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Ausgerechnet Mallorca
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eBook301 Seiten4 Stunden

Ausgerechnet Mallorca

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Über dieses E-Book

Die DDR im Jahre 1989. Selma sucht das Weite. Auf ihre erste Flucht über die Prager Botschaft, folgte eine zweite. Westdeutschland war nur eine Durchgangsstation. Wer ja sagt zu seiner Freiheit, darf sie leben! Was folgt, ist ein amüsanter Spagat zwischen Fernweh und der Suche nach Identität. Ein hoffnungsvolles Porträt mit Inspiration und Augenzwinkern, vor allem für andere liebenswerte Träumer, die rastlos irritiert durch die Welt streunen. Eine Liebeserklärung.
SpracheDeutsch
Herausgebertredition
Erscheinungsdatum14. Juli 2014
ISBN9783849583958
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    Buchvorschau

    Ausgerechnet Mallorca - Selma Nentwig

    Die Schönheit von Grau

    Es ist nicht zu leugnen.

    Wir alle beurteilen Menschen doch irgendwie erst einmal nach dem Zufall ihrer Geburt. Wo kommst du her? In meinem Fall, lässt sich ein gewisser Migrationshintergrund nicht abstreiten. Inzwischen habe ich gelernt, dass Bonanza nicht nur ein Fahrrad und Banjo ein Schokoriegel war. In meiner Kindheit gab es weder Monopoly, Risiko oder MAD. Unser „Lego hieß „Formo und unsere Superhelden waren Fix und Fax und nicht Fix und Foxi.

    „Keine Ahnung, die kenne ich nicht. Ich komme doch aus dem Osten."

    „Ach?! Hört man gar nicht."

    Offensichtlich sieht man es mir auch nicht mehr an. Entspannt lehne ich mich zurück. Dem folgt gewöhnlich der ein oder andere nachsichtige Blick, dann wird auch meist schon das Thema gewechselt.

    Immerhin. Wir leben im Jahr 2014. Bald liegt der Fall der Mauer länger zurück, als es die DDR überhaupt gab. Irgendwann bin auch ich nur noch ein verstümmeltes Fossil einer Zeit, welche lediglich in Geschichtsbüchern erwähnt wird. Die eigene Vergangenheit aufzuschreiben ist weiß Gott keine revolutionäre Idee, selbst Boris Becker kann das. Aber das soll mich auch nicht davon abhalten. In Ermangelung der Enkelkinder, denen ich davon berichten könnte, bringe ich sie eben zu Papier, solange sie noch da ist, die Erinnerung. Es soll kein weiterer nostalgischer Rückblick eines Zonenkindes werden. Versprochen. Und wenn schon, dann äußerst geschickt getarnt.

    In erster Linie möchte ich davon erzählen, wie ich bedächtig aus meinem Kokon kam und den Streifzug durch die lang ersehnte Freiheit erlebt habe.

    Stell Dir vor, du wirst in Ostdeutschland geboren, in der grauen Realität zwischen Leipzig und Magdeburg, in einer kleinen damals noch 5000-Seelen-Gemeinde. Nein, es war kein niedliches „Unser Dorf soll schöner werden-Idyll. Ein wahres Nest ohne geringste Charmeoffensive. Der nächste echte Wald war der Harz, welcher fünfmal im Jahr erobert wurde. Mit dem Trabbi natürlich, gewienert und poliert, zwei gefühlte Tagesreisen entfernt. Unser höchster Berg hieß „Elefantenbuckel, 400 Meter über dem Saalespiegel. Alles war überschaubar. Die Akazie auf dem Bäckerplatz, der Kindergarten mit dem dottergelben Klettergerüst, die neue „Hans-Beimler"- Schule, die Post mit dem einzigen Telefon im Ort, Konsum und LPG-Kolchose. Ein kleiner Bahnhof war das Tor zur Welt. Dort gab es immerhin zwei Gleise. Rein und raus. Das Raus hielt sich bekanntlich in Grenzen. So blieb auch niemand außen vor. Nicht unbemerkt.

