HEIMAT: 80 Jahre weiter...aber nicht reifer?
Von Andreas Lübke
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HEIMAT - Andreas Lübke
HEIMAT
H E I M A T
Titel Seite
Sanft fallen Schneeflocken auf Wege und Straßen. Ein gelungener Start in den Dezember - so möchte man meinen. Im vergangenen Winter hat es so gar nicht schneien wollen. Ich bin kein Freund von Schnee, wahrlich nicht, aber heute - irgendwie hat es was Friedliches, ein Hauch von Normalität in diesem so unwirklichen Jahr. Beinahe gefällt es mir. Bei allem Gerede von Relevanzen, Inzidenzien, Lockdowns ist dieser gemütliche Schneefall beruhigend und ablenkend zugleich.
Und doch betrachte ich es wie durch einen Schleier, wie ein Besucher von einem anderen Planeten, jemand, der sich gar nicht vorstellen kann, wie wirklich dies alles ist. Vielleicht ist es eine art Abwehrhaltung, ein Versuch, unangenehme Dinge nicht an mich heranzulassen. Ich schweife ab, frage mich, wie wohl Generationen vor mir mit so schwierigen Situationen umgegangen sein müssen.
Was für eine schwierige Situation ist es eigentlich, die ich hier zu beschreiben versuche? Es ist nicht einfach, das in wenigen Worten und ohne eine Art von Wertung zu erklären. Unbestritten dürfte jedoch sein, dass sich innerhalb von einem knappen Jahr das Leben sämtlicher Menschen auf der Erde verändert hat. Niemand kann mehr genauso weiterleben, wie es die Menschen noch in 2019 konnten. Jeder/jede und alles wurden eingeschränkt. Ein einfacher Virus hat es geschafft, dass wir uns auf unserer Erde nicht mehr frei bewegen können. Für so einen gravierenden Eingriff in die Menschenrechte waren früher Kriege nötig. Heute reichen ein paar kleine infektiöse organische Strukturen, um die Welt aus den Angeln zu heben. Es ist gerade einmal ein paar Tage her, dass Joe Biden, der designierte 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, auch klar gesagt hat, dass wir uns „im Krieg mit dem Virus" befinden.
Wir Menschen in Europa sind größtenteils seit 75 Jahren von Kriegen verschont geblieben. Ich bin 55 Jahre alt und kenne den Krieg nur aus Erzählungen. Schon aus diesen Erzählungen, aus Filmen und nicht zuletzt auch aus der Schule ist mir klar geworden, dass es auf Erden nichts geben kann was fürchterlicher und zerstörerischer ist als ein Krieg. In Kriegen zeigt sich das hässlichste Gesicht der Menschen, manchmal jedoch auch Güte, Gnade und Mitgefühl. Sollte ich mich jetzt also selber in so einer Situation wiederfinden? Etwas, was ich für „ausgestorben" hielt, nur Urvölker und Verrückten vorbehalten, hat sich in meinen Alltag geschlichen. Klammheimlich wurde mir verboten, mich mit Menschen zu treffen, die ich liebe, wurde mir die Arbeit genommen, die Freiheit aus dem Haus zu gehen, wann mir danach ist. Ja…genau so etwas kannte ich aus Erzählungen. Nun bin ich also mittendrin.
