Entdecken Sie Millionen von E-Books, Hörbüchern und vieles mehr mit einer kostenlosen Testversion

Nur $11.99/Monat nach der Testphase. Jederzeit kündbar.

1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols
1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols
1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols
eBook765 Seiten7 Stunden

1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols

Bewertung: 0 von 5 Sternen

()

Vorschau lesen

Über dieses E-Book

80 Jahre nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich liegt erstmals eine Studie vor, die den Anschluss 1938 in allen Bezirken Tirols und in der Landeshauptstadt beleuchtet. Zwölf Beiträge analysieren den Aufstieg der NSDAP, NS-Terror und deutschnationale Traditionen einer Grenzstadt, Verfolgung und Rache, Gleichschaltung und Propaganda.
Gewalt und Ausgrenzung, aber auch sozialpolitische und alltagskulturelle Angebote waren für die Mehrheit der Tiroler Bevölkerung attraktiv. Sie schmiedeten die NS-Volksgemeinschaft zusammen. Der vorliegende Band macht dies auch aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive sichtbar. Nutznießerinnen aus dem Kreis des Bundes deutscher Mädel kommen ebenso zu Wort wie ein betagtes jüdisches Ehepaar und eine jüdische Familie, deren umfangreicher Briefverkehr nun vorliegt. Viele Ablichtungen und ein eigener Foto-Essay erschließen neue visuelle Blickwinkel.
Wenig beachtete öffentliche und private Vorfälle belegen, welch widersprüchliche, teils absurde Auswirkungen die politischen Ereignisse des März 1938 in den Tälern und auf den Bergen Tirols hatten.
SpracheDeutsch
HerausgeberStudienVerlag
Erscheinungsdatum27. März 2018
ISBN9783706559027
1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols

Ähnlich wie 1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols

Ähnliche E-Books

Holocaust für Sie

Mehr anzeigen

Ähnliche Artikel

Rezensionen für 1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols

Bewertung: 0 von 5 Sternen
0 Bewertungen

0 Bewertungen0 Rezensionen

Wie hat es Ihnen gefallen?

Zum Bewerten, tippen

Die Rezension muss mindestens 10 Wörter umfassen

    Buchvorschau

    1938 - Der Anschluss in den Bezirken Tirols - Horst Schreiber

    1938

    Der Anschluss in den

    Bezirken Tirols           

    Veröffentlichungen des

    Innsbrucker Stadtarchivs,

    Neue Folge 62

    STUDIEN ZU GESCHICHTE UND POLITIK

    Band 21

    herausgegeben von Horst Schreiber

    Michael-Gaismair-Gesellschaft

    www.gaismair-gesellschaft.at

    Horst Schreiber (Hg.)

    1938

    Der Anschluss in den

    Bezirken Tirols

    StudienVerlag

    Innsbruck

    Wien

    Bozen

    Inhalt

    Einleitung

    Horst Schreiber

    Von den Anfängen der NSDAP zur Machtübernahme

    Bezirk Kitzbühel

    Sabine Pitscheider

    „Trotz Verbot noch nicht tot"– Nationalsozialistischer Terror im Bezirk Kitzbühel 1933/34

    Bezirk Imst

    Rainer Hofmann / Astrid Schuchter

    „Freikarte nach Dachau" – Naziterror in Imst 1938

    Bezirk Innsbruck-Land

    Sabine Pitscheider

    „... in enger Zusammenarbeit mit Partei und Staat ..." – Nationalsozialistische Bürgermeister in Innsbruck-Land 1938/39

    Bezirk Kufstein

    Gisela Hormayr

    „Grenzen, die keine waren, sind nicht mehr"

    Bezirk Reutte

    Richard Lipp

    Auf dem Weg in eine bessere Zukunft?

    Bezirk Landeck

    Roman Spiss

    Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot: Der Nährboden für den Nationalsozialismus

    Stadt Innsbruck

    Horst Schreiber

    Die Inszenierung des Nationalsozialismus als Umbruchs- und Aufbruchszeit

    Horst Schreiber / Michael Guggenberger / Niko Hofinger

    „Volksgemeinschaft" als Ausschluss

    Bezirk Schwaz

    Horst Schreiber / Claudia Rauchegger-Fischer

    Von kleinen und großen Karrieren: Profiteure und Nutznießerinnen der NS-Machtübernahme

    Bezirk Lienz

    Martin Kofler

    Der abseits gelegene Anschluss: Osttirol 1938 – ein Fotoessay

    Epilog

    Michael Guggenberger

    Berg und Tal im Anschlussrausch

    Anhang

    Anmerkungen

    Literatur (Auswahl)

    Autorinnen und Autoren

    Einleitung

    Lange Zeit blieb in Tirol eine Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus auf wissenschaftlicher Grundlage weitgehend aus. In den letzten 25 Jahren sind zahlreiche Studien zur Geschichte des Nationalsozialismus in Tirol erschienen. Dabei spielte das Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck eine entscheidende Rolle. Seit dem Jahr 2000 ist die Michael-Gaismair-Gesellschaft eine weitere bedeutende Akteurin auf diesem Gebiet. In ihren Jahrbüchern findet sich eine große Zahl an Beiträgen zur NS-Herrschaft, umfangreiche Publikationen und Pionierarbeiten zum Thema gibt die Gaismair-Gesellschaft in ihren wissenschaftlichen Reihen heraus: in den Studien zu Geschichte und Politik sowie im sozialwissenschaftlich ausgerichteten transblick. Seit der Jahrtausendwende entfaltet _erinnern.at_, das Institut für politisch-historische Bildung über Holocaust und Nationalsozialismus des Bundesministeriums für Bildung, regional, national und international große Aktivitäten in der Fortbildung von Lehrkräften, in der Herausgabe von Unterrichtsmaterialien, Lernheften, Homepages und DVDs, aber auch in der fachlichen Unterstützung bei der Veröffentlichung von Publikationen. Der vorliegende Band ist eine Kooperation von _erinnern.at_ mit dem Land Tirol. Landesrätin Beate Palfrader und Benedikt Erhard von der Abteilung Kultur des Landes Tirol haben dankenswerterweise für die Finanzierung der Studie gesorgt.

    Bisher waren es drei Bücher, die einen Überblick über den Nationalsozialismus in Tirol gegeben haben: Tirol und der Anschluß. Voraussetzungen, Entwicklungen, Rahmenbedingungen 1918–1938, herausgegeben von Rolf Steininger, Klaus Eisterer und Thomas Albrich, das 1988 den Auftakt für die intensive Erforschung der NS-Diktatur bildete. 2002 konnten Rolf Steininger und Sabine Pitscheider den Sammelband Tirol und Vorarlberg in der NS-Zeit vorlegen, in dem zehn AutorInnen ein breites Spektrum von Themen zur nationalsozialistischen Herrschaft abdeckten. 2008 erschien mit Nationalsozialismus in Tirol und Südtirol. Opfer. Täter. Gegner von Horst Schreiber mit einem Beitrag von Gerald Steinacher und Philipp Trafojer zu Südtirol die bislang letzte Gesamtdarstellung.

    Aus Anlass des 80. Jahrestages des Anschlusses Österreichs ans Deutsche Reich liegt nun ein Buch vor, in dem erstmals die Bezirke Tirols und die Landeshauptstadt im Mittelpunkt stehen.

    Als Einstieg ins Thema stellt Horst Schreiber in komprimierter Form die Entwicklung der NSDAP von ihren Anfängen bis zur Machtübernahme dar.

