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Momentaufnahmen: Kurioses, Lustiges aber auch Nachdenkliches aus dem Leben eines Polizisten
Momentaufnahmen: Kurioses, Lustiges aber auch Nachdenkliches aus dem Leben eines Polizisten
Momentaufnahmen: Kurioses, Lustiges aber auch Nachdenkliches aus dem Leben eines Polizisten
eBook684 Seiten9 Stunden

Momentaufnahmen: Kurioses, Lustiges aber auch Nachdenkliches aus dem Leben eines Polizisten

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Über dieses E-Book

Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Bis zur Pensionierung hätte ich nie daran gedacht, mein Leben in einem Buch niederzuschreiben. Dies änderte sich, nachdem ich mich bei Treffen mit ehemaligen Kollegen über unsere gemeinsame Zeit bei der Polizei unterhielt. Weißt Du noch ...? Kannst Du dich noch an den oder die erinnern ...? Was ist wohl aus der oder dem geworden ...? Lange und unterhaltsame Gespräche folgten. Oft mit nachdenklichem Effekt, die meisten jedoch lustig.
"Du schreibst doch gerne", hieß es dann oft. "Bring doch all die Geschichten und Erlebnisse mal zu Papier. Schreib ein Buch. Viele Menschen ahnen doch gar nicht, was wir so alles im Dienst erleben, mit was für Problemen und Aufgaben wir uns tagtäglich befassen müssen."
Ich fing daraufhin an, in meiner Erinnerung zu kramen und mir Notizen zu machen. Schon bald füllte sich mein Notizbüchlein und "Stoff" für mehrere hundert Seiten sammelte sich an.
In dieser Zeit des Nachdenkens starb meine Mutter. Sie hatte uns immer wieder mit zum Teil urkomischen Geschichten aus ihrem Leben, vor allem aber auch mit traurigen Geschehnissen aus der Kriegszeit, unterhalten. Dann wurde sie aus unserer Mitte gerissen und mit ihr alle ihre Erinnerungen.
Ihr Tod war schließlich der Impuls, mein privates Leben sowie die im Polizei- und Kriminaldienst erlebten Geschichten in einem Buch niederzuschreiben und somit meiner Familie und all denen, die sich für den Polizeiberuf in all seinen Facetten interessieren, zu erhalten. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, ein kurzweiliges und unterhaltsames Buch geschaffen zu haben.
SpracheDeutsch
HerausgeberTWENTYSIX
Erscheinungsdatum12. Mai 2023
ISBN9783740741976
Momentaufnahmen: Kurioses, Lustiges aber auch Nachdenkliches aus dem Leben eines Polizisten
Autor

Helmut Franz Weber

67 Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Zwei Enkelkinder, drei jüngere Geschwister. Über vierzig Jahre als Grenzschutzbeamter, Dienstgruppenleiter und Sachbearbeiter im Polizei- und Kriminaldienst. Seit 2016 im Ruhestand.

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    Buchvorschau

    Momentaufnahmen - Helmut Franz Weber

    Zur Entstehung des Buches:

    Warum habe ich dieses Buch geschrieben? Bis zur Pensionierung hätte ich nie daran gedacht, mein Leben in einem Buch niederzuschreiben. Dies änderte sich, nachdem ich mich bei Treffen mit ehemaligen Kollegen über unsere gemeinsame Zeit bei der Polizei unterhielt. Weißt Du noch ...? Kannst Du dich noch an den oder die erinnern ...? Was ist wohl aus der oder dem geworden ...? Lange und unterhaltsame Gespräche folgten. Oft mit nachdenklichem Effekt, die meisten jedoch lustig.

    Du schreibst doch gerne, hieß es dann oft. Bring doch all die Geschichten und Erlebnisse mal zu Papier. Schreib ein Buch. Viele Menschen ahnen doch gar nicht, was wir so alles im Dienst erleben, mit was für Problemen und Aufgaben wir uns tagtäglich befassen müssen.

    Ich fing daraufhin an, in meiner Erinnerung zu kramen und mir Notizen zu machen. Schon bald füllte sich mein Notizbüchlein und Stoff für mehrere hundert Seiten sammelte sich an.

    In dieser Zeit des Nachdenkens starb meine Mutter. Sie hatte uns immer wieder mit zum Teil urkomischen Geschichten aus ihrem Leben, vor allem aber auch mit traurigen Geschehnissen aus der Kriegszeit, unterhalten. Dann wurde sie aus unserer Mitte gerissen und mit ihr alle ihre Erinnerungen.

