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Meine Fahrten nach Klaushagen: Eine streitbare deutsch-deutsche Biografie
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eBook320 Seiten4 Stunden

Meine Fahrten nach Klaushagen: Eine streitbare deutsch-deutsche Biografie

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Über dieses E-Book

Renate Voß hatte und hat ihre eigene Meinung. Ihre "Fahrten nach Klaushagen" sind die eigenwilligen Erinnerungen an ihre Erfahrungen in beiden Deutschland, sehr genau, ehrlich, persönlich und ohne Pauschalurteile. Wir erleben ihr Aufwachsen in der DDR, das Leben ihrer früh verstorbenen ältesten Tochter, die Arbeit auf der Rostocker Warnowwerft, Stilllegung der Werft und die eigene Arbeitslosigkeit, neofaschistische Umtriebe im Stadtteil Lichtenhagen, die Liebe zur Ostsee, der geliebte Schrebergarten – und ihr politisches Engagement, das sich von "... mich kriegt keine Partei" zu einer klaren Stellungnahme änderte...
SpracheDeutsch
HerausgeberVerlag Neuer Weg
Erscheinungsdatum14. März 2018
ISBN9783880214972
Meine Fahrten nach Klaushagen: Eine streitbare deutsch-deutsche Biografie

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    Buchvorschau

    Meine Fahrten nach Klaushagen - Renate Voß

    2008

    1. Kapitel

    Weihnachten in Familie

    Weihnachten ohne Apfelmuskuchen – das geht gar nicht! Nach Möglichkeit sollen auch Weihnachtspudding und Terrassenplätzchen nicht fehlen. Das hat sich so über die Jahre in meiner Familie eingebürgert. Inzwischen machen meine Kinder Pudding und Plätzchen mit ihren Kindern zum Teil selber, aber Apfelmuskuchen muss ich immer zu den weihnachtlichen Familientreffen beisteuern. Meine Lieben behaupten einfach, der schmeckt nur dann, wenn ich ihn backe. Ich denke aber im Stillen, die sind nur zu faul. Oder ist die Behauptung ein Kompliment?

    Als ich noch Kind war, hat meine Mutter immer rechtzeitig alles zusammengetragen, was zu einem richtigen Stollen gehörte: Rosinen, Mandeln, Zitronat … . Das war gar nicht so leicht in den Nachkriegsjahren, vielleicht hat manchmal etwas gefehlt, aber mir ist das nicht aufgefallen, der Weihnachtsstollen hat immer geschmeckt, ohne ihn wäre Weihnachten nur halb so schön gewesen. Anfang Dezember hat meine Mama Riesenberge Teig geknetet, die Schüsseln wurden in Laken und Decken gehüllt, auf dem Handwagen verpackt und damit zogen wir zum Bäcker. Dort roch es immer so gut und schön warm war es auch. Ich beobachtete mit Vorliebe, wie der Bäcker unseren Teig in Klumpen auf die Waage schmiss, daraus Laibe formte und auf einem Schieber aus Holz in den großen Ofen schob. Jetzt war Zeit, Einkäufe zu machen. Manchmal durfte ich dabei sein, manchmal nicht, was ich nun gar nicht verstand. Unsere Stollen waren inzwischen fertig gebacken, mit flüssiger Butter bestrichen und mit Puderzucker bestäubt, mehrfach. Dann zogen wir mit unserem schwer beladenen Handwagen heimwärts. Im Schlafzimmer wurde der große Schrank mit schneeweißen Laken abgedeckt, die Stollen draufgelegt und mit Laken verhüllt. Jetzt ruhten die Stollen bis Weihnachten dort oben und frühestens am Heiligabend durfte der erste angeschnitten werden. Ich konnte das kaum erwarten, aber nach dem Mittagessen wurde die große Wohnküche von innen verschlossen. Mit Mama wuselten dort meine beiden ältesten Schwestern herum, Ilse, 18 Jahre älter als ich, und Erika, 17 Jahre älter. Lore, zwölf Jahre älter, Helga, sechs Jahre älter und ich wurden ausgesperrt. In der Waschküche war die große Zinkwanne aufgestellt worden, der wassergefüllte Waschkessel angeheizt, baden war angesagt. Ausstaffiert mit frischer Wäsche und Sonntagskleidung durften wir dann endlich am Nachmittag in unsere Küche. In der Ecke stand ein prächtig geschmückter Weihnachtsbaum, die Lichter wurden angezündet und unter dem Baum lagen die verpackten Geschenke. Aber zuerst wurde der Stollen angeschnitten und Kaffee getrunken – was man damals so unter Kaffee verstand. Malzkaffee war das, Kathreiner, gebrannte Gerste, bei uns hieß das nur Muckefuck. Die Geschenke waren immer etwas Nützliches, selbstgestrickt oder genäht. Spielzeug habe ich auch bekommen, erinnern kann ich mich aber nur an zwei Sachen, einen kleinen Leiterwagen mit einem Pferdchen auf Rollen davor und einen Teddybär aus weißem Fell. Den habe ich besonders geliebt und oft genug hörte ich seine Geschichte, sodass ich schon glaubte, sie selber erlebt zu haben. Das war nämlich mein Babymantel, sicher irgendwoher geerbt. Als gegen Ende des Krieges die Amerikaner mit Panzern vor der Tür standen, haben sich alle im Keller versteckt. Ganz im Dunkeln wollte man auch nicht sitzen, also wurde die Lampe mit meinem Mäntelchen verhängt, damit kein Lichtschein nach draußen dringt. Aber das künstliche Fell vertrug die Hitze von der Glühbirne nicht und ein großes Loch zierte fortan mein gutes Stück. Dann war Frieden und irgendwann kam Tante Martha aus Burgstädt in Sachsen zu Besuch. Sie nahm den Mantel mit und mit ihren geschickten Händen nähte sie für mich den Teddy daraus. Viele Jahre lang begleitete er meine Kindheit, bis von dem Fell keine Faser mehr dran und der Teddy völlig nackt war.