    Sabine Pitscheider dokumentiert die Aufstiegsphase der Partei im Bezirk Kitzbühel 1933/34. Im Herbst 1932 konnte sie sich in Landgemeinden verankern, während die Stadt Kitzbühel nicht nur im Bezirk, sondern neben Kufstein und Innsbruck tirolweit Mittelpunkt der NS-Bewegung war. Zum einen stand dies in Zusammenhang mit dem besonderen Anklang, den der Nationalsozialismus im Tourismus, in Hotel- und Gastgewerbe fand. Zum anderen war die Gamsstadt aus Prestigegründen Zentrum besonders intensiver NS-Aktivitäten angesichts des Weltrufs, den sie genoss. Sichtbarer Ausdruck dieser Entwicklung war das Bekenntnis von Bürgermeister Ernst Reisch zum Nationalsozialismus bereits im März 1933; auch sein Nachfolger Josef Herold betätigte sich in diesem Sinn. Der Landeshauptmann zeigte sich alarmiert, dass die NS-Bewegung im Bezirk Kitzbühel einen Aufschwung genommen hatte „wie in keinem anderen Verwaltungsgebiet. Die Nationalsozialisten marschierten, verübten Schmieraktionen, brannten Hakenkreuze auf den Bergen ab, störten Versammlungen, provozierten den politischen Gegner, zettelten Schlägereien an und ließen Böller explodieren. Um den NS-Aktivitäten Einhalt zu gebieten, reagierten Regierung, Behörden und Exekutive mit Massenverhaftungen, Gefängnis- und Lagerstrafen sowie mit Ausbürgerungen durch Aberkennung der österreichischen Staatsbürgerschaft. Eine größere Anzahl der Nationalsozialisten im Bezirk floh nach Deutschland, viele schlossen sich dort der Österreichischen Legion an, die zu gegebener Zeit in Tirol einmarschieren sollte. Was ihre Gegner im Falle einer Machtübernahme erwarten würde, kündigte ein Kitzbüheler Nazi einem Gendarmen der Gemeinde Kössen aus dem deutschen Exil an: „Wenn dann in Oesterreich zu errichtende Konzentrationslager mit Ihnen und vieler ihrer Kollegen, die als bornierte Nazifresser bekannt sind, gefüllt werden, darf Sie das nicht Wunder nehmen.

    Rainer Hofmann und Astrid Schuchter stellen die Racheaktionen ehemals illegaler Nationalsozialisten an Exponenten des gestürzten austrofaschistischen Regimes in Imst in den Mittelpunkt ihres Beitrags. Bereits am Abend des 11. März 1938 waren sie mit Beschimpfungen, Fußtritten, Faustschlägen und nächtlichen Überfällen gegen ihre politischen Gegner unter Beifall einer johlenden Menge vorgegangen. In einer neuerlichen Verhaftungswelle einige Tage später brachten die lokalen Nazis ihre Feinde in einem LKW mit offenem Verdeck nach Innsbruck, damit Parteigenossen und Schaulustige die Gelegenheit hatten, sie zu verspotten. Sie nutzten die Gunst der Stunde, um Angehörige der ehemaligen Elite zu erpressen und sich zu bereichern. Höhepunkt der Wochen der Anarchie waren organisierte Ausschreitungen Ende April 1938. Bei diesem „Volksfest der niederen Instinkte jagten Parteimitglieder unter aktiver Beteiligung von Volksgenossinnen und Volksgenossen in einem wohlinszenierten Spektakel acht 50- bis 60-jährige Staatsbeamte durch die Stadt Imst, um sie zu bespucken, zu verhöhnen, zu demütigen und zu schlagen. Während Nationalsozialisten ihre Schandtaten eines „gesunden Volksempfindens fotografisch festhielten, mussten die Opfer unter Tritten und Fausthieben Tafeln mit Aufschriften wie „Freikarte nach Dachau, „Ich bin ein Schwein und gehöre nach Dachau oder „An den Galgen" mit sich tragen.

    Sabine Pitscheider setzt sich am Beispiel des Bezirks Innsbruck-Land mit der Neubestellung von Bürgermeistern nach dem Anschluss auseinander. Immerhin jeder fünfte Bürgermeister konnte im Amt bleiben, einige der abgesetzten wieder zurückkehren. Viele der von lokalen Funktionären der NSDAP eigenmächtig ernannten Bürgermeister bewährten sich nicht und wurden in den Wochen und Monaten nach der Volksabstimmung im April 1938 wieder abgelöst: weil sie inkompetent und querulantisch waren, in Konkurrenz zu anderen Nationalsozialisten standen, die Verwaltung wegen ihrer Rachsucht und Radikalität destabilisierten, in der Bevölkerung abgelehnt oder von anderen Interessengruppen und Familien bekämpft wurden. Das Inkrafttreten der Deutschen Gemeindeordnung, mit der die Bürgermeister definitiv gestellt wurden, nutzte das NS-Regime im Frühjahr 1939 für weitere Umbesetzungen. Die Gemeindeoberhäupter sollten bewährte Nationalsozialisten sein, über das nötige Fachwissen verfügen, Ansehen in der Bevölkerung haben und nicht zur traditionellen dörflichen Elite zählen. Die Erfordernisse einer funktionsfähigen Verwaltung vereitelten diese Pläne. In den meisten Gemeinden, sieht man von Städten und Marktgemeinden wie Hall und Telfs ab, mussten Partei und NS-Behörden Männer ernennen, die diesem Anforderungsprofil wenig entsprachen. Der typische Bürgermeister war erst nach dem Anschluss der Partei beigetreten, er saß bereits seit Längerem im Gemeinderat oder war schon vor dem Anschluss Bürgermeister gewesen. Im Dorf war er traditionell fest verankert und entstammte häufig der tonangebenden Berufsgruppe der Bauern. In Ermangelung fachlich und parteipolitisch kompetenter Kandidaten, aber auch aufgrund der Auswirkungen des Krieges, mussten die NS-Machthaber bei rund einem Drittel der Posten auf eine Personalunion von Bürgermeister und Ortsgruppenleiter zurückgreifen. Die Ortsgruppenleitungen mit tüchtigen Nazis zu besetzen, war noch schwieriger, weil es sich bei den verdienten Parteigenossen überwiegend um soziale Außenseiter mit geringer Akzeptanz in der Bevölkerung handelte. Daher nimmt es nicht Wunder, dass die Fluktuation bei den Ortsgruppenleitern besonders hoch war. Trotz weitaus größerer Stabilität in den Ämtern der Bürgermeister ab dem Frühjahr 1939 kam es immer wieder zu Abberufungen nach einem der häufigen Konflikte zwischen ihnen und der örtlichen Parteileitung.