    Es gab einen top gepflegten Sportplatz, ein Kino in dem man für 50 Pfennig „Ernst Thälmann - Sohn seiner Klasse und Mitte der Achtziger sogar „Dirty Dancing betrachten konnte. Freundliche Kleinigkeiten wie ein Krankenhaus, eine Apotheke, fließendes Wasser und Steckdosen waren vorhanden. Ebenso ein Kraftfuttermischwerk und die Molkerei. Naturgemäß auch einen Friedhof. Das war wohl der beschaulichste Ort im Ort. Hier waren die Dinge noch in Ordnung, oder schon wieder. Die Leute grüßten sich freundlich, wenn sie genügsam zufrieden mit ihren Gießkannen und den sorgsam aufgesammelten welken Blättern zum Komposthaufen schlenderten. Käuzchen waren zu hören. Es wurde zusammen gegraben, geweint, geplaudert, geputzt und so manches reizende Muster vor die Gräber der Lieben geharkt. Schon damals fragte ich mich, wie viel gepflegte Langeweile darin steckte.

    Hier wuchs ich also auf. Zwischen Honecker-Bildern und Westpaketen, zwischen „Schwarzem Kanal und der „Tagesschau, Pionierhalstuch, Eierlikör und Intershop. Die Generation Trabant. Man durfte nicht sagen was man denkt oder tun was man wirklich wollte. Das muss man an der Stelle nicht dramatisieren, aber diese Jahre waren sicherlich prägend. Das Thema wurde längst hinreichend, besprochen, beschrieben und verfilmt. Tatsächlich war es so wie in „Good Bye Lenin oder „Das Leben der Anderen. Nur war es eben nicht das Leben der Anderen, ich war mitten drin. Wenn mir heute danach ist, schiebe ich ganz selbstverständlich die ein oder andere Marotte auf diese kuriose Zeit.

    Im Großen und Ganzen fühlte ich mich wohl und hatte eine behütete Kindheit. Putzige Erinnerungen an den weißen Quietschhund im Laufstall, das erste Mal „Pan Tau" im Farbfernsehen, mein eigenes Radieschen-Beet im Garten, bis hin zum geschmuggelten Limahl-Poster an der Wand. Prinzipiell gefahrlos und fröhlich. Sorgenfreie erste Jahre, auch ohne Sesamstraße und Nutella-Glas.

    Alles was ich beeinflussen konnte, machte ich mit höchstem Ehrgeiz und unnachgiebigem Einsatz. Auf dem Papier war ich die Klassenbeste. Dadurch saß ich kompakt im Sattel und war die, die beim morgendlichen Fahnenappell vor der ganzen Schule die „Wir sind bereit - Meldung" an den Direktor aufsagen durfte. Nicht ganz ohne Stolz. Wozu das gut war, wurde einfach nicht hinterfragt. Das gehörte sich so. Kollektiverziehung.

    Ich habe keine Geschwister und irgendwann aufgegeben mich darüber zu beklagen. Für einen Big Brother war es eh zu spät. Schließlich gab es Gleichaltrige, mit denen ich auf dem Bäckerplatz Mutter-Vater-Kind spielen konnte. Mir wurde immer die schnöde Vaterrolle zugeteilt. Daher bevorzugte ich Kästchenhüpfen oder Seilspringen. Gut, dass es damals keine Computer gab. Dafür hätten wir überhaupt keine Zeit gehabt. Wie man weiß, stellten wir uns im größten Teil unserer Freizeit irgendwo an. In Erwartung eines ofenfrischen Brotes, Radeberger Exportbier oder einer Rolle Dachpappe. Ohne Futterneid. Geduldig stand man in einer Schlange und fragte nur gelegentlich nach, was es gab. Die Begeisterung über die Beute war unbezahlbar. Man bejubelte selbst kleinste Dinge, welche ich heute, ohne jede freudige Regung, lustlos in den Einkaufswagen lege.

    Eine staatlich geprüfte Obst- und Gemüse-Fachverkäuferin der DDR, hatte durchaus das Zeug zu einem Profiler beim FBI. Meisterhaft konnte sie Gesichter und Verwandtschaftsverhältnisse erfassen. Pro Familie gab es ein Kilo kubanischer Orangen und an Weihnachten sogar die Guten aus Israel. Das war zwar wenig originell, aber so freute man sich umso mehr aufs Fest.

    Die angenehmsten Erinnerungen habe ich an Oma Helene und Opa Franz. Wie gern brauste ich nach der Schule eilig in die „Große Freiheit. Auf meinem himmelblauen Fahrrad, mit wehendem blonden Haar. Die „Große Freiheit war eine lange trostlose Straße und endete am Gasthof „Bürgergarten. Der „Bürgergarten war elementarer Schauplatz nahezu aller Hochzeiten, Todesfälle und sonstiger privater Feierlichkeiten. Nur für die Jugendweihe war explizit das Kulturhaus vorgesehen. Event Location Nummer Eins.