    In meiner frühen Kindheit waren wir eine reine „Weiberfamilie, einen Bruder hatten wir nicht. Dann kamen die Männer meiner beiden ältesten Schwestern dazu und das waren die reinsten Götter für mich. Beide hießen Werner, Erikas Werner stammte aus dem Vogtland und konnte phantastisch Akkordeon spielen und singen. Die Heimat von Ilses Werner war das Erzgebirge, also auch er musikalisch begabt. Das war natürlich eine große Bereicherung unserer Familienfeste, egal ob Weihnachten, Geburtstage, im Februar Fasching, es ging immer sangesfreudig und lustig bei uns zu. Aber einer fehlte immer und doch war er anwesend – unser Vater! Mama und die beiden Großen erzählten oft Episoden aus dem Leben mit Papa, am häufigsten aber, wie er zu Tode kam. Ich war damals eineinhalb Jahre alt, habe also im Grunde meinen Vater nicht bewusst erlebt. Er war nie Soldat, war „wehrunwürdig. Das fanden meine Familie und unser Freundeskreis aber gar nicht unwürdig, im Gegenteil. Für die Nazis in den Krieg zu ziehen, hatte nichts mit Würde und schon gar nichts mit Ehre zu tun.

    Meine Eltern waren 1925 gemeinsam in die KPD eingetreten. Vater, Schmied und Stellmacher von Beruf, wurde zum Leiter der Ortsgruppe gewählt, während unsere Mutter, Hausfrau, die „Rote Fahne austrug und die Mitgliedsbeiträge einsammelte. Die Familie wohnte damals in Greppin, einer Industriegemeinde zwischen Wolfen und Bitterfeld, umgeben von den großen Chemiebetrieben der IG Farben. Als die Nazis im Februar 1933 den Reichstag ansteckten und die Kommunisten dafür verantwortlich machten, fiel auch mein Vater ihrer heillosen Hetzjagd zum Opfer. Im Mai 1933 wurden er und viele Mitglieder der Parteigruppe verhaftet und in das KZ Lichtenburg in Prettin an der Elbe in der Nähe von Torgau verschleppt. Da dieses Konzentrationslager erst im Juni 1933 die ersten Häftlinge „beherbergte, müssen Vater und seine Genossen zunächst in einem „normalen Gefängnis untergebracht worden sein. Bestimmt ging es dort nicht gerade human zu, aber die Gefangenen ahnten ganz sicher nicht, was sie in der Lichtenburg erwartete. Die Lichtenburg wird Schloss genannt, aber mit seinen meterdicken Mauern und dunklen Verliesen macht es vielmehr den Eindruck einer Raubritterburg. Das KZ Lichtenburg gehörte zu den ersten KZs, die von den Nazis in Deutschland eingerichtet worden waren. Wie brutal, zynisch und menschenverachtend es dort zuging, kann man in Wolfgang Langhoffs Bericht „Die Moorsoldaten lesen. Langhoff war im Dezember 1933 vom Börgermoor in die Lichtenburg verlegt worden. Da war unser Vater schon ein paar Monate dort. Ob sie sich begegnet sind? Möglich, aber nicht bekannt.