    Gisela Hormayr (Bezirk Kufstein), Richard Lipp (Bezirk Reutte) und Roman Spiss (Bezirk Landeck) schildern den Aufstieg des Nationalsozialismus bis zum Anschluss im März 1938, die Verhaftungswelle nach errungener Macht und die ersten Maßnahmen zur Sicherung der NS-Herrschaft. In der Innen- und Außenwahrnehmung galt Kufstein mit seiner Grenzlage als „kerndeutsche Stadt". Die Ausgangslage für die Aktivitäten der nationalsozialistischen Bewegung war daher überaus günstig. Nicht nur Anfang der 1930er Jahre, auch nach dem Verbot der NSDAP im Juni 1933 bis zur Machtergreifung war der Bezirk Kufstein Drehscheibe für den Schmuggel von Propagandamaterial, Waffen, Sprengstoff und NS-Flüchtlingen, die mit Spezialaufträgen von Deutschland nach Tirol zurückkehrten. Behörden und Exekutive gelang es zwar immer wieder, Erfolge zu erzielen, doch insgesamt vermochten sie den Grenzschutz nicht so wirksam zu organisieren, wie dies nötig gewesen wäre. Spektaktuläre Sprengstoffanschläge nationalsozialistischer Attentäter verursachten wiederholt erhebliche Sachschäden. Die Terroristen demonstrierten mit ihrem rücksichtslosen Vorgehen, wie wenig ihnen Menschenleben wert waren. Dass die Zahl der Toten nicht in die Dutzende ging, ist lediglich auf die Inkompetenz der Verbrecher zurückzuführen. Statt wie geplant einen Zug zum Explodieren zu bringen, sprengte sich der Bombenleger selbst in die Luft. Dennoch verübten Nationalsozialisten 1933/34 mindestens fünf Morde im Raum Kufstein. Zwei Grenzschützer, ein Hilfspolizist, ein Zollwachebeamter und ein NS-Abtrünniger waren die Opfer.

    „Unsere Devise für die Zukunft sei: Nicht Haß und Vergeltung, sondern Arbeit und Friede für ein einig deutsches Volk!, betonte der Kreisleiter von Reutte, Karl Schretter, im März 1938. Richard Lipp zeigt, dass die gemäßigteren Kräfte in der NSDAP den Kürzeren zogen und innerhalb der Partei jeder bis hinauf zum Kreisleiter mit aller Härte verfolgt wurde, der von der politischen Linie von Gauleiter Franz Hofer abwich. Der Autor verdeutlicht, dass sich daher schon wenige Monate nach dem Anschluss die Herrschaftspraxis des Nationalsozialismus in Reutte nicht von jener in den anderen Kreisen unterschied. Nachdrücklich veranschaulicht er dies am Schicksal der jüdischen Familien und an der „Arisierung des Metallwerks Plansee, des bedeutendsten Unternehmens im Außerfern. Nachdem sich die Clique um Franz Hofer durchgesetzt hatte, inszenierte sie im November 1938 einen Personenkult um den Gauleiter, der selbst für nationalsozialistische Verhältnisse grotesk war. Auf diese Weise sollte die schwere Krise der Partei nach den erbitterten Querelen um die Führung im Kreis Reutte überdeckt und ein Bild der Harmonie vermittelt werden.

    „In Landeck gibt’s wohl keinen Arbeitslosen mit Familie, der das Kunststück zuwege bringt, seine vielköpfige Familie auch nur halbwegs mit der Arbeitslosenunterstützung zu ernähren. Und sogar um diese Unterstützung müssen die armen Familienväter tatsächlich bangen!", war 1933 in der Volkszeitung zu lesen. Dem Zusammenhang von Armut, Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot einerseits sowie dem Erstarken der NS-Bewegung andererseits schenkt Roman Spiss ebenso seine Aufmerksamkeit wie der nationalsozialistischen Festkultur und der Stimmung in der Bevölkerung. In seinen Ausführungen verknüpft er objektive Daten mit Berichten von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen. Der propagandistischen Ästhetisierung des öffentlichen Raums nähert sich der Autor nicht nur textlich, sondern auch durch die Auswertung eines zeitgenössischen Farbfilms, dem er Standbilder entnommen hat.

    In seinen Beiträgen zur Stadt Innsbruck analysiert Horst Schreiber die politische Kraft der Rede von der „Volksgemeinschaft. Ihre Attraktivität beruhte auf der Praxis des Mitmachens, auf der Beschäftigungspolitik und Förderung einer Leistungsgemeinschaft, auf dem utopischen Entwurf einer herrlichen Zukunft sowie auf der Herstellung von Gemeinschaft durch Inklusion und Exklusion. Der Autor untersucht das Auseinanderklaffen von Anspruch und Wirklichkeit, stellt aber fest, dass Dissonanzerfahrungen bis zum Krieg nur bei einer verschwindend kleinen Minderheit zu widerständigem Verhalten führten. Insgesamt war die Mobilisierungsfähigkeit des NS-Regimes beachtlich und seine soziale Integrationskraft aufgrund attraktiver Angebote, Aufstiegs- und Zukunftsversprechen (Arbeit, Wohnen, Urlaub, Auto, Konsum, gesellschaftliche Harmonie, Leistung statt Klassenherkunft) sowie durch die Teilhabe an einer Erlebnisgemeinschaft auf rassistischer Grundlage mit gemeinsamen Praktiken und Ritualen groß. Die Kehrseite der auf Reinheit gegründeten homogenen „Volksgemeinschaft der Gleichen war der Ausschluss der Anderen durch Gewalt und die Ermächtigung der Mitglieder der „Volksgemeinschaft zur Gewalt. Diffamierung, Stigmatisierung, Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung und schließlich Vernichtung stärkten die Wir-Gruppe, wirkten identitätsstiftend, förderten die Loyalität zur Diktatur und ermöglichten, oft unter dem Deckmantel der ideologischen Übereinstimmung mit dem Nationalsozialismus, eigene materielle Interessen zu verfolgen. Horst Schreiber untersucht diesen Zusammenhang am Beispiel der Exklusion von Menschen, die als „Asoziale mit abweichendem Sozialverhalten, Lebensstil und sexueller Orientierung kategorisiert wurden; nicht immer, aber meist handelte es sich um Randständige, die unteren Klassen angehörten und in Armut lebten – um Roma, Sinti, Jenische, Unangepasste, „Arbeitsscheue, „Gewohnheitsverbrecher und BettlerInnen. Eine Querschnittsgruppe waren Homosexuelle, welche die NS-Behörden nicht nur als triebhaft abartig darstellten, sondern auch als Bedrohung für das angestrebte Bevölkerungswachstum ansahen. Ihre Verfolgung diente zudem als Vorwand im Kampf gegen die katholische Kirche, nicht zuletzt um einen Zugriff auf Klöster und Stifte zu haben.

    Nirgends war das Wesen der „Volksgemeinschaft mit seiner Einteilung in kategorial Ungleiche, in Zugehörige und Nicht-Zugehörige so sichtbar wie in der antisemitischen Praxis der NS-Diktatur, die mehrheits- und zustimmungsfähig war. Wer Zeitungen las oder Radio hörte, war täglich mit der Judendiskriminierung konfrontiert. Wer durch Innsbruck schlenderte, seine Besorgungen machte, seinem Beruf nachging oder sich auf der Straße unterhielt, stieß ständig auf Aufforderungen zum Judenhass; sah im Stadtzentrum ein beschmiertes jüdisches Geschäft nach dem anderen; musste sich mit der Aufforderung zum Boykott des Einkaufens bei Jüdinnen und Juden auseinandersetzen; hörte das Brüllen judenfeindlicher Parolen Uniformierter, die in Massen auftraten. Die judenfeindliche Beteiligungsbereitschaft in der Bevölkerung und die „tätige Teilhabe an der Aneignung jüdischen Vermögens demonstrieren eine komplizenhafte Mitwirkung eines breiten gesellschaftlichen Spektrums an der NS-Machtausübung und dessen „repressive Toleranz" gegenüber der Entrechtung der Jüdinnen und Juden Innsbrucks. Gewalt und besonders die Gewalt des antisemitischen Rassismus stifteten Gemeinschaft.