    Oma Leni war eine herzliche, heitere Person, die allzeit nach Frühling roch. Auf hübsche Dekoration legte sie größten Wert. In der Wohnung, sowie an sich selbst. Einmal wöchentlich tippelte sie zum Friseur und zog sich noch mit siebzig Jahren Augenbrauen und Lippen nach. Mit dem Wort „Oma konnte sie sich nie anfreunden, also nannten wir sie „Ma. Sie war eine Frau, die adrett zurechtgemacht, lautstark beim Kartoffeln schälen Operetten trällerte. Nebenbei fütterte sie zweimal am Tag die Hühner und führte gewissenhaft ihr Eierbuch. Sozialistische Eier konnte man nämlich in Eiersammelstellen bringen und bekam auch noch Geld dafür. Das Gleiche galt für Obst und Gemüse. Eigentlich eine feine Sache. So wurde restlos alles abgeerntet, nur vereinzelt purzelte etwas achtlos vom Baum. Nichts war für die Katz, es wurde eingekocht oder eingefroren. Speisen aus Dosen und Gläsern vom Supermarkt waren mir weitgehend fremd. Und wenn überhaupt, hieß der Supermarkt damals „Kaufhalle. Zudem bewirtschaftete jede Klasse eigene Gemüsebeete im Schulgarten. Unsere Gurkentruppe finanzierte sich damit den Ausflug zum Zoo. Offiziell „Wandertag genannt. Das Entscheidende war jeden Spatenstich vereint zu tun, kein Platz für Individualisten.

    Mein Opa brachte mir Schach, Skat und Halma bei. Dazu noch eine Prise Lässigkeit. Er hetzte sich nicht. Nach „Höfers Frühschoppen" fand man ihn sonntags gern unrasiert und mit Hosenträgern, pfeifend auf der Gartenschaukel. Wenn er dort so zwischen Birnbaum und Gewächshaus saß, baumelte er zufrieden mit den Beinen. Dabei verdrückte er ab und zu eine klebrige Weinbrandbohne und wünschte sich an keinen anderen Platz.

    Als Leni sechzig Jahre wurde, durfte sie regelmäßig ihre Geschwister in Westdeutschland besuchen. Fränzchen erst ein paar Jahre später. So brach sie also allein auf und ließ ihn als „Pfand zurück. Ich durfte mich dann um ihn kümmern. Wie Rotkäppchen hatte ich einen Korb mit Kuchen und Wein dabei. Er kochte sich einen „Rondo-Kaffee und die Küche roch nach Bratäpfeln und Glück. Später durfte ich sogar noch „Dalli Dalli" mit ihm schauen. Ich kann mich noch gut erinnern, als auch mein Opa Rentner wurde. Endlich war ihm gestattet auf große Fahrt zu gehen! Als er zurückkam, federte sein Gang wie bei James Cook nach der ersten langen Südsee-Reise. Seine Augen strahlten. Wie ein Schneekönig freute er sich, als er mir den prächtigen Kölner Dom beschreiben konnte. Fasziniert saß ich mit ihm auf der braunen Ledercouch und er wollte gar nicht mehr aufhören, zu erzählen. Wie Käpt’n Blaubär, der von einem fernen Land hinterm Regenbogen sprach. Gebannt lauschte ich seinen Geschichten, aber richtig glauben konnte ich ihm nicht. Wollte man das glauben?

    Franz hatte ein Gesicht wie eine Landschaft. Sein Leben lang hat er davon geträumt eines Tages noch die Alpen zu sehen. Sein persönlicher „Alptraum", Österreich und die Berge. Nur durch den Krieg war er, wie viele dieser Generation, überhaupt einmal in ein anderes Land gekommen. Eher unfreiwillig. Dabei hatte man kaum Sinn für Sightseeing. Hin und wieder erwähnte er die Tage in Biarritz. Gedankenvoll kramte er dann und wann alte vergilbte Postkarten aus einem Schuhkarton. Immerhin hatte er in diesen schrecklichen Zeiten, einmal das Meer gesehen. Zum ersten und letzten Mal.