    Der Historiker Werner Dietrich schreibt im Heft 2 der Lichtenburger Hefte: „Für propagandistische Zwecke wurden auch die ersten Massenentlassungen von KZ-Häftlingen Ende 1933 genutzt. Bis dahin war es nur vereinzelt zu Entlassungen gekommen, wobei der Entlassene einen Verpflichtungsschein zu unterschreiben hatte, ‚sich in Zukunft jeder staatsfeindlichen politischen Bewegung … zu enthalten‘ … Nochmals mehrere Dutzend Häftlinge kamen Ende März 1934 zur Entlassung." Zu den Entlassenen Ende März gehörten auch Vater und einige andere aus der Greppiner Gruppe. Ich kenne kein Dokument, aus dem sich schließen ließe, warum zu den Entlassenen auch die Greppiner Gruppe gehörte, ich kann nur vermuten. Auffällig ist, dass alle vorher und nachher bei der IG Farben, einem kriegswichtigen Betrieb, gearbeitet haben. Die Zurückgebliebenen mussten die Lichtenburg bis zur Auflösung des Männer-KZ 1937 ertragen, danach wurden sie nach Buchenwald verlegt. Aber die Lichtenburg blieb KZ, Frauen wurden jetzt dort eingekerkert. Es ging nicht weniger brutal zu als vorher bei den Männern. Darüber berichtete Lina Haag in ihrem aufwühlenden Buch „Eine Handvoll Staub". 1939 war die Lichtenburg nun auch für die Frauen zu klein geworden, sie wurden ins eilig errichtete KZ Ravensbrück gebracht.

    Vater war nun wieder zu Hause, ging seiner Arbeit nach. Offenbar erzählte er nichts oder nicht viel vom KZ, sicher aus Sorge um die Familie, er hatte ja auch den Wisch unterschreiben müssen. Aus den Jahren danach ist mir nicht viel bekannt. 1937 wurde Helga geboren, die Wohnung in Greppin war zu klein geworden. Meine Eltern beteiligten sich am Bau einer Arbeitersiedlung, Wolfen-Süd, konnten 1938 eine Doppelhaushälfte am Ende der Siedlung beziehen. In diesem Haus wurde ich im September 1943 geboren. Die Siedlung wurde auf dem Gelände einer ausgekohlten, teils zugeschütteten Braunkohlengrube errichtet. Es gab viele solcher Gruben im Bitterfelder Braunkohlenrevier, deren Restlöcher als Müllgruben genutzt oder in diese die giftigen Abwässer der Chemiebetriebe eingeleitet wurden. Einige wenige Gruben füllten sich mit Grundwasser und wurden später unsere sommerlichen „Badeparadiese".

    Aber vorerst war noch Krieg. Am 17. April 1945 wurde Bobbau, eine Gemeinde am nördlichen Rand von Wolfen, von amerikanischen Tieffliegern angegriffen. In diesem Ort wohnte Vaters Schwester, unsere Tante Anna mit ihren Kindern. Vater und sein Bruder Gustav wollten ihrer Schwester zu Hilfe eilen und verabredeten sich an einer bestimmten Stelle. Aber Onkel Gustav war verhindert und kam nicht. Unser Papa machte sich mit seinem Fahrrad allein auf den Weg, erreichte auch den Ort, aber da trafen ihn Geschosse der Flieger in den Oberschenkel. Er band sich das Bein ab, bat einen Motorradfahrer, der sich um ihn kümmerte, unserer Familie Bescheid zu geben, und nannte ihm die Adresse. Als er Wolfen-Süd erreichte, war ihm unsere Hausnummer entfallen. Er klopfte bei einem der ersten Häuser unserer Straße an und geriet ausgerechnet an eine Nazi-Familie. Diese wollten aber angeblich die als Kommunisten verschrieene Familie nicht kennen, dem Motorradfahrer blieb nichts anderes übrig, als noch mal nach Bobbau zu fahren. Erst dann konnte er unserer Mutter Bescheid sagen. In der Nähe unseres Hauses befand sich ein großer Bauernhof, der Rittergut genannt wurde. Mutter lieh sich Pferd und Wagen, jagte nach Bobbau, lud Papa, der schon viel Blut verloren hatte, auf den Wagen. Zu Hause angekommen – war unser Vater tot!