    Ihr Tod war schließlich der Impuls, mein privates Leben sowie die im Polizei- und Kriminaldienst erlebten Geschichten in einem Buch niederzuschreiben und somit meiner Familie und all denen, die sich für den Polizeiberuf in all seinen Facetten interessieren, zu erhalten. Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, ein kurzweiliges und unterhaltsames Buch geschaffen zu haben.

    Da die meisten in dem Buch beschriebenen Personen noch leben, habe ich fiktive Namen verwendet. Bei manchen Erzählungen habe ich auch den Ort des Schauplatzes woanders hinverlegt, um keine Rückschlüsse auf die betreffende Person zuzulassen.

    Über mich:

    67 Jahre alt, verheiratet, Vater von zwei erwachsenen Söhnen. Zwei Enkelkinder, drei jüngere Geschwister. Über vierzig Jahre als Grenzschutzbeamter, Dienstgruppenleiter und Sachbearbeiter im Polizeiund Kriminaldienst. Seit 2016 im Ruhestand.

    Inhaltsverzeichnis

    Was bleibt von mir?

    Wie alles begann

    Schulzeit

    Mein Freund Theo

    Fachoberschule

    Polizeiausbildung

    Ausbilder Eddie Newfarmer, Nico und ich

    Meine kurze Karriere als Kugelstoßer

    Die Amerikaner

    Eine abenteuerliche Durchsuchungsaktion

    Flughafen München-Riem

    Der Bayerische Ministerpräsident Strauß und ich

    PI Bad Wiessee

    Was mir von manchem Kollegen in Erinnerung blieb

    Grenzpolizeistation Salzburg/Bhf

    Den Strafbefehl zahlt die Polizei

    Der Vereinsausflug

    Da Hanse-Buale

    Mehr Glück als Verstand

    Wie ich das Grenzschutzamt Koblenz vierzehn Tage lang beschäftigte

    Mein erster Toter

    Studium für den gehobenen Dienst in Fürstenfeldbruck

    Grenzpolizeistation Freilassing/Saalbrücke

    Polizeiinspektion Traunstein

    Im Gericht

    Dumm gelaufen

    Die Gurtkontrolle

    Späte Einsicht

    Das ausgesetzte Baby

    Der Strafzettel

    Ausländer an der Notrufsäule

    Tobi

    Rainer. Der Superkriminaler

    Kennen Sie Satyriasis?

    Ruhpolding

    Ein traumhafter Wintertag

    Irren ist menschlich

    Die erste Liebe

    Frechheit siegt nicht immer

    Die alte Frau und der Besuch

    Das Arschloch

    KPI/Z

    Der Triathlonmann

    Die Welt ist zu klein, um sich vor mir zu verstecken

    Als ich das Angebot, ein Pornodarsteller zu werden sowie die Offerten von liebeshungrigen Frauen ausschlug

    Mordermittlungen

    Der Tod, ein ständiger Begleiter

    Pension

    Deutsche Sprache, schwere Sprache

    Liebe bis in den Tod

    Was bleibt von mir?

    Vielleicht ein Wort,

    in einem Buch mit hundert Seiten,

    verstaubt ganz hinten im Regal?

    Vielleicht ein Bild,

    im Album, in das niemand schaut.

    Vielleicht die Ähnlichkeit

    bei meinen Söhnen

    und den Enkelkindern in ferner Zeit.

    Vielleicht ein Satz,

    nicht sehr beliebt, weil er so wahr,

    und doch zitiert so manches mal.

    Vielleicht ein Lied,

    das gerne ich gehört,

    ein Song von anno dazumal.

    Vielleicht die Büsche,

    die gepflanzt ich vor dem Haus,

    im Sommer voller Blüten ohne Zahl.

    Was bleibt von mir?

    Vom Leib nur Staub.

    Doch vielleicht schwebt meine Seele

    überall in diesem Haus.

    Wie alles begann:

    An einem sonnigen Dienstag im Juni 1956 geschah etwas Weltbewegendes. Ich wurde geboren. Dass diesem epochalen Ereignis nicht mehr Bedeutung zugemessen wurde, lag vermutlich daran, dass zeitgleich der Volksaufstand in Ungarn blutig niedergeschlagen wurde, Grace Kelly den monegassischen Fürsten Rainier heiratete, Marilyn Monroe den Schriftsteller Arthur Miller ehelichte, sowie der 100. Todestag von Heinrich Heine und der 200. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart aufwendig gefeiert wurden. So blieb für mich nur Raum für einen kurzen Zweizeiler im Traunsteiner Tagblatt, in dem die Traunsteiner Bevölkerung darüber informiert wurde, dass sich Alois und Walfriede Weber freuen, die Geburt ihres Sohnes Helmut bekannt zu geben. Diese Enttäuschung galt es erstmals zu verdauen. Gott sei dank gab es damals noch keine zweiundsiebzig Geschlechter, so dass man in die Geburtsurkunde, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen, männlich eintragen konnte.

