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Gott oder nichts: Ein Gespräch über den Glauben
Gott oder nichts: Ein Gespräch über den Glauben
Gott oder nichts: Ein Gespräch über den Glauben
eBook456 Seiten15 Stunden

Gott oder nichts: Ein Gespräch über den Glauben

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Über dieses E-Book

In diesem autobiografischen Interviewbuch gibt Robert Kardinal Sarah, einer der prominentesten und freimütigsten katholischen Kardinäle, Zeugnis von seinem Glauben und kommentiert viele aktuelle Themen. Das meistdiskutierte und wichtigste katholische Buch des Jahres 2015!
Aus dem Vorwort von Erzbischof Georg Gänswein: "Es ist die Radikalität des Evangeliums, die dieses Buch inspiriert, die Radikalität, die schon viele Glaubenszeugen bewegt und angetrieben hat, die Radikalität einer unausweichlichen Entscheidung, vor der letzlich jeder einzelne Mensch steht, wenn er früher oder später in seinem Leben, den Ruf Christi hört, ihn ernst nimmt, ihm nicht länger ausweichen will und endlich darauf antworten muss. Dann versteht er, dass seine ganze menschliche Existenz auf diese eine Frage zuläuft: Gott oder nichts!"
SpracheDeutsch
HerausgeberFe-Medienverlag
Erscheinungsdatum11. Sept. 2015
ISBN9783863571382
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    Buchvorschau

    Gott oder nichts - Robert Sarah

    abwechseln

    Inhaltsverzeichnis

    Vorwort von Erzbischof Georg Gänswein

    Einleitung von Nicolas Diat

    Die Zeichen Gottes im Leben eines Kindes Afrikas

    Der Stern der Heiligen Drei Könige

    Von Pius XII. zu Franziskus – Die Päpste eines Lebens

    Auf der Suche nach der Kirche

    Die Eckpfeiler und die falschen Werte

    Fragen der postmodernen Welt

    Um in der Wahrheit zu stehen

    Das Geheimnis der Sünde und die großen Zweifel

    Evangelii Gaudium – Die Freude des Evangeliums nach Papst Franziskus

    Gott spricht nicht, doch seine Stimme ist deutlich vernehmbar

    Quellenangaben

    »Denn für Gott ist nichts unmöglich.«

    Lk 1,37

    »Zuallererst sollt ihr einmütig zusammenwohnend, wie ein Herz und eine Seele auf dem Weg zu Gott sein.«

    Heiliger Augustinus

    »Weil der Mensch der Welt seinen Ort, sein Schicksal, seine Idole ändern will und diese ständig ändert, muss der Freund Gottes an dem Ort bleiben, an den Gott ihn gestellt hat. Zwischen den Freunden Gottes und der Welt besteht nämlich ein Gegensatz und ein Bruch. Wofür sich der eine entscheidet, lehnt der andere ab. Andernfalls gäbe es nicht zwei Lager mehr, sondern ein einziges: die Welt.«

    Père Jérôme

    Zu den Wurzeln!

    Vorwort von Erzbischof Georg Gänswein

    Dieses Buch ist radikal. Natürlich nicht in dem Sinne, in dem wir das Wort heute oft benutzen, etwa mit Blick auf Protestformen und extreme politische Ansichten. Nein, es ist die Radikalität des Evangeliums, die dieses Buch inspiriert, die Radikalität, die schon so viele Glaubenszeugen bewegt und angetrieben hat, die Radikalität einer unausweichlichen Entscheidung, vor der letztlich jeder einzelne Mensch steht, wenn er, früher oder später in seinem Leben, den Ruf Christi hört, ihn ernst nimmt, ihm nicht länger ausweichen will und endlich darauf antworten muss. Dann versteht er, dass seine ganze menschliche Existenz auf diese eine Frage zuläuft: Gott oder nichts!

    Robert Kardinal Sarah hat keine Scheu, über die Radikalität des Evangeliums zu sprechen und ihr eine schonungslose Zeitanalyse gegenüberzustellen. Überzeugend zeigt er auf, dass es sich bei den neuen Formen des Atheismus und der Gottesgleichgültigkeit nicht einfach um gedankliche Irrwege handelt, die man auf sich beruhen lassen könnte. Vielmehr sieht er in den tiefgreifenden moralischen Transformationen unserer Gesellschaften eine existenzielle Bedrohung nicht nur des Christentums, sondern der menschlichen Zivilisation schlechthin. Erst verschwindet Gott, dann macht sich der Mensch selbst zu Gott: »Heute führt die Gottesfinsternis in den reichen und mächtigen Ländern den Menschen zu einem praktischen Materialismus, zu einem chaotischen oder übermäßigen Konsum und zur Schaffung von falschen moralischen Normen. Das materielle Gut und die sofortige Befriedigung werden zum alleinigen Lebensinhalt. Am Ende dieser Entwicklung geht es noch nicht einmal mehr darum, gegen Gott zu kämpfen; Christus und der Vater werden ignoriert. (…) Die neue Regel lautet: den Himmel zu vergessen, damit der Mensch total frei und autonom sei.«

    Dass in dieser prekären Lage der Auftrag, das Evangelium glaubwürdig zu verkünden, an Dringlichkeit gewinnt, steht für Kardinal Sarah außer Frage. Hier steht einer auf, der eine müde gewordene Glaubenswelt wieder wachrütteln will, indem er unumwunden sagt, worum es für die Kirche in dieser dramatischen Situation tatsächlich geht: »Um eine radikale Änderung des konkreten Lebens zu bewirken, muss die Lehre Jesu und der Kirche das Herz des Menschen erreichen.« Wo ihr das nicht gelingt, sieht er die Lösung nicht etwa in Anpassung an die Lehren des Hier und Jetzt, sondern in einer selbstkritischen Reflexion über die Mängel der Verkündigung: »Dabei geht es nicht darum, die Forderungen des Evangeliums aufzuweichen oder die Lehre Jesu und der Apostel zu ändern, um sich an die sich verflüchtigenden Moden anzupassen, sondern um uns selbst über die Art und Weise infrage zu stellen, wie wir das Evangelium Jesu leben und das Dogma präsentieren.«