    Die beiden Großen, Ilse und Erika, waren dienstverpflichtet, bekamen aber sofort Urlaub. Zu Hause fanden sie den aufgebahrten Vater und unsere verzweifelt und hilflos weinende Mutter vor. Ich soll ihr ständig weinend am Schürzenzipfel gehangen haben. Später bin ich oft mit Mama auf dem Friedhof gewesen und nachdem ich geradeso lesen gelernt hatte, entzifferte ich die Inschrift auf dem rötlichen Stein:

    Hier ruht in FriedenHermann Nitsche

    geboren …gestorben …

    Unsere Mutter war das älteste von vier Kindern einer Arbeiterfamilie. Schon früh musste sie sich um ihre jüngeren Geschwister kümmern, musste deshalb mit elf oder zwölf Jahren die Schule verlassen. Ein arg verblasstes Foto zeigt Mama inmitten einer fein herausgeputzten Schar von mehr als 30 Jungen und Mädchen und davor eine große Tafel:

    Zentralverband der proletarischen Freidenker Bitterfeld

    Zur Erinnerung an die 1. Jugendweihe 28. März 1920

    Da war sie 15 Jahre alt und mit 17 lernte sie Vater kennen. Zu Ostern war es Brauch, dass die Mädchen, absolut schweigend, zu einem Bach oder See wandern und Osterwasser holen. Also zogen die Greppiner Mädchen über die Wiesen zur Mulde, einem Nebenfluss der Elbe, füllten ihren Wasserkrug und machten sich, immer noch schweigend, auf den Heimweg. Aber hinter den Büschen hatten sich die Jungen versteckt und versuchten, die Mädchen irgendwie zum Lachen oder Reden zu bringen. Und da Hermann es auf Frieda abgesehen hatte, neckte er sie solange, bis sie lachen musste. Damit war der Bund sozusagen besiegelt. Zwei Jahre später wurde geheiratet und als Mutter 20 war, kam das erste Kind.

    Einen Haushalt zu führen, hatte sie ja schon früh gelernt, und mit viel Liebe, Geschick und fleißiger Arbeit brachten die beiden ihre Kinder auch durch schlimme Zeiten bis zu jenem verhängnisvollen Tag im April 1945. Jetzt musste Mutter allein mit allem fertig werden, aber da waren ja noch die beiden Großen. Dieser verbrecherische Krieg war nun endlich zu Ende. Arbeit gab es genug und so verdienten die beiden Geld und konnten Mama unterstützen. Ilse und Erika hatten beide den Beruf einer Kontoristin erlernt, heute würde man Bürokauffrau dazu sagen. Ilse arbeitete als Sekretärin in der Filmfabrik, die einst zum Agfa-Konzern gehört hatte. Erika wurde ebenfalls als Sekretärin eingestellt, in der Farbenfabrik, die nun nicht mehr zur IG Farben gehörte und in der unser Vater gearbeitet hatte. Mit viel Geschick nähten und strickten sie für uns Kleineren neue Kleidung. Natürlich konnten sie dafür nicht auf neue Stoffe zurückgreifen. Vorhandenes wurde geändert, repariert oder aufgetrennt, gewendet und auf Mamas Singer-Nähmaschine neu genäht. Das war besonders Erikas Metier. Ilse hatte sich mehr aufs Stricken spezialisiert. Alte Pullover wurden aufgeräufelt, die Fäden übers Waschbrett gewickelt und nass gemacht, damit sie wieder ein bisschen glatt wurden. Wenn sie getrocknet waren, musste ich meine Arme ausstrecken und die Wolle wurde in Docken darüber gewickelt. Sollte die Wolle verstrickt werden, musste ich wieder die Arme ausstrecken und aus den Docken wickelte Ilse die Knäuel. Das war immer so nach dem Abendessen und dabei wurde alles Mögliche erzählt, was im Betrieb los war, was in der Zeitung stand, wo es etwas zu kaufen gab und vieles andere mehr.