    Welch verheerende Auswirkungen diese Gewalt hatte, muss vor allem aus der Perspektive der Opfer und ihrer Lebenswelt wahrgenommen werden. Michael Guggenberger schildert am Beispiel des Überfalls auf das betagte Ehepaar Popper nicht nur minutiös, wie die Pogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938 verlaufen ist. Er veranschaulicht weiters die Reaktionen von Laura und Julius Popper, ihre Verzweiflung und Vereinsamung inmitten einer entsolidarisierten Gemeinschaft, in der sie kurz zuvor noch angesehene Mitglieder waren. Der Autor macht sie trotz aller Ohnmacht auch als aktiv Handelnde sichtbar, die um ihr Überleben kämpften. Laura Popper erweist sich ungeachtet ihres fortgeschrittenen Alters als beherzte Frau, die nicht nur mutig alles in Bewegung setzte, um zu ihrem Ehemann zu gelangen, der in Gestapohaft saß. Bis zu seiner Entlassung organisierte sie auch die Auflassung ihres Haushalts als Vorbereitung für die Flucht aus Innsbruck. Michael Guggenberger legt die vielfältigen Verhaltensweisen der Akteure und Akteurinnen offen. Wir begegnen Tätern, die sich in ihrer Gewaltanwendung voneinander abheben, und unterschiedlich Beteiligten, die passiv bleiben, schweigen, Hilfe verweigern, stehlen, schadenfroh spotten oder sich am Leid der Betroffenen lustvoll ergötzen, vereinzelt aber auch kleine Zeichen menschlicher Anteilnahme zu erkennen geben. Nach den Ausschreitungen und Morden des 10. November 1938 hieß es für die jüdische Bevölkerung „nichts wie fort aus Innsbruck".

    Niko Hofinger hat mit dem Briefverkehr der jüdischen Familie Krieser aus Innsbruck ein einzigartiges Zeugnis des Lebens einer jüdischen Familie aus Innsbruck in den ersten eineinhalb Jahren der NS-Zeit erschlossen. Die Briefe vermitteln die Innensicht der Betroffenen auf die Auswirkungen der antisemitischen Politik und die Reaktionen der Umwelt auf den fortschreitenden Ausschluss der Familienmitglieder aus der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft. Die Leserinnen und Leser erfahren von den Alltagssorgen der Diskriminierten, von ihren Ängsten, Hoffnungen und Überlegungen, wie sie der sich stetig verschlechternden Lebenssituation begegnen sollen. „Was wir Ernerl machen werden wissen wir nicht; täglich werden hier die Juden, natürlich auch wir strengstens aufgefordert das Land zu verlassen. wohin? darum kümmert sich kein Mensch! Wohnungen soll man räumen, das Land soll man verlassen und man kann nirgends hinein; ahnst Du wie einem zu Mute sein kann?", schreibt Fanny Krieser aus Innsbruck an ihre Tochter Erna in Florenz im September 1938.

    Claudia Rauchegger-Fischer und Horst Schreiber präsentieren Männer und Frauen aus Schwaz oder mit Bezug zu diesem Bezirk, die vom Anschluss profitierten. Junge ehrgeizige Männer, die sich früh für den Nationalsozialismus engagierten, aber auch Unternehmer, die sich in der Zeit der Illegalität der NSDAP bewährten, machten in Partei, Verwaltung oder Wirtschaft Karriere. Nach 1945 mussten sie eine Zeitlang einen Bruch in ihrer Berufsbiographie in Kauf nehmen, dann konnten sie wieder hohe Positionen im Amt der Tiroler Landesregierung oder in Privatunternehmen erklimmen bzw. sich der materiellen Bereicherung aus der NS-Zeit erfreuen. Der begeisterte Nationalsozialist Walter Waizer, Ehrenbürger der Stadt Schwaz und Stiftungsmäzen, erfährt im Beitrag eine Ergänzung jenes bislang wenig beachteten Teils seines Lebenslaufes, der ihn als Günstling des NS-Regimes und von Gauleiter Franz Hofer ausweist.

    Am Beispiel von Angehörigen der Generation des Bundes deutscher Mädel gehen die beiden AutorInnen der Frage nach, inwiefern der Nationalsozialismus jungen Frauen Aufstiegschancen offerierte und diese eine Erweiterung ihres weiblichen Handlungsspielraumes erlebten. Sie stützen sich auf Interviews, die Claudia Rauchegger-Fischer geführt hat und die eine Darstellung aus erfahrungsgeschichtlicher Perspektive ermöglichen. Die AutorInnen spannen den Bogen ihrer Analyse über die Jahre zwischen 1938 und 1945 bis in die Gegenwart. Auch im hohen Alter halten diese Frauen an der sie emotionalisierenden Idee der „Volksgemeinschaft als erweiterter Großfamilie ebenso fest wie an der für sie so identitätsprägenden Kraft der NS-Zeit, die als schön, erfüllend und emanzipatorisch in Erinnerung blieb. Sie verweigern sich einer Neuinterpretation dieses Lebensabschnitts, die Verlust von Sinn, Übernahme von Verantwortung und eine bewusste Konfrontation mit Scham, Schmerz und Trauer nach sich gezogen hätte. Eigentlich sehnen sie sich in die für sie gute alte Zeit zurück, haben sie „Heimweh nach Vergangenheit.

    Martin Kofler thematisiert die Visual History des Bezirks Lienz zum Anschluss. Er stellt eine Lücke in der fotografischen Überlieferung der Geschehnisse in den eigentlichen Tagen des politischen Umbruchs fest, erst mit dem NS-Großaufmarsch vom 18. März 1938 wird die nationalsozialistische Machtübernahme in Osttirol fotografisch greifbar. Die maßgebliche NS-Zeitung, der Deutsche Osttiroler, bebilderte ihre Artikel selten und übernahm Fotos meist von auswärtigen Pressestellen. Dennoch sind visuelle Quellen zum Jahr 1938 in Osttirol vorhanden, die breiter gefächert sind, als man vermuten würde. Sie reichen von Bild-Postkarten für touristische Zwecke über die üblichen Porträt-Aufnahmen Uniformierter zu Fotos, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen, und Aufnahmen propagandistischer Inszenierungen, die auch im ländlichen Raum eine beachtliche Dichte von Bilddokumenten angestoßen haben. Im Foto-Essay von Martin Kofler finden sich repräsentative Beispiele für das Bildgedächtnis zum Anschluss-Jahr in Osttirol.

    Michael Guggenberger begibt sich auf Spurensuche nach öffentlichen und privaten Ereignissen in den Tälern und auf den Bergen Tirols, welche die Begeisterung für die nationalsozialistische Machtübernahme auf widersprüchliche, teils skurrile und absurde Weise demonstrieren. Irritiert lesen wir Zuschriften an die Bauernzeitung, die uns einen weitverbreiteten religiös geprägten Antisemitismus vor Augen führen. Wir staunen über die Faszination des „Führers, die ein vierjähriger Bub in einem großbürgerlich-städtischen Milieu an den Tag legt. Die Eingabe eines Innsbruckers im Sommer 1938 aus Erwägungen des Naturschutzes gegen das Aufmalen von Hakenkreuzen, weil diese die Berge verschandeln würden, verwundert. Der Autor schließt mit der Geschichte des bekannten Osttiroler Bergsteigers, Weltreisenden, Radiovortragenden, Heimatdichters und Schriftstellers Hannes Schneeberger, der als erster eine Hakenkreuzfahne am Großglockner hisste und dafür von Adolf Hitler in Berlin geehrt wurde. Bis sich herausstellte, dass er manipuliert hatte. Wohin der Anschluss Österreichs an das nationalsozialistische Deutschland führte, veranschaulicht sein Schicksal, das viele Tiroler mit ihm teilten: Im Februar 1943 erlitt Tausendsassa Schneeberger als Unteroffizier und Sonderführer im Kaukasus „den Heldentod für Führer und Reich.