    Der erste Eindruck, den mir die Welt vermittelte, war jedoch nicht gerade einladend und spiegelte vor allem nicht das wider, was ich mir neun Monate lang im Schoße meiner Mutter vorgestellt hatte. Kaum hatte ich den Kopf herausgestreckt, erkannte ich als erstes komische Menschen mit Masken vor dem Gesicht und Schweißperlen auf der Stirn. Sie lächelten mich erwartungsvoll an, klatschten begeistert in die Hände und munterten Mama euphorisch auf: „Nur noch ein paar Sekunden, Frau Weber. Dann ist es vollbracht. Der Kopf schaut schon raus."

    Doch bereits in jenem denkwürdigen Moment zeigte sich ein erster meiner zahlreichen Charaktereigenschaften. Der Eigensinn. Nur weil diese Clowns darauf bestanden, dass ich rauskomme, hieß das noch lange nicht, dass ich das auch wollte. Also entschied ich mich, in meine altbekannte Wohlfühloase mit All inclusiv Service zurückzukehren. Leider hatte meine Mutter was dagegen.

    Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich mich in diesem Moment spontan entschloss, katholisch zu werden. Darum flehte ich den Herrgott in einem eindringlichen Stoßgebet an, wenn ich schon nicht zurückdurfte, dass dann wenigstens Mama und Papa anders aussehen, als die beiden Pausenclowns, die mich gerade anstarrten.

    Während ich noch inbrünstig Gott anflehte, presste mich meine Mutter, rücksichtslos gegenüber meinen Wünschen, einfach heraus. Ich plumpste sozusagen gegen meinen ausdrücklichen Willen ins Leben. Schon in diesem Augenblick wurde mir schmerzlich bewusst, dass das Leben kein Wunschkonzert werden würde. Das Schicksal hatte mir einen Lebenslauf vorbestimmt, der nur mit Humor und Selbstironie zu bewältigen war. Vor mir lag also eine bewegte und abenteuerliche Zukunft, die damit anfing, dass ich kalt gepresst, wie hochwertiges Olivenöl, startete.

    Kaum lag ich in der Hand der Hebamme, zwickte mir der Doktor etwas ab. Es tat zu meinem Erstaunen gar nicht weh. Dann aber schlug er mich auf den Allerwertesten, bis ich vor Schmerzen zu weinen anfing. Erst da war der Menschenquäler mit seinem Hang zum Sadismus zufrieden.

    Dreitausendachthundert Gramm bei vierundfünfzig Zentimetern, erklärte er und übergab mich Mama, die mich auch sogleich tröstete. Während sie mich glückselig anstrahlte und an sich drückte, machte ich mir Gedanken über meinen Body-Mass-Index. War ich untergewichtig oder übergewichtig? Diese Frage beschäftigte mich doch sehr, doch die Hebamme beruhigte mich sogleich, indem sie Mama erklärte, dass ich ein kerngesunder und wohlproportionierter Wonneproppen sei.

    Der Auftritt der Weißkittel hinterließ bei mir dennoch einen prägenden Eindruck, so dass ich zeit meines Lebens ein angespanntes Verhältnis zu diesen hatte.

    Nach der ersten Aufregung ergab sich endlich die Gelegenheit, Mama mal genauer zu betrachten. Das, was ich zu sehen bekam, war allerdings nicht gerade verheißungsvoll. Sie schaute aus, als hätte sie eine durchzechte Nacht hinter sich. Rotunterlaufene tränende Augen, blasse Gesichtshaut, zerzauste Haarpracht, die Finger und Hände blutleer. Wenn sie heute noch leben würde, würde sie möglicherweise behaupten, ich sei an ihrem beklagenswerten Anblick verantwortlich gewesen. Das kennt man ja. Immer sind die Kleinen und Schwachen schuld, die sich nicht wehren können.

    Deswegen sollten Gesundheit und gutes Aussehen zukünftig im Mittelpunkt meines weiteren Lebens stehen. Doch schweren Herzens muss ich zugeben, dass ich das mit dem Aussehen leider nicht so hinbekam, wie ich es mir ursprünglich gewünscht hatte. Gesund und weise, anstatt kränklich und gut aussehend, entwickelte sich jedoch auch zu einer akzeptablen Alternative.