    Ilse und Erika waren 1946 nach dem Einigungsparteitag in die SED eingetreten, Mama war durch ihre KPD-Zugehörigkeit übernommen worden und so gab es abends oft Gespräche über Partei und Politik, wovon ich nicht viel verstand. Eines ist aber gut in Erinnerung geblieben: ausgiebig wurde über den Verräter Wehner geschimpft, sodass ich viele Jahre glaubte, er sei einer aus Wolfen. Vielleicht war er es auch, aber eigentlich interessiert es nicht.

    Manchmal las auch jemand was vor, zum Beispiel aus den Kalenderblättern, in denen über das Schicksal von Menschen berichtet wurde, die von den Nazis hingerichtet oder zu Tode gequält worden sind. Die letzten Briefe dieser Menschen haben mich tief berührt. Ich saß immer mit offenen Ohren dabei und lernte sehr früh, dass der Faschismus etwas ganz Schlimmes, aber nun endlich vorbei ist.

    Wir Jüngeren hatten natürlich auch unsere Aufgaben. Mama hat jedes Fleckchen im Garten mit Gemüse bestellt und wir haben, mehr oder weniger eifrig, die Pflänzchen gegossen und Unkraut gerupft. Im Herbst zogen Helga, Mama und ich auf die Felder zum Ähren lesen, die dann den Hühnern vorgeworfen wurden. Oder wir luden Körbe und die Kartoffelhacke auf den Handwagen und zogen damit auf die Äcker in der Nähe des Dorfes Thalheim zum Kartoffeln stoppeln. Einmal, ich war fünf oder sechs Jahre alt, entdeckte ich am Feldrand mehrere kleine Häufchen von vielleicht ein paar Kilo Kartoffeln. Während Mama und Helga mit der Kartoffelhacke die Erde durchwühlten, um bei der Ernte unentdeckt gebliebene Kartoffeln zu finden, widmete ich mich den Häufchen am Feldrand. Plötzlich bauten sich zwei schwarze Reitstiefel breitbeinig vor meinen Augen auf, mein Blick glitt furchtsam nach oben und entdeckte zwei in die Hüften gestemmte Arme, böse zusammengezogene Augenbrauen und eine Rotzbremse unter der Nase. Der Bauer schimpfte fürchterlich mit mir, ich musste mein Körbchen ausschütten und Mama die mühsam gestoppelten Kartoffeln vom Handwagen kippen. Weinend zogen wir mit leerem Handwagen nach Hause. Mama schimpfte nicht mit mir, stoppeln war ja erlaubt, aber woher sollte ich wissen, dass die Häufchen nicht dazu gehörten? Man soll halt nicht klauen – obwohl mir damals gar nicht bewusst war, dass ich geklaut hatte. Jahre später habe ich mir zusammen mit anderen Kindern auf den Thalheimer Feldern mit Rübenverziehen ein paar Groschen und eine dick belegte Klappstulle verdient. Das waren aber immer andere Bauern, für den Kerl mit dem Hitlerbärtchen hätte ich keinen Finger gerührt.

    Ich kann nicht behaupten, dass ich je Hunger gelitten hätte, irgendetwas stand immer auf dem Tisch, und wenn es Pellkartoffeln mit Nährhefe waren. Ein Papiersack mit bräunlichen Flocken stand in unserer Waschküche, davon kam ein Teller voll auf den Tisch und jeder stippte vorsichtig seine dampfenden Kartoffeln hinein. Das schmeckte würzig und machte satt. Außerdem kam auch Hilfe von anderer Seite. Unweit unserer Siedlung befand sich das Volkshaus und dort war eine Suppenküche eingerichtet worden. Jeden Tag gingen wir Kinder, die bedürftigen, dorthin und bekamen eine warme Mahlzeit. In meiner Erinnerung war das meist etwas Süßes wie zum Beispiel Haferflockensuppe mit Milch. Mir hat das immer geschmeckt.