    Horst Schreiber

    Von den Anfängen der NSDAP zur Machtübernahme

    Im Herbst wurde die erste Ortsgruppe der „Deutschen Nationalsozialistischen Arbeiterpartei (DNSAP) in Innsbruck gegründet. Ende September 1920 trat Adolf Hitler das erste Mal in der Landeshauptstadt öffentlich auf. Während die deutschnationalen Innsbrucker Nachrichten sein Redetalent würdigten und sein Programm mit „national, sozial und antisemitisch beschrieben, mokierte sich die sozialdemokratische Volkszeitung über Hitler, der die spärlich erschienenen Besucherinnen und Besucher erst mit antisemitischen Tiraden aus der Reserve locken konnte, „so daß auch die glücklich Schlummernden erschrocken erwachten und ‚Hepp, hepp, Jud, Jud‘ brüllten. So sachlich der Redner begann, so unheimlich geistlos endete er. Aber das eine muß ihm auch der Neid lassen: Lungenkrank und asthmaleidend ist der gute Mann nicht. Der Überfluß an Lungenkraft kann aber trotzdem das Minus an geistiger Kraft nicht ersetzen."1

    1923 errang die DNSAP bei Wahlen zum Innsbrucker Gemeinderat ihr erstes Mandat, 1925 ihr zweites. Die Anzahl der erhaltenen Stimmen war allerdings von 2.039 auf 1.683 gesunken. Bis 1929 reduzierte sich der Anteil nationalsozialistischer Wählerinnen und Wähler wieder auf 479 Stimmen, die sich noch dazu auf zwei einander konkurrierende Listen aufteilten. 1926 spaltete sich die NS-Bewegung in das Lager der nach Deutschland orientierten „NSDAP-Hitlerbewegung", die am 9. Oktober die Ortsgruppe Innsbruck gegründet hatte, und in jenes der österreichischen DNSAP.2 Aufgrund der lächerlich geringen Mitgliederzahlen von 112 eingeschriebenen Personen musste sich die NSDAP Tirol im Juni 1928 mit Vorarlberg und Salzburg zu einem „Westgau unter der Führung von Ing. Heinrich Suske aus Innsbruck zusammenschließen. Die Organisationsdichte ließ jedoch mit neun Ortsgruppen bzw. Zellen im Jahr 1929 weiterhin zu wünschen übrig. Außerhalb von Innsbruck und Kufstein konnte die Partei kaum Fuß fassen, die Streitigkeiten wollten kein Ende nehmen, auch nicht nach der Übernahme der Gauleitung durch Ing. Rudolf Riedl im August 1931. Innsbruck galt der Reichsparteileitung als „ein ganz übles Stänkernest.3

    Ab Ende 1931 erhielt die NSDAP angesichts der Weltwirtschaftskrise und horrend steigender Arbeitslosigkeit deutlich mehr Zulauf, sodass am 27. April 1932 Tirol-Vorarlberg wieder einen eigenen Gau mit 24 Ortsgruppen bilden konnte, davon 14 in Tirol. Das Zentrum der Partei war eindeutig Innsbruck. Den Behörden zufolge soll es in der Landeshauptstadt unter Einschluss von Hötting bereits rund 1.000 Parteimitglieder gegeben haben. Damit lag Innsbruck bei der Mitgliederstärke im österreichischen Vergleich der Bezirke an sechster Stelle, während der Gau Tirol-Vorarlberg den letzten Platz einnahm.4 Die neugewonnene Stärke der NSDAP äußerte sich in ihrer Bereitschaft, die Linke innerhalb und außerhalb von Innsbruck in ihren Zentren provokant herauszufordern. Die Folge waren gewaltsame Zusammenstöße mit Schwerverletzten und Toten. Blutiger Höhepunkt war die „Höttinger Saalschlacht" am 27. Mai 1932 zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten auf der einen und Nationalsozialisten auf der anderen Seite. Bei diesem Konflikt kam mit Sylvester Fink österreichweit der erste Nationalsozialist ums Leben.5

    Im November 1932 stieg der erst 30-jährige Innsbrucker Radiohändler Franz Hofer zum Gauleiter auf. Sein Alter weist auf die besondere Jugendlichkeit der NS-Bewegung hin. Sie vermochte immer mehr Arbeiter anzusprechen, die die Reihen der SA stärkten und im Straßenkampf wichtig waren. Es liefen nun aber auch zahlreiche Männer der Heimatwehr, einer katholisch-konservativ orientierten paramilitärische Organisation, die der Tiroler Volkspartei nahestand, zur NSDAP über, deren Ortsgruppenleiter vielfach aus dem Kreis der Bundes- und Landesangestellten stammten, auch Lehrer befanden sich unter ihnen. Allein zwischen Jänner und März 1933, also unmittelbar nach der Machtübernahme Hitlers in Deutschland, konnte die NSDAP im Gau Tirol-Vorarlberg 89 Ortsgruppen gründen. Ab Frühling 1933 nahm die Zahl der Ortsgruppen und Mitglieder eine geradezu stürmische Entwicklung, gerade auch in kleinen Ortschaften und in Gebieten, wo der Nationalsozialismus bis dahin noch völlig inexistent gewesen war. Auch wenn er nun am Land breiter aufgestellt war, die bäuerliche Bevölkerung blieb in der Partei weiterhin deutlich unterrepräsentiert. Zulauf erhielt die NSDAP besonders aus dem neuen und alten Mittelstand, speziell aus den Reihen der Freiberufler, Gastwirte und Hoteliers. Im März und Mai 1933 traten die Bürgermeister von Kitzbühel und Reutte, beide Hoteliers, der NSDAP bei. Kitzbühel entwickelte sich neben Innsbruck und Kufstein zur Hochburg der NS-Bewegung. In Imst stieg Oberregierungsrat Leo Kravogl, Bezirkshauptmann von Reutte 1925 bis 1933, zum Kreisleiter auf. Die Gemeinden Imst, Kramsach und Fügen verliehen Adolf Hitler die Ehrenbürgerschaft.6 Unter Hofers Führung erreichte die NSDAP den österreichweit spektakulärsten Erfolg in demokratischen Wahlen. Bei den Innsbrucker Gemeinderatsergänzungswahlen im April 1933 erhielt sie 41 % der abgegebenen gültigen Stimmen. 15.000 Wählerinnen und Wähler machten die Partei zur stärksten Fraktion. Eine Woche später fielen in Landeck knapp 38 % der abgegebenen gültigen Stimmen auf die NSDAP. Ihr war es in hohem Maß gelungen, die Jung- und NichtwählerInnen für sich zu mobilisieren, das deutschnationale bzw. großdeutsche Lager aufzusaugen und in beachtlichem Ausmaß ins Lager der Sozialdemokratie einzubrechen.7

    In Österreich und mehr noch in Tirol war die nationalsozialistische Bewegung gespalten, ihre Funktionäre konkurrierten miteinander. Erst die Auswirkungen der Weltwirtschaftskrise und die Machtübernahme Adolf Hitlers in Deutschland bewirkten den Aufschwung der NSDAP im Land. (Stadtarchiv Innsbruck)

    Gauleiter Franz Hofer (Bildmitte) bei einer NS-Kundgebung in der Maria-Theresien-Straße am 7. Mai 1933, wenige Wochen nach dem ersten großen Sieg der Partei bei den Kommunalwahlen in Innsbruck (Stadtarchiv Innsbruck)

    Ausflug der NSDAP Telfs (Archiv Stefan Dietrich). Außerhalb der Städte war es für die Hitler-Partei weitaus schwieriger, in Konkurrenz zum Pfarrer und zu den Dorfhonoratioren Fuß zu fassen. Viele ihrer Funktionäre waren Querulanten, randständig und ohne Grundbesitz. Erst nach dem Anschluss drang die NSDAP am Land tief ins katholisch-konservative Milieu ein.