    Es wäre falsch, dieses Buch als einen Beitrag zu einer ganz bestimmten Debatte oder eine Erwiderung auf konkrete Standpunkte anderer zu lesen. Damit würde man der Tiefe dieser Theologie und der Strahlkraft dieses bewegenden Glaubenszeugnisses nicht gerecht. Kardinal Sarah geht es gerade nicht um die einzelne Konfliktfrage, sondern um das Ganze des Glaubens; er beweist, wie aus dem richtig verstandenen Ganzen auch das Einzelne zu verstehen ist – und wie, umgekehrt, mit jedem theologischen Versuch, Teilfragen zu isolieren, auch das Ganze beschädigt und geschwächt wird. Mag sein, dass Politik die Kunst des Machbaren ist, die Fertigkeit des Kompromisses unter sich ständig wandelnden Bedingungen; die christliche Botschaft aber kann niemals Verhandlungsmasse sein. Sie ist uns anvertraut und kann nur unverfälscht ihre heilbringende Wirkung in der Welt entfalten – auch und gerade in der Welt von heute.

    »Gott oder nichts« – im Titel dieses Buches hallen berühmte Glaubenszeugnisse aus der Kirchengeschichte nach, zumal aus der Geschichte der Mystiker. Auf dem kleinen handschriftlichen Zettel, den man nach dem Tod Teresa von Ávilas in ihrem Brevier fand, stand schon der Gedanke in ähnlich leidenschaftlicher Diktion: »Solo Dios basta« – Gott allein genügt! Und die heilige Margareta Maria Alacoque, deren Visionen wir die Herz-Jesu-Verehrung verdanken, bekannte schon früh in ihrem Leben: »Ich brauche nichts außer Gott.« Man kann Kardinal Sarahs in diesem Buch skizzierte Theologie durchaus in diese Traditionslinien stellen, aber nicht als Anknüpfung an spätmittelalterliche Mystik, sondern als eine Theologie, die mit dem eigenen Leben und dem persönlichen Bekenntnis untrennbar verbunden ist, wie die fesselnden Kindheits- und Jugenderinnerungen im ersten Teil des Buches zeigen.

    Ich will gestehen, dass mir bei der Lektüre dieses langen Gesprächs zwischen Kardinal Sarah und Nicolas Diat mehr als einmal jener Brief in den Sinn kam, mit dem Papst Gelasius I. aus Afrika im Jahr 494 von Rom aus dem Allmachtstreben Kaiser Anastasios’ I. in Konstantinopel entgegentrat. Achtzehn Jahre zuvor hatten germanische Stämme die alte Hauptstadt überrannt; West-Rom existierte nicht mehr. Hier hatte nur die katholische Kirche überlebt, deren Oberhaupt dem mächtigsten Herrscher des Erdkreises in diesen Jahren nun unerschrocken das Recht absprach, auch über die Seelen seiner Untertanen herrschen zu wollen. Europas staunenswerte Geschichte und die Geschichte der katholischen Kirche als zivilisatorischer Kraft ist undenkbar ohne jene Spur, die Gelasius I. damals mit seinem entschlossenen Widerspruch legte.

    Die totalitäre Versuchung hat unsere Geschichte seither weiter begleitet. Jede Generation kennt sie, auch wenn sie in jeder Epoche in neuer Gestalt und Sprache auftritt. Es ist im Kern auch heute noch dieselbe totalitäre Versuchung, der Kardinal Sarah hier so einsam, freimütig und furchtlos entgegentritt wie Papst Gelasius I. vor über 1500 Jahren.

    Dieses Buch ist radikal – ganz im Sinne des Wortursprungs: Das lateinische Radix heißt im Deutschen »Wurzel«. Und genau dorthin, zu den Wurzeln unseres Glaubens, zu den Wurzeln des Evangeliums, führt uns Robert Kardinal Sarah in diesem Buch. Ihn auf diesem Weg mitlesend, mitdenkend, mitbetend zu begleiten, ist eine große Ermutigung für jeden, der sich mit wachem Verstand und offenem Herzen darauf einlässt.

    Vatikanstadt, am Gedenktag Jean-Marie Vianneys, des heiligen Pfarrers von Ars, am 4. August 2015

    + Georg Gänswein

    Einleitung

    »Gott findet sich in den Erprobungen des Lebens.«

    Père Jérôme, Car toujours dure longtemps …

    Es gibt radikale Begegnungen, die einen Teil unserer Wahrnehmung verändern. Die Begegnung mit Kardinal Sarah gehört auf jeden Fall dazu. Es gibt kein Vorher und kein Nachher, sondern nur die Gewissheit, einem Mann Gottes gegenüberzustehen.