    Mit den Küchen- und Gartenabfällen haben wir die Kaninchen in unserem Stall gefüttert und jeden Tag sind Helga und ich über die Wiese vorm Haus gegangen und haben Speckblumen gestochen. Manchmal um Ostern herum fuhr Mama zu Bekannten aufs Dorf und brachte ein Ziegenböckchen mit. Dann kam Onkel Franz und hat das Böckchen beschnitten, damit das Fleisch später auch genießbar ist. Onkel Franz und Tante Emma waren eigentlich nicht mit uns verwandt, sie waren Freunde meiner Eltern. Sie haben uns viel geholfen, auch als Vater im KZ war. Das war nicht ungefährlich, aber sie fanden immer einen Weg, uns etwas zu bringen. Nach Vaters Tod verstärkte sich diese Hilfe noch, und wenn es irgendetwas zu reparieren gab, Onkel Franz war zur Stelle. Er war nicht nur ein geschickter Handwerker, von dem ich heute noch eine gedrechselte hölzerne Schale besitze, sondern auch Kaninchenzüchter. Als Ilses Werner bei uns eingezogen war, fragte er Onkel Franz, ob er mit unserer Zippe mal zu seinem Bock kommen könnte, auf dass es uns nicht an Karnickelbratennachwuchs mangele. Er packte also die Zippe in eine Kiste, schnallte diese aufs Fahrrad und machte sich nach Greppin zu Onkel Franzens Rammler auf. Erwartungsfroh wurden die beiden zusammengesperrt und der Dinge geharrt, die da kommen sollten. Aber statt vorsichtigem Beschnuppern und zärtlicher Liebesspiele fing da ein fürchterliches Hauen und Stechen an, die Fetzen flogen, bis Onkel Franz dem Kampf ein Ende setzte. Er holte die vermeintliche Zippe wieder raus – und siehe da, es war ein Bock. Beschämt zog Werner heimwärts, nachdem die beiden Männer sich von den Lachanfällen erholt hatten. Weitere diesbezügliche Versuche endeten erfolgreicher, zu Festtagen gab es oft Kaninchenbraten.

    In unserer Familie ging es auch immer sehr gastfreundlich zu. Nicht nur Freunde und Verwandte waren gern gesehen, gelegentlich wurden auch Fremde aufgenommen. Etwa 1950, die DDR war gegründet und die erste Volkskammer gewählt, entdeckte unsere Mutter in der „Frau von heute", der ersten Frauenzeitschrift der DDR, einen Bericht über die Malerin Lea Grundig. Lea und Hans Grundig waren Mitglieder der KPD und der proletarischen Künstlervereinigung Asso, die von 1928 bis 1933 legal bestand, von den Nazis verboten wurde, aber deren Mitglieder zum Teil illegal weiterarbeiteten. Die Künstler der Asso sahen ihre Aufgabe darin, die Kämpfe der Arbeiter mit ihren Mitteln zu unterstützen.

    Anfang der 1930er-Jahre wurden meine Eltern von der Partei gefragt, ob sie bereit wären, eine junge Malerin für einige Zeit aufzunehmen. Sie kam dann auch, stellte sich als Lea vor, sie sei 17 Jahre alt und wolle zeichnen. Meine Eltern fragten nicht viel, war das doch die Zeit, wo man sich schon so langsam auf die Illegalität einstellen musste. Morgens zog die junge Frau mit ihrem Skizzenblock los und abends kam sie wieder. Und nun saß Mutter mit der „Frau von heute" da, las und grübelte, betrachtete immer wieder die Fotos, altersmäßig kommt das nicht hin, aber das Gesicht …! In dem Bericht stand auch, dass Lea Grundig Mitglied der Volkskammer sei und da unser Onkel Gustav auch gewählt worden war, bat Mama ihn, die Frau doch mal zu fragen. Onkel Gustav kam aus Berlin mit der Antwort wieder: Ja, das war sie.