    Meine Großeltern waren für mich das Maß aller Dinge. Ein Traumpaar. Selten fiel ein böses Wort. Sie lachten viel, mit und über einander. Ihr Zusammensein betrachteten sie nie als selbstverständlich. Vielleicht hatte das auch mit ihrer Geschichte zu tun.

    Über die Vergangenheit zu sprechen, wurde weitgehend vermieden. Nur ein paar Bruchstücke und Familienfotos konnte ich ihnen entlocken. Während der letzten Kriegsmonate, saß die junge Helene, gemeinsam mit ihren Geschwistern, in einem Zug ohne Ziel. Sie war mitten auf der Flucht und dabei hochschwanger. Auf alten Fotos wirkt sie stets zierlich und anmutig. Von ihrem Mann Franz hatte sie seit Wochen nichts mehr gehört. Es wurde ein Weggang für immer als sie ihre Heimat, das Städtchen Gleiwitz, verlassen musste. Es war kurz vor Leipzig, als sie an einem Bahnsteig ungläubig in ein vertrautes Gesicht blickte. Zufall! Franz war einige Tage zuvor von der Front entlassen worden, weil er eine Infektion bekam. Vermutlich rettete ihm das sein Leben. Unverhofft traf er dadurch Leni wieder. Das Schicksal wollte es so. In Eilenburg kam bald darauf meine Mutter zur Welt. Alle acht Geschwister meiner Oma zogen 1945 weiter in den Westen. Nur meine Großeltern bauten sich im Ostteil Deutschlands ein neues zu Hause auf, bekamen später noch ein zweites Kind. In all den Jahren, gab es eine Kraft, die größer war als Angst und Kummer. Ihre Liebe. Man nahm keine Antidepressiva oder ging in Therapie. Man musste einfach stark sein. Zusammenhalten. Geschichten wie diese, gab es in vielen Familien jener Zeit. Und das ist nur die Kurzfassung. Viele Paare und Geschwister wurden getrennt. Durch den Krieg, auf der Flucht und noch Jahre später, durch eine sinnlose Mauer. Warum erwähne ich das alles? Weil mir mein eigener Weg dagegen äußerst komfortabel erscheint. Es ging nie um Leib und Leben.

    Mein Opa starb im Januar 1987. Viel zu früh für uns alle und zu früh für die Alpen.

    Unmittelbar nach seiner Beisetzung, entdeckte ein eifriger Genosse im Rathaus, dass Helene in der „Großen Freiheit nun allein zu viel Platz hatte. Platz wurde klar geregelt. Durch sozialpolitische Maßnahme wurde sie kurzerhand in das Haus meiner Eltern umquartiert. In ihre „Kleine Freiheit, sozusagen. Dort kam sie mir nie wirklich zu Hause vor, eher wie auf Besuch. Zudem verlor sie ohne Franz rasch an Kraft und Lebensmut.

    Es gab noch eine zweite Oma, auch Tante, Onkel und Cousine, ganz in der Nähe. Jedoch erlaubten mir meine Eltern nicht, mit ihnen zu sprechen. Aus lauter Keckheit grüßte ich Oma Hilde zuweilen beim Bäcker. Ein zaghaftes Nicken war offen erkennbar, jedoch erwiderte sie niemals ein Wort. Eigenartig, aber ich habe keine Ahnung welches Familiengeheimnis da gehütet wird.

    Wenn ich an meine Eltern denke, dann eher an unser schwieriges Verhältnis in diesen Jahren. Meine Mutter war auf unbestimmte Weise nicht der Typ, der mir versonnen liebevoll durch die blonden Haare bürstete. Sie hielt sie kurz und im Zaum. Kurzbob mit Fransen. Pragmatisch. Es gibt die einen, die dich ungefragt unterstützen, ermutigen und dir mit Rat und Tat zur Seite stehen auf deinen manchmal holprigen Wegen. Es gibt aber auch die anderen, die nie aufhören dir ein schlechtes Gewissen zu machen und bei denen du dir alles erkämpfen musst. Meine gehörten zur zweiten Gruppe. Seinerzeit. Helden der Arbeit.