    In L’Art d’être disciple schrieb Père Jérôme, Mönch der Abtei Notre-Dame de Sept-Fons, vom Zisterzienserorden der strengen Observanz: »Bittet euren Meister, nicht zu sprechen, um nichts zu sagen. Befragt ihn lieber über die Probleme der Geschicke des Menschen und über die damit zusammenhängenden Probleme, über die stets aktuellen Probleme. Und wie er selbst sie sieht. Wie er es anstellt, um sie couragiert und beschaulich hinzunehmen. Fragt ihn, was er mit Gewissheit kennt, was für ihn keine Frage mehr ist, was er für indiskutabel und unverrückbar hält. Lasst ihn über das Drama seiner eigenen Persönlichkeit reden, nicht über die artifizielle Komödie, die ihm vielleicht die Zeitumstände auferlegt haben. Lasst ihn über seine Unzufriedenheit und seine Hoffnungen, über seinen Glauben, über sein Vertrauen in Gott, über sein Gebet sprechen. Fragt ihn, wie und inwieweit er sich durch seine Begabung von sich selbst befreit hat. Informiert euch darüber, woher die Scharfsinnigkeit seiner Verweigerung kommt. Er vertraue euch an, was er in seinem Schweigen entdeckt. Er sage euch, was die Ursache seiner Tränen und der Grund seines Lächelns ist. Konzentriert euch bei diesem Mann auf das Wesentliche. Und wenn er bereit ist, erneut zu seinen Heften aus der Grundschulzeit und zu seinen Lehrlingswerkzeugen zu greifen, um euch zu helfen, dann dankt ihm durch eure Folgsamkeit.«

    Im Laufe dieser Monate, in denen ich mit Kardinal Robert Sarah Gespräche führte, habe ich versucht, die einfachen und anspruchsvollen Grundsätze von Père Jérôme zu befolgen. Dieser heilige Trappistenmönch richtete sich an einen Novizen, um ihn aufzufordern, die Ratschläge und Bitten seines Meisters immer besser zu verstehen.

    Kardinal Robert Sarah ist ein außergewöhnlicher spiritueller Meister. Ein Mann, der durch seine Demut groß ist, ein sanfter und standhafter Ratgeber, ein Priester, der nie aufhört, von dem Gott zu reden, den er liebt.

    Kardinal Sarah hatte ein außergewöhnliches Leben, selbst wenn er wirklich der Meinung ist, dass sein Leben im Grunde recht alltäglich verläuft.

    Kardinal Robert Sarah ist ein Gefährte Gottes, ein Mann der Barmherzigkeit und der Vergebung, ein Mann des Schweigens, ein guter Mensch.

    Wenn ich an die langen Stunden zurückdenke, die wir mit der Arbeit zu diesem Buch gemeinsam verbracht haben, fallen mir immer wieder die ersten Momente ein, als er mir von seiner Kindheit erzählte – in einer besonders entlegenen Region Guineas, tief im Busch, am Ende der Welt, von dem kleinen Dorf Ourous, vom Halbdunkel in der Kirche, von den Missionaren, von seinen Eltern und seinem Volk, den Coniagui.

    Ich bin sicher, dass Gott auf den Kardinal einen besonderen Blick geworfen hat – und ich denke auch, dass seine Erwartung enorm ist. Doch Gott kann beruhigt sein, denn der Kardinal liebt ihn auf die allerschönste Weise – so wie ein Mensch seinen Vater nur lieben kann.

    In diesem Buch spricht der neue Präfekt der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung viel von Benedikt XVI. Mit Bewunderung, Dankbarkeit und Freude.

    Doch der Papst, dem sich Kardinal Robert Sarah am meisten verbunden fühlt, ist Paul VI. Zwischen Giovanni Battista Montini und dem Kind Afrikas besteht so etwas wie eine mystische Übereinstimmung. Ihre beiden Spiritualitäten, ihre beiden Mystiken und ihre beiden Theologien richten sich auf die gleiche, einfache und aszetische Weise auf Gott hin.

    In den letzten Stunden seiner Regentschaft entschied sich Paul VI. zugegebenermaßen für einen Priester mit wenig Erfahrung, um aus ihm den jüngsten Bischof der Welt zu machen. Dieser Mann hieß Abbé Sarah. Doch ihre Beziehung ist enger, verborgener, tiefer. Die Verbindung zwischen Paul VI. und Kardinal Sarah lässt sich im Hinblick auf eine spirituelle Kindschaft verorten, auf Folgsamkeit, Radikalität, Wahrheitsanspruch, was auch immer es koste.

    So konnte Paul VI. bei einer Generalsaudienz am 1. September 1976 sagen: »Um die Kirche aufzubauen, muss man sich Mühe geben, man muss leiden. Die Kirche muss ein Volk von starken Menschen sein, ein Volk von mutigen Zeugen, ein Volk, das für seinen Glauben und für seine Verbreitung in der Welt leiden kann – schweigend, umsonst und stets aus Liebe.« Zwei Jahre später verließ Paul VI. diese Welt; doch diese wenigen Worte werden gegebenenfalls erneut von Kardinal Sarah ausgesprochen werden, von ihm, der niemals vergisst, dass »die Kirche ein starkes Volk sein muss«, da in seinem Leben nichts jemals weder leicht noch umsonst gewesen war. Ein Mann, der eines der blutigsten diktatorischen Regimes Afrikas erlitten hat, ermisst besser als jeder andere diese Überlegung Pauls VI., die von 1963 stammt, als der Nachfolger Pet­ri seine Laufbahn beginnt: »Spricht Gott zur rastlosen Seele oder zur friedlichen Seele? Um dieser Stimme zu lauschen, das wissen wir ganz genau, muss etwas Stille, etwas Ruhe herrschen. Wir müssen uns von jeder bedrohlichen Aufregung oder Nervosität fernhalten, wir müssen wir selbst sein. Und genau das ist die essenzielle Grundlage: in uns selbst zu sein! Daher findet die Begegnung nicht außerhalb, sondern in uns selbst statt.«

