Geheimnisse des Angelns und Pilze-Suchens einweihte. Wann genau, dies kann ich nicht mehr eruieren, aber sie begann in jungen Jahren, und diese Fähigkeiten sind bis heute erhalten. Kenne all die Pilze, die lecker schmecken, und einige mehr, lebe noch, woraus man schließen kann, ich kenne die richtigen Pilze. Grundprinzip meines kundigen Vaters: Sammle niemals Pilze, die du nicht kennst. Ansonsten war die Pilzsuche eher ein Streifen durch die Wälder und Schonungen (gerade hierfür hatte man noch die richtige Größe), sich selbst belohnend, indem man fand, und wir fanden immer. Mein Vater auf kleinem Raum mehr als ich, ich aber auch genügend, nur eben mit mehr Laufeinsatz. Einmal mit Onkel Rudi und meinem Vater, Weltrekord im Maronen-Sammeln, die Gnublers, so nannten wir die kleinen, frisch gewachsenen, festen Marönchen. Ich glaube, wir haben acht bis zehn Obsthorden voll gesammelt, besser gesagt geerntet. So lernte man die Wälder um Berlin kennen, erst mit dem Fahrrad, später mit dem Auto. Da konnte man schon hinter Bohnsdorf mit dem Sammeln beginnen, selbst in Grünau. Das Angeln war schon etwas komplizierter aber auch spannender. Schon die Vorbereitung, Würmer im Garten suchen, Tauwürmer früh mit Taschenlampe, Teig kneten, Kartoffeln kochen, die Posen einstellen mit Bleigewichten. Die Haken hat mein Vater noch selbst gebunden, habe ich nie gelernt, sie gab es auch später fertig, nannten sich dann „Haken mit Vorfach". Angelzeug zusammenpacken, Angeln, Stippen für die Friedfische, Wurfangeln für die großen Friedfische und Raubfische, auch hier zum Anfang Steckbambusstippe, Steckwurfrute, später die Teleskopruten aus Vulkanfieber oder Glasfieber, die Wurfangeln ebenfalls von den einfachen zu den modernen Rollen. Das alles eine Wissenschaft für die Angler, mit Tausenden von Büchern, ich hingegen nur ein Laie mit gewissen Grundkenntnissen. Konnte aber vieles lernen über Köder, Plötzen, Bleie, Karauschen, Karpfen, Barsche, Hechte und Aale, von denen ich auch welche fing, dafür aber nie einen Zander, nie einen Wels oder Döbel. Mein Vater schon, und dies in großen Mengen. Welch eine Aufregung, wenn die Posen verschwanden, denn man wusste ja nie, wer sich da verirrt hatte, wie schwer das Objekt der Begierde war, wie heftig er sich wehrte, der gedachte Fisch. Der beste Kämpfer war der Karpfen. Der Hecht, den ich mal am Blinker hatte, wollte anscheinend verspeist werden. Auch befand sich bei den Angeltouren immer ein leckeres Fresspaket mit an Bord, was nicht heißt, dass wir vom Boot aus geangelt haben. Dieses kam erst später, am Anfang wie bei den Pilzen, entweder per Fahrrad oder mit dem Auto. Man konnte am Ufer sitzen, träumen, seine Nahrungsmittel genussvoll verzehren, wichtig für mich immer die Koch Eier, ohne sie hätte ich mich geweigert, mit zum Angeln zu fahren. Übrigens noch eine Bemerkung, das Eisangeln war mir ein Gräuel – ich durfte immer das Loch ins Eis hacken, was dazu führte, dass ich nass wurde, zumindest bis sich mein Vater aus der SU einen Eisbohrer mitbrachte. Arschkalt blieb es dennoch immer, trotz Fußabtreter und Katalytofen. Einmal ergriffen wir die Flucht – obwohl das Eis dick genug war, gab es Spannungsrisse. Die krachten fürchterlich und kündigten sich mit einem seltsam singenden, tiefen Ton an, der an einem vorbeirauschte. Das Wasser schwappte aus dem Eisloch, und nach dem dritten Mal machten ich meinen Vater auf den kommenden Todeskampf aufmerksam. Wir verließen das Eis.