    In meiner Jugend hatte ich niemals den Eindruck, ihre Erwartungen erfüllen zu können. Ich erinnere mich, dass es im ersten Schuljahr für jede gute Note eine Mark Taschengeld gab. Als ihnen das irgendwann zu kostspielig wurde, erhielt ich nur noch für jede dritte Eins einen Ehrensold. Wenn ich gefragt wurde, was ich denn mal werden wolle, antwortete ich unverzagt: Grundschullehrerin. Lange Zeit hielt ich das für meine eigentliche Berufung. In den entscheidenden Wochen, gingen meine Eltern mit mir zum Schuldirektor. Überrascht von mir selbst, hörte ich mich mit fester Stimme sagen, dass ich gern Jura studieren würde. Wie verwegen! Ich hatte wohl zu viele Gerichtsfilme gesehen, welche mit der Realität kaum etwas zu tun hatten. Meine Zeugnisse waren tadellos. Zehn Jahre hatte ich mich politisch einwandfrei verhalten. Doch der Direktor erklärte mir schnörkellos, das wäre ohne „spezielle Beziehungen" für mich nicht vorgesehen. Das Jurastudium gehörte zu den am stärksten reglementierten Studiengängen. Außerdem hatte ich Englisch und nicht Französisch als zweite Fremdsprache gewählt. Böser Fehler. Und überhaupt! Es blieb was es war, unerhört! Ich weiß bis heute nicht, was ich hätte anders tun sollen. Am Ende war ich sogar zu unsicher meinen größten Wunsch, erst einmal das Abitur zu machen, durchzusetzen. Meine Familie sah mich ohnehin lieber in der kleinen feinen Apotheke um die Ecke. Ich tat wie mir geheißen und begann eine solide anständige Ausbildung im sauberen Kittel. Alle waren zufrieden.

    Das Einzige, was mich selbst daran faszinierte, war der Sohn des Apothekers. Wie mein tragisch verstorbener Wellensittich, hieß er Hansi. Hansi Bauer, einer meiner Mitschüler und zeitlose Jugendliebe. Allerdings hat er sich niemals auch nur eine Sekunde ernsthaft für mich interessiert. Hansi hatte tolle braune Augen, war ziemlich groß und athletisch, eigentlich clever, doch aufsässig allem und jedem gegenüber. Welches gehorsame Mädchen, wie ich es war, kann solch einer Mischung schon widerstehen? Ich wäre gern so rebellisch gewesen wie er. In seinen Augen war ich ein Streber und vielleicht brachte er es damit auf den Punkt. Jedenfalls nannte er mich manchmal Professor. In Momenten wie diesen, wollte ich gern aus meiner braven Haut schlüpfen, mit ihm eine Bank ausrauben oder dergleichen. Insgeheim erlaubte ich mir die Illusion, dass ein verträgliches Ende auf uns wartet. Immerhin waren wir im gleichen Monat geboren und lagen bei der wöchentlichen Baby-Wiegestunde immer dicht beieinander. Splitterfasernackt! Allerdings würdigte er mich schon damals keines Blickes und wird sich wohl kaum noch daran erinnern. Wie bedauerlich.

    Ich schweife ab. Jedenfalls lernte ich Apothekenfacharbeiter in der Deutschen Demokratischen Republik. Nach Abschluss der Lehrzeit, in der ich zigtausend Gläser spülen und mehrere hundert Kilo Kamillentee abfüllen durfte, verdiente ich 460 Ostmark. Monatlich. Beruhigend war, dass das Auto, welches ich an meinem 18. Geburtstag bestellte, erst 17 Jahre später lieferbar sein würde. Gewesen wäre. Quasi. Bis dahin hätte ich die zwanzigtausend Mark für den Skoda locker zusammen. Für eine eigene Wohnung musste man als Single locker drei Jahre Wartezeit einplanen. Technischen Firlefanz besaß nur, wer über Beharrlichkeit, Kontakte und Geld verfügte. So durfte man seine Lebenszeit intensiv nutzen. Für Rücklagen und Vorfreude. Dafür sparte man sich bekanntlich die Ausgaben für unnütze Fernreisen.