    Und wenn man nur einen einzigen Abschnitt dieses Buches im Gedächtnis behalten müsste, dann wäre es ohne Zweifel das Vertrauen des Kardinals, das sich auf den Augenblick richtete, als es unmöglich erschien, dass er angesichts aller politischen, ökonomischen und sozialen Schwierigkeiten Guineas sein Bischofsamt antreten könnte. Damals ging Robert Sarah in eine Einsiedelei, um fernab von Lärm und Raserei mit Gott alleine zu sein, fastend, ohne Nahrung oder Wasser, während mehrerer Tage einzig in Begleitung der Eucharistie und der Bibel. Die ganze Persönlichkeit des von den Spiritaner-Missionaren geführten Kindes von Ourous findet sich hier. Und nirgendwo anders. Seine Botschaft ist tatsächlich die Botschaft von Paul VI., der sich nicht scheute, 1970 zu betonen: »Jeder muss lernen, in sich und aus sich heraus zu beten. Der Christ muss ein persönliches Gebet besitzen können. Jede Seele ist ein Tempel. Und wenn wir diesen Tempel unseres Gewissens betreten, um hier Gott anzubeten, wer ist hier anwesend? Werden wir leere, obwohl christliche Seelen sein, Seelen, die sich selbst fernbleiben und die die geheimnisvolle und unsagbare Begegnung, den kindlichen und trunken machenden Dialog vergessen, den Gott – der eine Gott in drei Personen – die Güte hat, uns in uns selbst anzubieten?«

    Es gibt viele ungewöhnliche Ereignisse im Leben von Kardinal Sarah, insbesondere die Ursachen seiner priesterlichen Berufung. Nichts in seinem animistischen Umfeld schuf bei ihm die Voraussetzungen, um sein Dorf zu verlassen, um mit elf Jahren in das kleine Seminar einzutreten. An dem Tag, als er seine Eltern mit einem kleinen Gepäckstück verließ, markierte den Beginn einer langen und stürmischen Wegstrecke, als ob dunkle Mächte mit allen möglichen Mitteln versuchten, einen jungen Heranwachsenden daran zu hindern, Priester zu werden: Armut, die Abwesenheit einer Familie, die marxistische Diktatur, die Verfolgung durch das Militär, der Sturm, der durch die Kirche fegte, die Gegenwinde der Ideologie … Doch dieser Mann hat durchgehalten, denn er dachte daran, dass Gott immer in seiner Nähe sei.

    Wie die Mönche weiß auch er, dass die Monotonie und die Wiederholung an den vorbeiziehenden Tagen auch die verborgene Triebfeder der authentischen Begegnung mit Gott ist. Wie oft konnte der Fortgang seines Lebens ihm beweisen, dass Gott stets noch weit entfernter auf ihn wartete …

    Ausgehend von einer Naturreligion, hat Robert Sarah die Gipfel des Christentums erreicht.

    Heute ist er noch immer absolut derselbe: demütig, aufmerksam und entschlossen. Johannes Paul II. sagte oft, dass man mit seinen Kräften auf dieser Erde nicht haushalten müsse, denn wir hätten ja die Ewigkeit, um uns auszuruhen. Robert Sarah denkt ebenfalls, dass seine Arbeit erst im Augenblick seines Todes zu Ende sein wird. Er ist auf Erden, um Gott zu dienen und den Menschen zu helfen.

    Im Jahr 2010 vertraute Benedikt XVI. ihm den Päpstlichen Rat Cor Unum an, der die Aufgabe hat, die karitativen Aktivitäten des Papstes durchzuführen. Er fasste diese Entscheidung, da er sich sicher war, dass dieser Mann aus einem kleinen schwachen Land besser als jeder andere das Leben der Armen verstehen könne. Und damit hatte der ehemalige Papst recht! Denn Robert Sarah hat das Elend nicht aus Büchern kennengelernt, in bürgerlichen Salons, die nach einem guten Gewissen gieren, in unruhigen Hörsälen, die die Welt durch den Willen verrückt spielender und aufgeblähter Egos verändern wollen … Er ist in eine andere Familie hineingeboren, die fast nichts besaß, und seine Studien konnte er dank der Unterstützung französischer Missionare fortsetzen, die ihm alles gegeben haben.

    Zuweilen scheint das Denken des Kardinals schroff und zu anspruchsvoll zu sein. Gewiss gibt es da ein großes Mysterium, wenn man so radikal ist, um schließlich doch nur den Weg der goldenen Mitte aufzuzeigen. Robert Sarah legt bei jeder Sache einen sanften und engelhaften Eigensinn an den Tag.

    »Tröste dich, du würdest mich nicht suchen, wenn du mich nicht gefunden hättest«, schrieb Pascal in seinen Gedanken. Der Wille des Kardinals hat sich stets nur auf Gott hin ausgerichtet. Denn es ist der beständige Wunsch von Robert Sarah, Gott durch das Gebet zu erreichen. Das ist einfach zu sagen, doch für diesen Mann geht es um die Herzschläge eines ganzen Lebens. Ja, mehr noch, der geistliche Sohn unerschrockener Missionare denkt, dass das Gebet nicht nur eine wunderbare Umsetzung der Taten der Freundschaft ist. Mit Paul VI. – auf Reisen auf den Philippinen – kann er zudem sagen: »Die Liebe Gottes ist untrennbar, so lehrt Jesus Christus, mit der Liebe zum Nächsten verbunden. Dem Apostel muss es nach einer stets realeren, universaleren Liebe dürsten. Seine Liebe seinen Brüdern und besonders den Schwächsten und Ärmsten gegenüber ist in der Liebe verwurzelt, die Gott allen entgegenbringt, vor allem ›den geringsten unter ihnen‹. Die Liebe zu Gott ist keine Versicherung für einen selbst: Sie ist ein Erfordernis des Teilens.«

    Fern von seiner Heimat ist das Herz von Robert Sarah in Rom seinen afrikanischen Brüdern stets nahe geblieben – all jenen, die am Krieg, an Krankheit und Hunger leiden. Als Papst Franziskus ihn im Herbst 2014 in seine neuen Ämter berief, war der Kardinal traurig. Andere hätten sich über eine derart glänzende Beförderung gefreut, sie wären wie die Pfauen entlangstolziert und hätten ihr Rad geschlagen … doch nichts davon bei Robert Sarah. Er wollte einfach nur weiterhin den Armen dienen.