    Ich habe Jahre später aufmerksam in den Autobiografien von Hans und Lea Grundig nach Hinweisen auf ihren Aufenthalt bei uns geforscht, konnte aber nichts finden. Vielleicht, weil es sich ja nur um ein paar Wochen handelte. Altersmäßig konnte die Angabe 17 Jahre wirklich nicht stimmen, 1906 geboren, war sie circa 25 Jahre alt, als sie bei uns war. Aber wenn man liest, wie Hans von seiner Lea schwärmt, mit ihrer zarten, mädchenhaften Gestalt, kann man sich vorstellen, dass sie wie 17 aussah. Außerdem hatte sie als Jüdin allen Grund, ihre Identität zu verschleiern.

    Anfang der 1950er-Jahre hatten wir Einquartierung, an die ich mich selber erinnern kann. Werner war Gewerkschaftsfunktionär und zwei junge Männer zogen für ein paar Wochen bei uns ein. Das waren Stahlarbeiter aus Oberhausen-Sterkrade und sie nahmen hier an einem Gewerkschaftsseminar teil. Später wohnten noch gelegentlich Studenten bei uns, die in den Chemiebetrieben ein Praktikum absolvierten.

    Platz dafür war in unserem Haus. Erika und Werner hatten inzwischen eine eigene Wohnung bekommen, zunächst eine kleine Dachkammer in Greppin. Lore fing nach dem Krieg als Hilfsarbeiterin in der Farbenfabrik an und 1948 folgte sie einem Aufruf der FDJ zur Arbeit in der Wismut, die damals sowjetische Aktiengesellschaft war.

    Helga war die erste unserer Familie, die mehr als die üblichen acht Klassen absolvierte, Mittelschulen waren zwei oder drei Jahre vorher eingerichtet worden. Danach ging sie nach Altenburg an das Institut für Lehrerbildung und mit bestandenem Examen als Grundschullehrerin nach Mecklenburg in eine Dorfschule. Dort lernte sie ihren Wolfgang kennen.

    Weihnachten waren aber alle zu Hause, egal, wohin es sie verschlagen hatte. Mamas Stollen waren nach wie vor begehrt, aber mit zunehmendem Alter und Krankheit fiel ihr diese Arbeit immer schwerer. Ilse und Werner waren die ersten Trabi-Besitzer unserer Familie. Es bürgerte sich ein, dass sie jedes Jahr im Dezember nach Dresden fuhren und auf dem Striezelmarkt Dresdener Stollen einkauften. Die Dresdener nennen ihre berühmten Stollen Striezel und deshalb heißt der Weihnachtsmarkt schon seit dem Mittelalter Striezelmarkt. 1427 wurde erstmalig ein Striezel dem sächsischen Hof als Weihnachtsgeschenk überreicht.

    Schwester und Schwager luden also den Kofferraum voll und jeder, der eine bestimmte Anzahl bestellt hatte, bekam seine Stollen frei Haus geliefert. Als ich schon längst in Rostock wohnte und eine eigene Familie hatte, kriegten wir unseren echten Dresdener Stollen per Post. Die weihnachtlichen Familientreffen hörten aber so langsam auf, die Runde war einfach zu groß geworden. Meine Schwestern und ich hatten eigene Familien mit mehr oder weniger vielen Kindern und unsere Mutter war nach jahrelanger Krankheit gestorben, als ich dreißig war.

    Unsere Weihnachtsfeste waren übrigens immer sehr weltlich. Für uns war und ist Weihnachten das Fest des Friedens, der Liebe, der Familie. Kirche spielte bei uns keine Rolle. Unsere Eltern hatten Lore, Helga und mich schon gar nicht mehr taufen lassen und die beiden Großen sind gleich nach dem Krieg aus der Kirche ausgetreten. Wir sind Atheisten und wenn der Begriff nicht als Schimpfwort gebraucht werden würde, könnte man uns auch als Gottlose bezeichnen. Später hörte ich manchmal, wir seien Heiden, aber das ist falsch. Heiden glaubten an Naturgötter, bevor sie, manchmal auch gewaltsam, christianisiert worden waren. Einmal hatte ich ein Erlebnis, das mich doch über Kirche nachdenken ließ, allerdings im negativen Sinn. Ich war neun oder zehn Jahre alt und es war Sommer. Auf unserem Hof erschien eines Tages ein älterer Mann und wollte Ilse sprechen. Mama sagte ihm, dass Ilse nicht da sei, die Familie Hofmann wäre in den Urlaub gefahren. Da wurde der Mann richtig böse, schimpfte wie ein

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