    Nach fünf Jahren Studienzeit zum Pharmazieingenieur würde ich immerhin etwas mehr verdienen. Stolze 650 Mark. Dieses Studium war der nächste Teil des elterlichen Plans. In jener Lebensphase geschehen die Dinge selten aufgrund einer inneren Entscheidung. Sie passieren einfach. Also sollte es so sein. Ich konzentrierte mich dennoch mehr auf mein Privatleben. Inzwischen war ich volljährig und wollte flüchten. Flüchten vor geregelten ernsten Bahnen, dem Geruch nach Rizinusöl und Wundpuder, den Parteiabzeichen, meinem winzigen Durchgangszimmer zwischen Küche und Bad. Flüchten vor meiner eigenen Vernunft, der Kohleheizung und dem großen Gemeinschaftsgefühl. Ich war achtzehn und wollte meine ganz persönlichen Entscheidungen treffen, verrückte verbotene Sachen machen, Abenteuer, Risiken und Experimente. In diesem Alter will man nicht angepasst sein, will coole Klamotten tragen, endlich erwachsen werden und seinen eigenen Kopf durchsetzen. Stur sein dürfen! Ich wollte weg. Der Klassiker. Einfach nur weit weg. Ich hätte mich vielleicht sogar damit abgefunden, dass es irgendwo Stacheldraht gab und wir nie Westberlin, den Eiffelturm oder Billy Idol live erleben durften. Jedoch habe ich es nicht verstanden, wieso man vom Elbsandsteingebirge nicht einfach an die Ostsee ziehen konnte. Keinen Millimeter. Man brauchte „Zuzugsrecht, welches man natürlich nie bekam, außer man heiratet einen begehrten Rügen-Mann. Meine Eltern besaßen zwar ein Haus, aber ich hatte keinerlei Recht auf ein separates Zimmer. Uns wurden Mieter zugewiesen. Unser kompletter Alltag war kontrolliert, unfrei und eingeschränkt. Die Menschen, die Bananen, ich glaube, selbst die Hunde dackelten reguliert umher. Die Leinen kürzer als die Beine. Wie ferngesteuert. Mein Schicksal in der „Adler-Apotheke zwischen Buna, Leuna und Magdeburger Börde schien besiegelt. Dabei spürte ich schon immer diese ungeheuerliche Neugierde in mir, Lebenslust, Verlangen nach dem Fremden und das dringende Bedürfnis Dinge zu tun, die niemand von mir erwartete.

    Also stürzte ich mich relativ früh ins Liebesleben. Ein Stück Zuneigung, Aufregung und Abwechslung musste her. Es funktionierte. Nach einigen wenig nennenswerten und doch so wichtigen Schwärmereien im begrenzten Angebot einer Kleinstadt lernte ich ihn kennen. Andreas. Einen Typ den meine Mutter todsicher ablehnen würde. Das tat sie auch. Er hatte einen schlechten Ruf, war derb motorisiert und trank regelmäßig eine Überdosis „Goldbrand". Außerdem war er Metzger. Perfekt! Mit ihm fühlte ich mich komplett. Ich war ausbalanciert. Er rückte meinen viel zu artigen Weißkittel-Alltag und meinen Rehblick mit der Jugendweihe-Dauerwelle etwas ins Gleichgewicht. Ich war bereits siebzehn, als ich ihn in einer Dorfdisko kennen lernte. Er hatte nette tolerante Eltern und ein riesiges ungestörtes Zimmer. Wir waren sehr verliebt. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir mal ernsthaft Streit hatten, außer wenn es um Alkohol ging. Fast täglich holte er mich von der Apotheke ab. Immer später kam ich, wenn überhaupt, nach Hause. Meine Eltern applaudierten nicht. Was sollten die Nachbarn denken? Mein Leben hatte plötzlich etwas leicht Lasterhaftes. Nichts Verruchtes, aber wenigstens, etwas tendenziell Böses. Gut so. Gegensteuern.

    Fliehkräfte

    Sommer 1989. Ich hatte gerade meinen 19. Geburtstag gefeiert und war stolz auf meinen Studienplatz. Das klassenfeindliche Westfernsehen zeigte Bilder voller Aufruhr. Hoffnungsfrohe Flüchtlinge am Zaun von Ungarn und vor deutschen Botschaften.