    Robert Sarah tritt mit seiner unkomplizierten Persönlichkeit den Beweis für einen nicht spektakulären, dafür aber nachhaltigen Erfolg an. Das sehr differenzierte Mitgefühl dieses Mannes ist von einer Natürlichkeit, die kein Alter kennt. Seine Beziehung zu Gott ist offensichtlich, denn sie nährt sich aus einem ganzen Dasein der Treue, der Beständigkeit, der Liebe und des Vertrauens. Er ist ein Partisan, der zu einem Meister in der Kunst geworden ist, die Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen – nichtsdestotrotz trägt er eine unbeschreibliche Kraft in sich.

    Der Sohn von Claire und Alexandre Sarah ähnelt manchmal einem Mönch, der sich auf die große Reise macht, um seinem Gott, seiner Liebe zu begegnen. Er ist ruhig und vertrauensselig – ein Anflug von Besorgnis und Kummer wird mit der glühenden Klinge seines Glaubens in Windeseile zerschlagen.

    Die Freunde Gottes sind natürlich immer in seinem Schatten verborgen. Robert Sarah ist ein Vertrauter des Hauses Gottes und er kennt zu diesem viele Eingänge.

    Nicolas Diat, Rom, am 25. Januar 2015

    I. DIE ZEICHEN GOTTES IM LEBEN EINES KINDES AFRIKAS

    »Was mich erstaunt, spricht Gott, ist die Hoffnung. Das wundert mich über die Maßen. Diese kleine Hoffnung, die nach so gar nichts aussieht. Dieses kleine Mädchen Hoffnung. Die Unsterbliche.«

    Charles Péguy, Le Porche du mystère de la deuxième vertu

    NICOLAS DIAT: In der ersten Frage unseres Gesprächs geht es um Ihre Geburt in Ourous in den Hochebenen im Herzen Guineas. Es ist offenbar nicht so leicht zu verstehen, wie das Kind aus einer afrikanischen ländlichen Umgebung Kardinal werden konnte …

    KARDINAL ROBERT SARAH: Da haben Sie vollkommen recht! Es ist schwer zu begreifen, was aus mir heute in Anbetracht meiner so bescheidenen Wurzeln geworden ist.

    Wenn ich an das animistische Umfeld denke, das zutiefst an seinen Sitten und Gebräuchen hängt und aus dem mich der Herr herausgezogen hat, um aus mir einen Christen, einen Priester, einen Bischof, einen Kardinal und einen der nahstehendsten Mitarbeiter des Papstes zu machen, werde ich von einer großen Ergriffenheit überwältigt.

    Ich wurde am 15. Juni 1945 in Ourous, einem der kleinsten Dörfer Guineas, im Norden des Landes geboren, nahe der Grenze zum Senegal. Es ist eine Mittelgebirgsregion, weit entfernt von der Hauptstadt Conakry, und wird von den politischen Stellen und den Verwaltungsbehörden oftmals für wenig bedeutend gehalten.

    Mein Heimatdorf ist tatsächlich etwa 500 Kilometer von Conakry entfernt. Die Fahrt dorthin nimmt einen ganzen Tag auf besonders schwierigen Wegen in Anspruch. Zeitweise – in der Regenzeit – passiert es, dass die Wagen auf der Strecke stecken bleiben. Es kann sein, dass die Reise viele Stunden lang unterbrochen werden muss, sodass es viel Zeit braucht, um das Fahrzeug aus dem Schlamm wieder herauszubekommen, dafür, dass es wenig später erneut im Morast stecken bleibt. Als ich auf die Welt kam, waren die meisten Verkehrsrouten lediglich einfache Feldwege.

    Ourous steht für die wertvollste Epoche meines Daseins in Guinea. Ich bin an diesem von der Welt abgeschnittenen Ort aufgewachsen, an dem ich zur Schule ging, um hier meine Grundschulausbildung zu absolvieren. Wir wurden nach demselben Lehrplan wie die kleinen Franzosen unterrichtet und so habe ich erfahren, dass meine Vorfahren Gallier waren …

    Zu dieser Zeit hatten die Spiritanerpatres – die der im 18. Jahrhundert von Claude Poullart des Places gegründeten und im 19. Jahrhundert von Pater Franz Maria Paul Libermann reformierten Kongregation vom Heiligen Geist angehörten – bereits zahlreiche Animisten zum christlichen Glauben bekehrt. Diese Missionare waren in unsere Gegend gekommen, da der Islam hier wenig präsent war. Hier sahen sie mögliche Felder zur Evangelisierung. In Conakry beispielsweise blieb das Werk der Bekehrung annähernd fruchtlos, da sich die Muslime hier bereits seit Langem in einer dominierenden Position befanden.

    Heute ist mein Dorf fast völlig christlich und zählt fast 1000 Einwohner.