    Episoden

    Erste Episode der jungen Jahre, in diesem Alter ist man ja offen für Experimente, auch etwas waghalsig in der Durchführung selbiger. Meine Eltern hatten einen Siphon zum Produzieren von kohlensäurehaltigem Wasser, welches man wiederum mit einem Schuss Sirup verdünnen konnte – also eine Ersatzbrause, die im Trend und nicht für jeden erreichbar war. Besonders der Ersatz der Kohlesäurepatronen ließ Beziehungen vermuten, wurde deswegen zur Aufgabe meines Vaters. Wie gesagt, wir besaßen ein solches Gerät und die dazugehörigen Patronen, diese wiederum inspirierten meine Phantasie, und es folgte die Einstein’sche Frage: Was passiert, wenn.? Also Versuch und Irrtum, wobei ich vermute, dass die Frage damals so nicht stand.

    Wohl eher siegte die Neugier, was so ein Ding bewirkte, wenn man dieses in den im Keller stehenden Ofen warf. Gedacht, getan, ab in den Keller, bewaffnet mit einer Siphonpatrone, die Ofentür auf, das Ding rein in den Ofen, zuoberst auf die leuchtende Glut. Stille, innerliche Spannung, das Universum hält inne, ein irrer Knall, die Heizungskörper im Haus erbebten, Deckenlampen wackelten, Ruß tarnte mich, ein erschrockener Vater, daraufhin eine klatschende Schelle, Erleichterung, dass unser Haus noch stand. Mein Vater, nachdem er den ersten Schock überwunden, musste sicher gedacht haben, der Feind greife an, gleich welcher auch immer. Moralpredig, Hinweis auf das, was hätte passieren können. Mein Herz, welches erst in die Hose gerutscht, weitete sich zu einem saftigen Steak (nach Helge Schneider), hämmerte dank der überstandenen Gefahr. Am nächsten Tag in der Schule gab es die Erzählung dieser Heldentat in leicht abgewandelter Form, aber immerhin mit dem pädagogischen Hinweis versehen: Bitte keine Wiederholung.

    Zweite Episode: Erzeugen eines Loches in der Friedhofsmauer, mit Cousin Joachim, Adoptivsohn von Tante Ulla, Vatis Schwester, die einzige von elf Geschwistern, die in der DDR verblieb. Wir gingen raus zum Spielen, hatten aber noch Reste an Harzer Knallern von Silvester, die ordentlich schepperten, sahen die Friedhofsmauer. Wir rüber, schauten dort ein bisschen und entdeckten einen Riss in der Mauer. Der sah äußerst verlockend aus, Inspiration pur, die Knaller aus der Tasche geholt, alle in den Riss gesteckt. Joachim durfte zünden. Es gab einen ordentlichen Knall – das war der Anfang einer Knallsinfonie, Orchester mit einem Instrument, wir die Dirigenten, der Lärm nicht zu überhören. Wir standen begeistert in einer Rauchwolke, es stank nach Feuerwerk oder besser gesagt, der liebliche Geruch unserer Knaller verwöhnte die Schleimhäute unserer Nasen. Der Rauch verzog sich, eine sich überschlagende Stimme schrie von weitem: „Seid Ihr denn vollkommen bekloppt!", der Besitzer der Stimme bremste neben uns. Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, unsere vor Überraschung, ja, versteckter Freude. Ein nicht zu übersehendes Loch zierte die Friedhofsmauer, von diesem Loch gingen viele Risse aus, ähnlich einer Spinnwebe, quasi die erste Form der Aktionskunst. Das Ganze endete, wie es enden musste, meine Eltern wurden informiert, wir mussten uns entschuldigen, praktisches Erlernen der Heuchelei. Bei meinen Eltern gab einen sachbezogenen Vortrag, wir mussten unseren Nachbarn Herrn Schwalbe bitten, das Corpus Delicti zu beseitigen, sprich das Loch zuzumauern. Unser Nachbar, ein Ingenieur und begabter Hobby-Handwerker, vollbrachte es, die Putzstelle war noch Jahre danach zu sehen, sie kündete von unserem Forschergeist. Das ging noch gut ab und war uns keine Lehre.