    Es war ein eigentümlicher Sonntagnachmittag. Andreas und ich saßen in der Gaststätte „Burgfrieden". Erlebnisgastronomie. Kai und Sabine, ein gleichaltriges Pärchen, uns gegenüber. Wie damals viele junge Paare waren die beiden bereits verheiratet, in der Hoffnung, so rascher eine Wohnung zugeteilt zu bekommen. Wir diskutierten über dies und das, überwiegend über politische Themen, die wir nicht wirklich verstanden. Unsere Gespräche mündeten meist in der nüchternen Erkenntnis: Es gibt auf der Welt nur einen einzigen Ort in dem die Menschen wie im Zoo lebten. Nicht artgerecht. Überwacht hinter Mauern und Draht. Die DDR. Der blinde Fleck. Mauerblümchen! Klar, heute weiß ich, dass es da noch ganz ähnliche Formen der Käfighaltung gibt. Wie auch immer, ich fand unsere Situation ungeheuer empörend und war fest entschlossen, mich trotzig dagegen zu wehren. Wie angepflockt fühlte ich mich. Wie ein Kind, dessen Spielzeug hoch oben im Regal liegt, unerreichbar. Dabei wollte ich nicht einmal hoch hinaus, sondern mich einfach nur frei bewegen dürfen. Frischluft schnuppern. Meine Fühler ausstrecken. Es roch nach Zweitaktmotor und ich hatte Lust auf den Duft von jungem Frühling. Keine halbdunkle Dämmerung, sondern leuchtend warmes Morgenlicht. In einer Mischung aus hormonell bedingter Abenteuerlust, Auflehnung, Naivität und eingebildetem, wachsendem Bewusstsein, dachten wir ernsthaft an Flucht, überzeugt wir hätten nichts zu verlieren.

    Meine Eltern hatten mich zu keiner Zeit politisch beeinflusst. Zwar waren sie keine Liebhaber des Systems, aber erkannten, dass ich nur Nachteile hätte, wenn wir die Wahrheit diskutierten. Bei ambivalenten Versuchen, mich mit Ihnen auseinander zu setzen, blieben sie sachlich ruhig und meinten, ich solle meine eigenen Erfahrungen machen, stets bemüht sich neutral zu verhalten. Rückblickend halte ich das für das einzig Richtige. Schließlich fuhr ich im Schüleraustausch nach Moskau und wollte meinen Studienplatz behalten.

    Es ist schwer zu rekonstruieren, was den nächsten Schritt auslöste, welcher alles in Gang setzte. Andreas und ich stellten gemeinsam einen Ausreiseantrag. Ganz offiziell. Allerdings wusste sonst niemand davon. Bereits wenige Tage später, lud man uns vor. Zum „Rat des Kreises. Wir wurden freundlich platziert. Mit gezielt zynischen Bemerkungen, drohte man mir dann mit baldiger Abschiebung. Andreas sollte jedoch mit unmittelbarer Einberufung zur Wehrpflicht rechnen. Wir wollten unbedingt zusammen bleiben. Das blieb auch dem engagierten „Funktionär unterm Willi Stoph-Bild nicht verborgen. Unser wunder Punkt. Da wir nicht verheiratet waren, hatte man das gute Recht uns zu trennen. Wir dagegen, hatten nicht einmal ein Recht auf Pflichten. Also zogen wir reumütig den Schwanz ein und den Antrag zurück.

    Es war eine seltsame Zeit. Wir hatten Lampenfieber ohne konkreten Auftritt und dachten nur noch an eine goldene Zukunft im Westen. Wir sind ein Volk und so.

    Auch der zweite Versuch verlief eher suboptimal. Wir hatten vor, nach Ungarn zu reisen. Dort wollten wir möglichst effizient über die grüne Grenze marschieren. Wie die unzähligen neuen Helden aus der Tagesschau. Allerdings war es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr so einfach, überhaupt nach Ungarn einzureisen. Unser Gesuch wurde abgelehnt. Wir benötigten eine entsprechende private Einladung, welche ich schließlich für Dezember beschaffen konnte. So gingen wir also zum Reisebüro (Hoho! Es gab ein Reisebüro!) und buchten einen Besuch bei „Freunden". Das wurde ganz offiziell genehmigt. Im Weihnachtsfest 1989 lag also unsere nächste große Hoffnung. Wir hatten August!

    Täglich wurden sie mehr, die Fernsehbilder von frei laufenden glücklichen Ossis, die es tollkühn geschafft hatten. Über Botschaften, durch Flüsse, Seen, Felder, Wiesen oder auf dem Luftweg. Der Letzte macht das Licht aus. Zunehmend machte sich das Gefühl breit, wir müssten etwas riskieren, es war nicht befriedigend jeden Montag auf Demos ein entschlossenes Gesicht zu zeigen. Ein Schlachtplan musste her! Kai und Sabine verfügten über einen alten, schrottreifen Wartburg. In der Trendfarbe bahamabeige. Unser Fluchtfahrzeug! In unseren Kinderzimmern schmiedeten wir geheime Pläne für den Tag X und fühlten uns wie Mafiabosse, die einen großen Clou einfädelten. Wenn ich heute darüber

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