    Der Häuptling von Ourous hat die Spiritaner zu Beginn des 20. Jahrhunderts – die Mission wurde 1912 gegründet – wahrlich großzügig aufgenommen. Er hat ihnen ein Grundstück von mehr als vierzig Hektar Fläche überlassen, um die Ansiedlung des katholischen Kultes zu fördern. Die Bewirtschaftung dieses Geländes ermöglichte den Missionaren, sich an Ort und Stelle die nötigen Existenzgrundlagen zu verschaffen, um für den gesamten Unterhalt der Mission und der Internatsschüler zu sorgen. Sechs Monate nach dem Eintreffen der Spiritaner wurde einer von ihnen durch einen vorzeitigen Tod hinweggerafft. Man darf nicht vergessen, dass die Hygiene damals sehr mangelhaft war. Besonders Malariafälle waren häufig.

    In einem solchen Umfeld nahmen diese Männer Gottes große Opfer auf sich und sie ertrugen auch viele Entbehrungen mit einem unermesslichen Großmut, ohne sich jemals zu beklagen. Die Dorfbewohner haben ihnen beim Bau ihrer Hütten geholfen. Dann errichteten sie gemeinsam nach und nach eine Kirche. Diese Gottesdienststätte wurde von Pater Fautrard ausgeschmückt, den Bischof Raymond Lerouge, der erste Apostolische Vikar von Conakry, gerade nach Ourous berufen hatte.

    Mein Vater hat den Aufbau der Mission und der Kirche noch miterlebt. Er hat mir erzählt, dass er mit sieben weiteren Jungen – die wie er Animisten waren – ausersehen war, die in Conakry per Schiff eingetroffene Glocke ins Dorf zu transportieren. Dadurch, dass sie sich im Laufe einer Woche regelmäßig ablösten, haben sie diese anstrengende Reise hinter sich gebracht.

    Später ist mein Vater Alexandre getauft worden und hat noch am selben Tag, am 13. April 1947, das heißt, zwei Jahre nach meiner Geburt, geheiratet.

    Wie sah das Leben Ihres Volkes, der Coniagui, dieser kleinen Ethnie im Norden Guineas, aus?

    Die Coniagui sind ein Volk, das sich nahezu ausschließlich aus Bauern und Viehzüchtern zusammensetzt, die es geschafft haben, ihre Traditionen zu bewahren. Nach Ansicht einiger Forscher sind die Coniagui die Vorfahren der Diola aus der Casamance-Region, deren Sprache mit ihrer fast identisch sein soll. Nach der mündlichen Überlieferung sind die Diola die Söhne von Guélowar Bamana. Und in der Tat – am Ufer des Flusses Geba gegenüber von Bissau leben die Diola, deren Territorium sich bis nach Koli erstreckt und das an das der Ethnie der Bassari angrenzt. Nach der mündlichen Überlieferung der Griots (berufsmäßige Sänger und Dichter in Teilen Westafrikas, Anm. d. Ü.) soll Guélowar Bamana, ein junges Mädchen aus dem Volk der Coniagui, die Ahnherrin der Dynastien von Gabu oder Kaabu sein, die bis ins 13. Jahrhundert zurückreichen, sowie aller Bewohner der Region Sine-Saloum, zu der der Senegal, Guinea-Bissau, Gambia und der Nordwesten von Guinea-Cokray gehören: »Zu dieser Zeit heiratete der Sohn des Königs ein junges Mädchen, das er auf geheimnisvolle Art und Weise im Busch fand: Sie fuhr von den Geistern herab und sprach kein Mandinka. Man lehrte sie, diese Sprache zu sprechen und wie die Mandinka zu essen, das heißt, wie eine Malinke. Aus ihrer Ehe gingen vier Töchter hervor, die jeweils die Könige von Djimana, Pinda, Sama und Sine heirateten. Kaiser von Gabu können nur die männlichen Abkömmlinge sein, doch nur durch die mütterliche Linie.«

    Meine Vorfahren waren prinzipiell Animisten, treu den Riten und den jahrhundertealten Festen ergeben, die noch immer ihr Dasein bestimmen.

    Während meiner Kindheit lebten wir in runden, aus Ziegelsteinen errichteten und mit einem Lehmstrohdach bedeckten einräumigen Hütten, die von einer »Veranda« umgeben waren, auf der wir in der Regel unsere Mahlzeiten einnahmen. Nebenan besaßen wir eine oder zwei weitere kleine Hütten, in denen wir den Reis, den Fonio (eine Hirseart, Anm. d. Ü.), die Erdnüsse, die Hirse und die Ernten lagerten. Wir hatten Getreide- und Reisfelder – der Ertrag der Erde diente dazu, die Familien zu ernähren – und der Überschuss wurde auf den Märkten verkauft. Es war ein einfaches Leben, ohne Zwischenfälle – demütig und vertrauensvoll. Es war ein Leben in der Gemeinschaft, bei dem jeder auf die Bedürfnisse des anderen achtete – all das war von großer Bedeutung.

    Um sich bei der Arbeit auf den Feldern gegenseitig zu helfen, teilten sich die Dorfbewohner in Gruppen zu fünfzehn bis zwanzig Personen auf. Während der gesamten Vegetations- und Erntezeit verpflichtete sich jede Gruppe, an festgelegten Tagen nach einem gemeinsam vereinbarten Kalender abwechselnd auf dem Feld eines ihrer Mitglieder zu arbeiten. Wenn ein Zyklus dieser Arbeiten beendet war und jeder seine Gruppe auf seinem Feld hat arbeiten lassen, fingen wir von vorne an, bis zum Ende der Vegetationszeiten. Diese Solidarität ermöglichte es einem jeden – wenn er dann an der Reihe war –, dass ihm durch seine Gruppe effizient geholfen wurde. Es kam auch vor, dass eine Familie einige Leute aus dem Dorf zusätzlich baten, dass diese sie bei ihren Feldarbeiten unterstützen. Sie bot den Freunden, die ihrer Bitte gefolgt waren, dann Hirsebier oder Honigwein oder eine Mittagsmahlzeit an.