    NS-Terror und Verbot der Partei

    Da aber die Regierung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß im März 1933 das Parlament ausschaltete, im Mai alle Landtags- bzw. Gemeinderatswahlen aussetzte und nach dem Bürgerkrieg im Februar 1934 die Sozialdemokratie, den Parteienstaat und die Republik beseitigte, konnte die NSDAP nicht mehr auf legalem Weg an die Macht gelangen. NS-Terroraktionen, Großdemonstrationen und blutige Zusammenstöße mit der Heimatwehr erschütterten ab Frühjahr 1933 Tirol und ganz Österreich. Auf Versammlungen im Außerfern kündigte der Organisationsleiter der NSDAP, Franz Pisecky, an, alle „großen Lumpen" hängen zu lassen und die kleinen ins KZ zu transportieren, sobald die Nazis an der Macht wären. Auf der Fahrt nach Höfen hätte er bereits einen geeigneten Platz zur Errichtung des KZ Nummer 1 in Tirol gesehen.8 Nach dem Attentat auf den Tiroler Heimatwehrführer Richard Steidle am 11. Juni 1933 besetzte die Heimatwehr das Braune Haus, Hauptquartier der NSDAP in der Müllerstraße, am nächsten Tag begann die vom Bundeskanzleramt befohlene Verhaftung aller höheren NS-Führer in Österreich. Die Massenfestnahmen trafen auch Ortsgruppenleiter und einfache Mitglieder. Die Fortsetzung terroristischer Anschläge in ganz Österreich bewegte die Bundesregierung am 19. Juni 1933 dazu, die NSDAP zu verbieten. Bis Oktober 1933 flohen rund 600 Tiroler Nationalsozialisten nach Deutschland. Viele von ihnen traten der Österreichischen Legion bei, die zum richtigen Zeitpunkt in Österreich einmarschieren sollte. Trotz der Verhaftungen erhielt die NSDAP weiterhin Zulauf. Gauleiter Hofer wurde Ende August 1933 auf spektakuläre Weise aus dem Gefangenenhaus des Innsbrucker Landesgerichts befreit. Von München aus gab er weiterhin Befehle für den Kampf in Tirol. Die illegale NSDAP setzte ihre Terror- und Propagandaaktivitäten fort. Zentrum der NS-Bewegung war die Universität, führende Aktivisten waren Burschenschaftler und Corpsstudenten. An Eisenbahnstrecken, Brücken, Elektromasten und in Bezirkshauptmannschaften legten die Nationalsozialisten Bomben oder warfen Granaten. Attentate, Mord- und Sprengstoffanschläge, „Papierbölleraktionen, Hakenkreuzschmierereien, Flugblattaktionen und das Abbrennen von Hakenkreuzfahnen beherrschten bis zum Juli 1934 das äußere Erscheinungsbild Tirols. Kurzfristige „Ruhe trat während der Februarkämpfe ein. Die NSDAP verkündete für diese Zeit der Niederringung der Sozialdemokratie und Einführung der Diktatur durch die Regierung Dollfuß einen „Friedensschluss".9

    Am 25. Juli 1934 versuchten die Nationalsozialisten mit Gewalt, die Macht in Österreich an sich zu reißen. Dieser „Juli-Putsch" scheiterte kläglich, kostete aber vielen Menschen das Leben, unter ihnen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und der Kommandant der städtischen Sicherheitswache von Innsbruck, Franz Hickl. Aus Rache erschoss daraufhin die Heimatwehr den Nationalsozialisten Josef Honomichl. Hickls Mörder, SS-Scharführer Friedrich Wurnig, wurde hingerichtet.10

    Nun setzte eine weitere Flucht- und Verhaftungswelle ein, die NSDAP verlor ihre wichtigsten Kader und verschwand bis zum Juliabkommen 1936 aus dem öffentlichen Leben. Bundeskanzler Kurt Schuschnigg entschloss sich zur Anpassung an Forderungen aus Deutschland, nachdem Italien als Garant der österreichischen Unabhängigkeit durch sein Bündnis mit Hitler verlorengegangen war. Österreich musste verurteilte NS-Aktivisten amnestieren und Nationalsozialisten in die politische Arbeit einbinden. Unter diesen Bedingungen gelang dem illegalen Gauleiter Edmund Christoph die Reorganisation der Partei, wenngleich sie ihre alte Durchschlagskraft nicht mehr erreichte. Die SA gewann bis 1937 eine ähnliche Stärke wie vor dem Parteiverbot. Ihr war es gelungen, junge Arbeiter, vielfach mit ehemals sozialdemokratischer Gesinnung, anzusprechen, die kaum Beschäftigung fanden, die Diktatur Schuschniggs hassten und von ihrer Partei enttäuscht Anschluss an eine dynamische und aktivistische Bewegung suchten, die Hoffnung gab, das austrofaschistische Regime zu stürzen. Der Druck der Exekutive auf NS-Aktivisten ließ nach, sie infiltrierten die staatlichen Institutionen, Justiz, Polizei und Gendarmerie. Die Integration von Nationalsozialisten und NS-Sympathisanten in die nach dem Juliabkommen neu errichteten Volkspolitischen Referate im Rahmen der Vaterländischen Front, der austrofaschistischen Einheitspartei, trieb die nationalsozialistische Unterwanderung von Staat und Gesellschaft rasch voran. Mit dieser Strategie setzte sich Gauleiter Christoph gegen den revolutionär gesinnten Flügel in der NS-Bewegung durch. Auch gegen Hofer, der als „Exponent des Berliner Zentralismus weiterhin versuchte, seinen Einfluss in Tirol geltend zu machen. Er stand Christophs Kurs einer „Machtübernahme auf evolutionärem Weg ablehnend gegenüber.11

    Die Jahre 1933/34 erlebten eine groß angelegte Propaganda-Offensive der NSDAP. Sie verübte zahlreiche Anschläge und Terror-Attentate, die erheblichen Sachschaden zur Folge hatten und Menschenleben gefährdeten. Nicht nur politische Gegner und jüdische Familien dienten als Zielscheibe, auch Unbeteiligte waren betroffen. Ein Sprengkörper riss dem 17-jährigen Schüler Walter Lunger die rechte Hand ab. (Stadtarchiv Innsbruck)