Das Arbeitsverbot, welche die bayerische Staatsregierung über mich verhängt hat, ich werde sicherlich später noch genauer darüber zu sprechen kommen, erlaubt mir, tiefer zu graben. Ich habe jetzt die Zeit, um noch einmal genau nachzuforschen, wie es denn im Krieg war. Zum Glück leben meine Eltern noch. Ich habe also meine Mutter beauftragt, Details und Einzelheiten aus dem Leben meines Vaters, Jahrgang 1936, zu sammeln. Ich erinnere mich selber an viele Kleinigkeiten, die er immer mal als „Anekdoten" zum Besten gegeben hat. Daher war mir klar, hier sehr viel Interessantes erfahren zu können, um mal zu vergleichen, ob es wirklich wahr ist, daß wir plötzlich im Krieg sind…
Wir haben mittlerweile unser Weihnachtsfest hinter uns. Weihnachten im Krieg. Ohne Gottesdienste. Ohne Zusammenkünfte mit der gesamten Familie. Auch das Neue Jahr wurde begrüßt - leise und einsam. Nähe zu anderen Menschen gilt als gefährlich. Nähe ist es jedoch, was Menschen brauchen, wenn sie traurig sind. Wir sind doch alle etwas traurig über diesen Krieg? Das scheint jedoch niemanden in verantwortlicher Position zu interessieren. Das Vorgehen, Menschen voneinander fernzuhalten, erscheint alternativlos. Mögen Historiker und Geschichtenschreiber in Zukunft darüber urteilen, ob es das dann auch wirklich wahr. Auch in den „normalen" Kriegen war man oft erst hinterher schlauer und konnte die handelnden Personen bewerten - und manchmal auch für Ihr Handeln zur Rechenschaft ziehen.
Das Wort „alternativlos erscheint mir jedoch wirklich sehr anmaßend und jeglichen Widerspruch im Keim erstickend. Da jedoch alle sich einig sind, dass wir es mit einer Bedrohung zu tun haben, die wir nicht genau kennen, kann auch niemand behaupten, „alternativlose
Lösungen zu haben. Soviel Größe könnte man doch vielleicht selbst in einer Machtposition haben.
Wer also dieses Wort so inflationär benutzt, wie Politiker der Jetzt-Zeit, hat wohl wirklich nichts aus der Geschichte „echter Kriege" gelernt.
Ich mache mich also auf die Zeitreise und versetze mich in meinen Vater, genau vor 80 Jahren.
Mein Name ist jetzt also Hans-Jürgen, ich bin 4 Jahre alt und in meiner Heimat Loepersdorf liegt so eine riesige Menge von Schnee, dass es für mich als Kind einfach nur eine Wonne ist. Weihnachten war für mich so ein wunderbares Fest, dass ich mich heute schon auf nächstes Jahr freue, wenn endlich wieder Weihnachten ist. Mein Papa Emil spielte zum Mitsingen die schönsten Weihnachtslieder auf der Handharmonika oder manchmal auch mit der Mundharmonika. Das klang so toll und alle sangen wir fröhlich mit. Sogar die Kinder des Gutsherrn blieben vor unserem Wohnzimmerfenster stehen und sangen, leider meistens sehr laut und noch falscher, „Oh Du selige Weihnachtszeit"…Schon Wochen vorher wurde unser Weihnachtsbaum aus dem Wald geholt. Alle Gutsbewohner machten das so. Wir hatten ihn mit selbst gebackenen Keksen und Äpfeln geschmückt. Am Ende wurden weiße Kerzen darauf gesetzt. Zum Essen gab es dann Karpfen, frisch aus dem Karpfenteich des Gutshofes. Ich habe ein Schaukelpferd von Weihnachtsmann bekommen, der sehr verdächtig nach Papa aussah. Aber das konnte natürlich nicht sein. Das Schaukelpferd hatte sogar einen Schwanz aus echtem Pferdehaar. Ich genoss auch den Kirchgang, 3 km hin nach Stramehl, 3 km wieder zurück. Aber dieser Sternenhimmel…die Milchstraße…die ganze fröhliche Weihnachtsstimmung entschädigte mich vollends für diesen langen Marsch.
Papa arbeitet ganz viel. Er ist Leiter der Rittergutsgärtnerei der Familie von Loeper. Prima, habe ich mir immer gedacht, weil ich weiß, wie der Herr Gutsherr heißt, weiß ich auch, wo ich wohne. Weil mein Papa so viel arbeitet, hatten wir ganz viel zu essen zu Weihnachten. Es gab echtes Fleisch, ganz viel Kartoffeln und Soße.