    Können Sie uns die alten religiösen Riten Ihrer Vorfahren schildern, vor allem den wichtigen Ritus des Übergangs in das Erwachsenenalter?

    Das Volk der Coniagui ist sehr religiös, es glaubt an einen Gott namens Ounou. Doch es kann mit ihm nur durch die Vorfahren in Kontakt treten.

    Der Gott meiner Ahnen ist der Schöpfer des Universums und von allem, was existiert. Es ist ein höchstes Wesen, unaussprechlich, unbegreiflich, unsichtbar und unergründlich. Dennoch steht es im Mittelpunkt unseres Lebens und prägt unser ganzes Dasein. Nicht selten begegnet man bei den Coniagui theophorischen Namen wie Mpoon (»Der zweite von Gott«), »Taoun« (»Der dritte von Gott«), »Ounoted« (»Gott ist es, der weiß«) oder Ounoubayerou (»Bist du Gott?«).

    Das Wesentliche im religiösen und rituellen Lebensvollzug kommt in einem zweifachen System zum Ausdruck: einerseits in den Begräbnis- und andererseits in den Initiationsriten.

    Die Begräbnisriten bestehen aus Opferdarbringungen von Trankopfern von Tierblut oder Hirsebier. Diese Opfergaben werden auf dem Boden oder am Fuße eines heiligen Baumes, auf einem Altar oder einer die Ahnen repräsentierenden Holzstele ausgebreitet. Sie zielen darauf ab, die Geister zu besänftigen, Gott Dank zu sagen und von den übernatürlichen Mächten deren Gunst zu erbitten. Es gibt drei Riten oder drei Arten von Opfergaben. Der »rhavanhë« ist für das Begräbnis ein unumgänglicher Augenblick, denn er öffnet den Eingang des Dorfes der Ahnen den Verstorbenen eines bestimmten Alters; den »rhavanhë« feiert man nicht für jene, die jung gestorben sind, vermutlich tut man es nicht wegen ihrer Unschuld, das heißt wegen ihrer Unfähigkeit, etwas sehr Böses und das freiwillig zu tun – nach ihrem Dahinscheiden werden sie in das Dorf der Ahnen aufgenommen, ohne dass es eines Opfers bedarf. Dann gibt es den »sadhëkha«, der wie ein Dankesopfer für die empfangenen Wohltaten gefeiert wird, beispielsweise bei einer Geburt oder um den Segen für wichtige Handlungen zu erbitten. Schließlich bezweckt der »tchëva« das Ende von Katastrophen, wie etwa von Dürren und der Invasion von verheerenden Heuschreckenplagen, die über die Felder herfallen und die Blätter und die Früchte der Bäume verschlingen. Dabei handelt es sich um eine nächtliche Prozession durch das Dorf und über die Felder, um den Schutz Gottes über die angebauten Pflanzen und die Arbeiten zu erbitten. Dieser Ritus ähnelt den Bittprozessionen, wie sie in der katholischen Kirche bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil praktiziert wurden und die noch heute in verschiedenen Ländern existieren, beispielsweise in Mexiko. Der Ritus wird von den Frauen durchgeführt und von dem »loukoutha« geleitet, der aus einer speziellen Maske für diese Zeremonie besteht; der »loukoutha« ist ein Geist in menschlicher Form, der mit Fasern oder Blättern bekleidet ist, damit er von den Frauen und den noch nicht initiierten Kindern weder gesehen noch erkannt wird.

    Außerdem stellt die Initiationszeremonie eines jungen Mannes tatsächlich einen entscheidenden Augenblick im Leben des Volkes der Coniagui dar. Ihr geht der Beschneidungsritus voran, der als ein Beweis physischer Ausdauer verstanden wird. Tatsächlich ist es so, dass der Junge bei der Beschneidung, die etwa im Alter von zwölf Jahren ohne Anästhesie durchgeführt wird, nicht weinen darf, wie stark auch immer die Schmerzen seien, die er dabei empfindet. Diese Operation ist der Anfang einer Übergangsperiode von zwei bis drei Jahren, um den Jungen auf seine Initiation vorzubereiten – sie zielt darauf ab, eine radikale Umwandlung der Persönlichkeit zu erreichen, um diese von der Kindheit in den Zustand eines Erwachsenen passieren zu lassen. Der Heranwachsende wird damit zu einem Mann, der für sich selbst und die Gesellschaft voll verantwortlich ist.

    Nach den Folkloretänzen, die am Samstagnachmittag beginnen und die ganze Nacht andauern, werden die Jugendlichen in den Wald geführt, dann eine Woche interniert, um ins Leiden eingeübt, zur Ausdauer, zum Verzicht zugunsten des Gemeinwohls sowie zur gewissenhaften Ehrfurcht gegenüber den älteren Personen und den Frauen erzogen zu werden. Eigentlich ist die Initiation eine Zeit zum Erlernen der Gebräuche, der Traditionen sowie des guten Benehmens in der Gesellschaft. Der junge Mann lernt zugleich die gesundheitsfördernden Eigenschaften der Pflanzen, um bestimmte Krankheiten zu behandeln.