    Höhepunkt desTerrors war der gescheiterte Juli-Putsch 1934 und die Ermordung des diktatorisch regierenden Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß. Nach Massenverhaftungen und Massenflucht über die deutsche Grenze machten sich die im Land verbliebenen illegalen NS-Aktivisten erst wieder ab 1936 bemerkbar. Ihre Hauptstoßrichtung war die Unterwanderung des Staates, seiner Organisatio nen und Institutionen. (Stadtarchiv Innsbruck)

    Ende 1937 befand sich Österreich in einer verzweifelten Lage. Die Befriedungspolitik der Regierung Schuschnigg hatte die NS-Bewegung gestärkt. Die Arbeitslosigkeit war überdurchschnittlich hoch, die Produktionskapazitäten der Unternehmen waren wenig ausgelastet, die Arbeiterschaft darbte, der Mittelstand war höchst unzufrieden und selbst in der Bauernschaft war die Stimmung äußerst schlecht, viele Betriebe waren überschuldet oder hatten bereits aufgeben müssen. Deutsche Konzerne und Finanzindustrie drängten auf eine Einbeziehung des österreichischen Wirtschaftspotenzials, ebenso Hermann Göring als Verantwortlicher des Vierjahresplans. Deutschland benötigte Arbeitskräfte, Soldaten, Produktionsstätten, Rohstoffe, Konsummöglichkeiten und Devisen, es war praktisch pleite. All dies war in Österreich im Überfluss vorhanden. Auch strategisch bot die geografische Lage des Landes Vorteile für den geplanten Krieg. Hitler hielt sich beide Optionen offen, sowohl den evolutionären Weg, die Unterwanderung Österreichs bis zur friedlichen Machtübernahme, als auch die militärische Lösung.

    Aufstellung des Sturmkorps der Vaterländischen Front vor ihrem Führer Kurt Schuschnigg (Arbeiterkammer Wien). So wie sein Vorgänger Engelbert Dollfuß organisierte der aus Tirol stammende Bundeskanzler eine Diktatur nach dem Vorbild des faschistischen Italien, die das Land spaltete, den Staat international isolierte und Österreich 1938 widerstandslos dem Nationalsozialismus auslieferte.

    „Den Schwarzen (…) und den Juden wird jetzt langsam schwül"

    Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Österreich ist als dreifacher Prozess zu verstehen: als scheinlegale Machtergreifung von oben, als pseudorevolutionäre Machtergreifung von unten und als imperialistische Militärintervention von außen.

    Die entscheidende Phase der pseudorevolutionären Machtergreifung von oben leitete das Diktat Hitlers ein, vor dem Schuschnigg am 12. Februar 1938 beim Treffen auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden kapitulierte. Österreich musste von nun an seine Außen-, Wirtschafts-, Militär- und Pressepolitik mit Deutschland abstimmen. Schuschnigg nahm die „gemäßigten" Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart und Guido Schmidt als Innen- und Außenminister in seine Regierung auf. Viele illegale Nazis erhielten Amnestie und Parteianhänger das Recht, sich weitgehend frei zu betätigen. Von hohem praktischen und symbolischen Wert für die NS-Bewegung war die Entlassung des Chefs des österreichischen Generalstabs Feldmarschall Alfred Jansa, eines erbitterten Gegners des Dritten Reiches, der Österreich militärisch auf einen Krieg mit Deutschland vorbereiten wollte. Das Signal, dass die Regierung im Ernstfall nicht zu einer militärischen Verteidigung Österreichs bereit war, wirkte sich wie das gesamte Abkommen von Berchtesgaden demoralisierend auf die Anhängerschaft des Schuschnigg-Regimes aus. Im Schreiben an ihre Cousine in Deutschland verdeutlicht die 17-jährige Lore K., wie sehr die Nationalsozialisten in Innsbruck nun Oberhand bekamen:

    „Wir haben es gar nicht begreifen können, dass jetzt auf einmal alles anders werden sollte. Du kannst dir das vielleicht gar nicht vorstellen, weil du es gewohnt bist, dass jeder seine nationalsozialistische Gesinnung zeigen darf. Wenn du aber denkst, wenn einer oft wegen Flugblattverteilen oder auch nur, wenn man wusste, dass er für Hitler eingestellt war, monatelang eingesperrt oder in Wöllersdorf im Konzentrationslager war oder aus der Stellung oder Schule hinausgeflogen ist, kannst du das vielleicht eher verstehen. Man durfte nichts sagen, wenn es jemand hörte, und jetzt ist das auf einmal ganz anders. Jeder darf sich als Nationalsozialist bekennen, darf auf der Straße, in Schulen und Ämtern Gesinnungsgenossen mit dem Hitlergruß grüßen und das Hakenkreuz tragen. (...) Am Sonntag den 20. [Februar] war in Innsbruck ein großer Fackelzug (...) 8000 sind mitmarschiert, aber die Straßen waren ganz überfüllt von solchen, die nicht mitmarschiert sind, sondern nur zugeschaut haben. Alles war ein Sieg-Heil oder Heil-Hitler-Ruf. Die Polizei, die sonst immer gleich dreinschlägt, hat zugeschaut und gelacht. (...) Den Schwarzen, die in der letzten Zeit hochgekommen sind, und den Juden wird jetzt langsam schwül."12

    Am Festumzug zu Ehren des neu ernannten nationalsozialistischen Innenministers Arthur Seyß-Inquart nahmen nicht 8.000, sondern 3.000 Menschen teil, viele bereits in NS-Uniformen. Der Auftrieb für die Nationalsozialisten und ihre Sympathisantinnen war unverkennbar. In den folgenden drei Wochen demonstrierten sie in Umzügen und Märschen in allen Städten und zahlreichen Gemeinden am Land provokant ihre wiedergewonnene Stärke und ihr enorm gestiegenes Selbstbewusstsein.13 Der Bezirkshauptmann von Innsbruck beklagte: „Die Durchsetzung des Autoritätsgedankens (...) zeigt in der gegenwärtigen Situation ein wahrhaft jämmerliches Bild.14 Die nationalsozialistischen Kundgebungen nahmen an Intensität zu, als Bundeskanzler Schuschnigg am 9. März im Innsbrucker Stadtsaal eine Volksbefragung für den 13. März ankündigte: „Für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich. Die deutsche Regierung forderte bereits wenige Stunden später ihre Absage. Am 10. März arbeitete der Generalstabschef des deutschen Heeres Einmarschpläne für den 12. März in Österreich aus. Am 11. März um zwei Uhr in der Früh hatte das Oberkommando der Wehrmacht die Weisung für den Einmarsch unterschriftsreif vorbereitet, um 10 Uhr erhielt Bundeskanzler Schuschnigg von Seyß-Inquart einen Brief Hitlers mit dem Ultimatum ausgehändigt, die Volksbefragung unverzüglich abzusagen. Bereits kurz nach Mitternacht hatte die Österreichische Landesleitung der NSDAP die Weisung an die Gauleitungen erteilt, die Machtübernahme zu erzwingen, wenn die Volksbefragung abgehalten würde. Als die Nationalsozialisten am 10. und 11. März auf die Straßen strömten, rissen sie das Gesetz des Handelns an sich. Die Regierung in Wien zeigte sich unfähig zu einem koordinierten Vorgehen, die Tiroler Landesregierung blieb passiv, die wenigen Exponenten des austrofaschistischen „Ständestaates", die wie der Tiroler Sicherheitsdirektor oder die Bezirkshauptmänner von Reutte und Schwaz Widerstand leisten wollten, blieben auf sich alleine gestellt. Den Befehl des Bezirkshauptmanns von Reutte, nötigenfalls mit Waffengewalt gegen eine immer massiver auftretende 800-köpfige Menschenmenge in der Bezirkshauptstadt vorzugehen, lehnte der verantwortliche Kommandant ab.15 Das politische System zeigte sich wie paralysiert, spätestens seit den frühen Morgenstunden des 11. März kann man infolge dieses Machtvakuums in Tirol, so wie im gesamten Bundesgebiet, von einer Art Doppelherrschaft sprechen.