    Dritte Episode: Rainer, seines Zeichens Indianerhäuptling, natürlich selbst ernannt, gewählt oder wie auch immer, durchstreifte die Gebiete auf der Suche nach neuen Jagdrevieren und Abenteuern. Man wurde fündig am Feldrand in der Nähe vom Ortsausgang, dort gab es ein etwas heruntergekommenes Grundstück mit einer stattlichen Menge von Hühnern. Dieses wurde begutachtet, als respektabel erkannt – nur tauchte da gerade eine alte Dame auf. Sie dachte wohl, ich wollte ihre Eier stehlen, obwohl man deutlich sah, dass ich ein edler Krieger war.

    Doch so sind die Bleichgesichter, immer das Schlimmste von den Indianern denken, nur weil sie ständig von sich selbst ausgehen. Stolz verließ ich das Grundstück, nicht ohne noch das Bleichgesicht als „doofe Oma zu betiteln. Das wurmte, ich musste unbedingt noch mal dorthin, um nachzusehen, ob da eine Chance für einen Skalp bestände, der Stolz verlangte es. Als Bleichgesicht getarnt, also in Zivil auf meinem rotem 24iger Fahrrad auf zum Feldrand. Dort angekommen, Fahrrad niedergelegt, Hände in die Hosentaschen, ganz desinteressiert mal so in der Gegend umhergeschaut, ganz unauffällig, versteht sich. In den Hosentaschen Streichhölzer, Standard, Teufelchen sagt: Man könnte ja mal ein Feuerchen machen, ein kleines, nur mal so, denn es war warm, wir hatten Frühjahr. Teufelchen siegte wie so oft noch, der andere schwieg, war wohl eingeschnappt. Siehe da, ein kleines Feuerchen loderte, weiß gar nicht, wie das ging. Höhere Fügung nennt sich das wohl. Meine Augen leuchteten beim Anblick des kleinen Feuers. Nur kurz, dann kam der Schreck, denn das Feuerchen breitete sich aus. Der Versuch zu löschen misslang kläglich, Feuerchen wurde zum Feuer, Feuer breitete sich aus, trockenes Gras, Feuer entwickelte Leben, bewegte sich in Richtung feindliches Grundstück. Die Hühner, nichts Gutes ahnend, wurden zusehends nervös, gackerten aufgeregt. Fahrrad und los, Flucht, Panik, beim Zurückblicken Feuerschein, Rauch, ach du scheiße, was jetzt? Angst, Angst davor, gesehen worden zu sein. Blaulicht, Feuerwehr irgendwann, ich sah mich schon am Marterpfahl, im Gefängnis, schlechtes Gewissen, Reue? Ich fuhr Tage später zum Ort des Geschehens, verkohlte Hühnerställe, verkohlte Laube – zu meiner Überraschung aber auch Leben, die Hühner gackerten durch den verbrannten Garten, erfreuen sich ihres Daseins. Oh man, Glück gehabt. Auf dem Rückweg fuhr ich an zwei Frauen vorbei, sie starrten mich an, und ich hörte, wie eine sagte: „Das ist doch der Sohn von der Staatsanwältin, der hat doch da gekokelt, aber so einem passiert ja nichts. Mir wurde mulmig zumute, sah schon den Funkwagen vor unserem Grundstück, um mich zu verhaften. Niemand kam.

    Episödchen: Es muss kurz vor Ostern passiert sein, ich kann mich erinnern an Ostern mit Rollschuhlaufen und Liegen im Garten, aber auch an Ostern, wo ich mit meinem Vater brusthoch im Schnee stand (Brusthoch traf nur auf mich zu.), und wir unsere Gartenwege vom Schnee befreiten. Diesmal schien die Sonne, es war warm, die Neugier stieg, ich ging auf Erkundung bei uns im Hause. Die Verstecke für die Ostersachen waren mir gut bekannt, es waren die gleichen wie zu Weihnachten. Mein wachsendes Interesse galt den essbaren Österlichkeiten. Oh, so viele Tüten, die Versuchung, das gemeine Teufelchen meldete sich: „Nasch doch, nasch von diesem, von jenem, es ist genügend da." Ich bekam nicht genug, hier waren außer dem Teufelchen noch andere Kräfte am Werk, für die ich zu schwach war. Sie führten meine Hand, diese glitt in die Tüte, kam mit etwas heraus, steckte es

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1