    Die Initiation könnte den Anschein haben, als sei sie etwas Positives – doch in Wirklichkeit ist dieser Ritus eine Finte, eine Verschleierung, die sich die Lüge, die Gewalt und die Angst zunutze macht. Die körperlichen Prüfungen oder die Erniedrigungen führen weder zu einer wirklichen Umwandlung noch zu einer freien Verinnerlichung der Unterweisungen, bei der der Verstand, das Gewissen und das Herz in Anspruch genommen werden sollten. Stattdessen wird hier eine sklavische Unterwerfung unter die Traditionen aus Angst kultiviert, ausgeschlossen zu werden, wenn man sich nicht an die Anweisungen hält. Im Laufe des Initiationsritus lassen die Hüter der Bräuche die Frauen glauben, dass der junge He­ranwachsende stirbt und zu einem neuen Leben wiedergeboren wird. Der Initiierte wird von einem Geist, dem »nh’ëmba«, gegessen und nach den animistischen Glaubensvorstellungen wird er der Gesellschaft mit einem neuen Geist zurückgegeben. Die Zeremonie der Rückkehr ins Dorf ist besonders feierlich, denn der junge Mann taucht nun zum ersten Mal vor der Gesellschaft auf, indem er so tut, körperlich ein ganz anderer Mensch zu sein – ausgestattet mit neuen Fähigkeiten.

    Die Initiation ist ein überholter Ritus, der unfähig ist, die fundamentalen Fragen unseres Daseins zu beantworten und aufzuzeigen, wie der Guineer sich in angemessener Weise in eine Welt voller Herausforderungen integrieren kann.

    Eine Kultur, die Innovationsfähigkeit und eine Öffnung gegenüber anderen gesellschaftlichen Realitäten nicht fördert, um auf ihre eigene innere Umwandlung seelenruhig zu reagieren, verschließt sich in der Tat in sich selbst. Doch die Initiation macht uns zu Sklaven unseres eigenen Umfeldes, die sich in der Vergangenheit und der Angst einigeln.

    Die Spiritaner-Missionare haben es meinem Volk möglich gemacht, zu verstehen, dass einzig Jesus uns das Geschenk macht, neu geboren zu werden, aus »Wasser und Geist neu geboren zu werden«, wie es Christus zu Nikodemus sagt (Joh 3,5).

    Die Initiation ist schon immer ein geheimer Ritus gewesen, der Erkenntnisse und Praktiken beinhaltet, die ausschließlich den einzelnen Initiierten vorbehalten sind. Eine esoterische Erziehung in einem geheimen Kreis Initiierter kann nur Zweifel wecken über ihren Wert, ihre Grundlage sowie ihr Vermögen, einen Menschen wirklich zu verwandeln. Die Kirche hat sich dieser Art Gnosis stets widersetzt. Noch schlimmer ist, was die Initiation der Mädchen betrifft – manche Praktiken müssten verboten werden; der Ritus ist tatsächlich ein schwerer Verstoß gegen die Würde der Frau: Auf perverse Art und Weise läuft die Initiation darauf hinaus, ihre innerste Unversehrtheit zu Grunde zu richten. Ich meinerseits wurde von meinem Onkel, Samuel Mpouna Coline, der noch lebt, in den Wald geführt.

    Papa hatte tatsächlich zugestimmt, mich unter der Voraussetzung einweihen zu lassen, dass die Zeremonie kurz sei. Für mich als Seminaristen war es undenkbar, dass ich eine ganze Woche lang der Messe fern bliebe. Für Papa und für mich selbst stellte die Messe bereits den einzigen Augenblick dar, die den Menschen auf dieser Erde verwandelt. Meine Initiation hat daher einfach nur drei Tage gedauert …

    Wie sehen Sie Ihre Kindheit in Ourous heute? Wie sah damals Ihr Alltag aus?

    Zweifellos ist meine Kindheit sehr glücklich gewesen. Ich bin im Frieden und in der unschuldigen Natürlichkeit eines kleinen Dorfes aufgewachsen, in dessen Zentrum sich die Mission der Spiritaner befand.

    Ich lebte in einer frommen, heiteren und friedlichen Familie, in der Gott gegenwärtig war und in der die Jungfrau Maria kindlich verehrt wurde.

    Wie viele Dorfbewohner waren auch meine Eltern Bauern. Ich habe mir eine große Ehrfurcht vor guter Arbeit bewahrt, als ich sie beobachtete, wie gründlich und fröhlich sie waren. Sie standen früh am Morgen auf, um auf die Felder zu gehen, wohin ich mit ihnen schon um 6:00 Uhr aufbrach. Etwa im Alter von sieben Jahren ist es mir nicht mehr möglich gewesen, sie zu begleiten, denn ich musste nach der Messe in die Schule gehen. Ich muss dazu sagen, dass wir nicht reich gewesen waren; der Ertrag unserer Arbeit ermöglichte es uns, uns davon zu ernähren und zu kleiden und das Existenzminimum zu sichern. Die Weite ihres Herzens, die Ehrlichkeit, die Demut, die Großzügigkeit und die edlen Gefühle meiner Eltern, ihr Glaube und ihr reiches Gebetsleben, vor allem aber ihr Vertrauen in Gott, haben mich sehr beeindruckt. Ich habe sie nie mit irgendjemandem einen Konflikt eingehen gesehen.

    Ich erinnere mich außerdem an Fußball- und Versteckspiele, an Reifen und vor allem an endlose Tänze im Mondlicht. Wie könnte man die langen Augenblicke vergessen, die ich mit den Alten verbracht habe, mit meinen Kameraden, um den Erzählungen und den Legenden der Kultur der Coniagui zu lauschen? Für uns Kinder war das wie eine Schule, es waren wunderbare Momente, die uns da angeboten wurden, um die Werte und die Traditionen besser zu verinnerlichen. Die festlichen Zeremonien fanden regelmäßig statt und waren farbenfroh. Ganz genau behalte ich die großen Feste zum Zeitpunkt der Ernten im Gedächtnis. Wir leerten die Speicher, ohne uns darüber Gedanken zu machen, ob uns jemals etwas fehlen könnte …

    Jeder konnte in unsere Hütte kommen, zu jeder Tages- und Nachtzeit. Alle waren willkommen, um mit

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