    Nationalsozialistische Demonstrationen am 11. März 1938 in der Maria-Theresien-Straße und in der Anichstraße mit dem Ziel, die Regierung zur Absage der Volksbefragung zu zwingen. (Fotos links und unten: Stadtarchiv Innsbruck. Foto rechts: Österreichische Nationalbibliothek)

    Die Machtübernahme

    Zentrum der NS-Demonstrationen in Tirol war Innsbruck, wo die Proteste bereits um 9 Uhr in der Früh in Form „lebhafter Bummel" starteten.16 Als die NS-Umtriebe immer augenscheinlicher wurden, riegelte die Exekutive die Zugänge zum Landhaus ab und sperrte die Maria-Theresien-Straße. Vor der Annasäule und der Herzog-Friedrich-Straße baute sie je ein Maschinengewehr auf. Kurz vor Mittag durchbrachen zwei SA-Stürme und der SS-Studentensturm die Straßensperren. Dabei kam es zu Verletzten, ein SS-Mann wurde von einem Säbelhieb verwundet. Da sich die Polizei zurückzog, hatten die Nationalsozialisten die Hauptstraße Innsbrucks unter ihrer Kontrolle, sodass nun auch immer mehr Menschen aus der Bevölkerung, die bis dahin abgewartet hatten, die Reihen der NS-Formationen stärkten. Die Unentschlossenen stellten sich zunehmend auf die Seite der Demonstrierenden, die die Oberhand zu bekommen schienen. Gemeinsam wurde nun die Absetzung der Volksbefragung und des „Volksverräters Schuschnigg verlangt. Die Menge skandierte Kampfparolen, die auch auf mitgeführten Transparenten zu lesen waren: Alles für Österreich – Ohne Schuschnigg, Ein Volk – Ein Reich – Ein Führer oder Diese Wahl – ein Skandal. Die Demonstrationen, die als inszenierte Aktionen begonnen hatten, bekamen eine Eigendynamik. Eine SA-Standarte und weitere SA- und SS-Stürme strömten in die Innenstadt. Die Gauleitung hatte sich mit Ausnahme von Gauleiter Christoph, der sich zu Besprechungen in Wien aufhielt, im ersten Stock des Gasthofs Alt-Innsprugg einquartiert. Aus einem Fenster wehte bereits eine Hakenkreuzfahne. Dort war auch ein Lautsprecher postiert, mit dessen Hilfe führende NS-Funktionäre die Menschenmenge über die neuesten Entwicklungen in Wien informierten. Gauleiter-Stellvertreter Egon Denz rief die NS-Formationen zu Propagandamärschen in der ganzen Stadt auf, nirgends stießen sie auf Widerstand. Die Maria-Theresien-Straße war bereits am frühen Nachmittag derart überfüllt, dass die Polizei räumen wollte, nach Protesten von Denz aber darauf verzichtete. Stattdessen konnten SA- und SS-Männer mit weißen Binden als Hilfspolizisten auftreten und für „Ruhe und Ordnung sorgen.

    Auch NS-Sympathisantinnen nahmen zahlreich am Demonstrationszug teil. „Ein anständiger freier Mann" sollte nicht an der Volksbefragung teilnehmen. Von Frauen war auf den Transparenten nicht die Rede, wohl aber von wirklicher Gleichberechtigung im Nationalsozialismus. (Stadtarchiv Innsbruck)

    In Wien spitzten sich die Ereignisse inzwischen zu. Nachdem klargeworden war, dass weder Frankreich und England noch Italien zu mehr als zu verbaler Unterstützung bereit waren, informierte Kanzler Schuschnigg um 14 Uhr 3017 Bundespräsident Wilhelm Miklas über die Absage der Volksbefragung. Den Generalsekretär der Vaterländischen Front wies er an, die Kampagne zu stoppen. Um 15 Uhr erteilte Hitler die Weisung Nummer 1, Österreich militärisch zu besetzen. In hektischen Telefonaten forderte Hermann Göring von Berlin aus den Rücktritt Schuschniggs und die Ernennung von Arthur Seyß-Inquart zum neuen Bundeskanzler. Um 15 Uhr 30 willigte Schuschnigg ein. Der Bundespräsident war prinzipiell bereit, dessen Rücktritt zu akzeptieren, er weigerte sich aber, Seyß-Inquart zum Kanzler zu ernennen.18

    Als Gauleiter Christoph gegen 14 Uhr in Innsbruck eintraf, hatte er keine ausgearbeiteten Pläne für die weitere Vorgangsweise mitgebracht, die Gauleitung improvisierte. Inzwischen waren die Häuser in der Maria-Theresien-Straße von Hakenkreuzfahnen übersät, die Innenstadt erscholl von Heil-Hitler-Rufen, dem Deutschland- und Horst-Wessel-Lied. Gegen 16 Uhr marschierte eine riesige Menschenmenge durch die Straßen Innsbrucks. Angesichts dieser Lage war um diese Uhrzeit nach Berlin gemeldet worden, dass sich Innsbruck „in der Hand der Nationalsozialisten" befände.

    Auf Anweisung von Göring stellte der deutsche Militärattaché in Wien dem Bundespräsidenten um 17 Uhr 40 das Ultimatum, dass Seyß-Inquart bis 19 Uhr Bundeskanzler sein müsse. Präsident Wilhelm Miklas war über deutsche Truppenbewegungen an den österreichischen Grenzen informiert. Der deutsche Staatssekretär im Auswärtigen Amt wiederholte die Forderung gegenüber Miklas, verlängerte das Ultimatum aber bis 20 Uhr. Schuschnigg trat schließlich um 18 Uhr zurück, das Radio berichtete über die Absage der Volksbefragung. Der Bundespräsident lehnte jedoch weiterhin die Bestellung von Seyß-Inquart zum Kanzler ab und wollte ein „Widerstandskabinett" bilden, das aber nicht zustande kam. Um 19 Uhr 47 verkündete Schuschnigg seinen Rücktritt und die Abdankung seines Kabinetts unter Bekanntgabe der Einmarschdrohung der Wehrmacht und des Verzichts auf militärischen Widerstand. Um 20 Uhr 20 verlautbarte Seyß-Inquart im Rundfunk seinen Verbleib als Innen- und Sicherheitsminister. Hitler unterschrieb um 20 Uhr 45 die Weisung Nummer 2 zum Einmarsch deutscher Truppen in Österreich bei Tagesanbruch. Um 22 Uhr stimmte der Bundespräsident der Ernennung von Seyß-Inquart zum Kanzler zu, das Radio machte dessen Ernennung um 23 Uhr 14 publik, um 23 Uhr 45 folgte die offizielle Betrauung von Seyß-Inquart zum Bundeskanzler.19

    Der Tiroler Landeshauptmann verließ nach der Radiomeldung das Landhaus, Teile der Polizei waren übergelaufen und

    Gefällt Ihnen die Vorschau?
    Seite 1 von 1