    Doch zurück zu meinen ersten Tagen auf dieser Erde. Tagsüber hielt ich meinen Schönheitsschlaf, doch zu nachtschlafender Zeit wollte ich nicht nur unterhalten, sondern auch gefüttert werden. Leider sah ich mich gezwungen, lautstark auf mich und meine Bedürfnisse aufmerksam zu machen. Mama kam dann auch sofort angelaufen, nahm mich auf den Arm, gab mir die Brust, lief dann mit mir durch die Wohnung, während sie versuchte, mich mit ihren eintönigen Liedern in den Schlaf zu singen. Mama konnte Vieles, singen gehörte jedoch nicht dazu. Erst nachdem Stille einkehrte, konnte ich mich meinem wohlverdienten Verdauungsschlaf widmen.

    Morgens sah Mama dann stets aus, als hätte sie im Vergleich zu mir, zu wenig Schlaf gefunden. Während des Tages verbesserte sich ihre Stimmung jedoch. Dann schaute sie auch aus, wie die attraktivste Frau der Welt.

    Ja, es muss wohl stimmen, wenn man mir nachsagt, dass ich mich bereits von klein auf für Ästhetik und Schönheit interessiert habe. Vor allem bei Frauen.

    Reden ist silber und schweigen ist gold. Diese weitere Erkenntnis drängte sich mir bereits sehr bald auf. Im Gegensatz zu Papa, der sich immer wieder auf lange, nicht zielführende Diskussionen mit Mama einließ, entschied ich mich schon früh, meine Wünsche und Anliegen kompromisslos mitzuteilen. Sobald sich in meinen Äuglein eine Träne andeutete oder ich zu plärren anfing, kamen die Eltern aufgeregt herbeigelaufen und kümmerten sich augenblicklich um mich. Dank dieser cleveren Methode, die ich viele Jahre mit Erfolg anwendete, ich bezeichne es als kindliche Raffinesse, wurde es mir nie langweilig. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich jemals hungern oder dursten, beziehungsweise mich lange mit einer vollen Windel herumärgern musste. Ich kann somit mit Fug und Recht behaupten, dass ich meine Eltern im Griff hatte.

    Einen Vater gab es natürlich auch. Der freute sich überschwänglich über das, was er da produziert hatte. Jedes Mal, wenn er mich auf den Arm nahm, nuschelte er mir was ins Gesicht. Nur tat ich mich schwer, ihn zu verstehen. Es klang liebevoll, aber wie von einem anderen Stern. Schon bald bekam ich heraus, dass er aus dem Niederbayerischen kam, genauer gesagt aus dem Bayerischen Wald. Ein Waidler halt, durch und durch. Schließlich war es mir bestimmt, mehrsprachig aufzuwachsen. Bayerisch mit waidlerischem Wortschatz lehrte mich der Vater, Mama brachte ihr chiemgauerisches Vokabular ein. Jedoch konnte man nicht verleugnen, dass sich mit der Zeit auch viele Berchtesgadener Ausdrücke eingeschmuggelten. Schriftdeutsch kam später in der Schule hinzu, das ich als Fremdsprache erlernte. Mangels Anwendungsmöglichkeiten verlernte ich diese jedoch schnell wieder.

    Mit den bayerischen Dialekten, die unter Philosophen als Voraussetzung für eine intellektuelle Gesprächsführung gelten, konnte ich mich weltweit verständigen. Sogar die Chinesen verstanden mich. Im Gegensatz zu den Thüringern. Dazu später mehr.

    Die ersten sechs Jahre meines Lebens verlebte ich in paradiesischen Verhältnissen. Ich wuchs als Einzelkind auf und alle Liebe und Fürsorge, die man als Eltern aufbieten kann, galten mir. Doch jede schöne Zeit hat auch mal ein Ende.

    Ein Schwesterchen bekam ich und wie weibliche Wesen halt sind, hat sie sofort das Zentrum des Interesses in der Familie für sich beansprucht. Natürlich auf meine Kosten. Andrea taufte man sie. Der Name hat einen altgriechischen Ursprung und bedeutet übersetzt: die Tapfere. Waren meine Eltern etwa Hellseher und ahnten, was auf mein Schwesterchen einmal zukommen sollte?

    Ich hatte mich noch gar nicht an die neue, für mich unbefriedigende Situation, gewöhnen können, bekam ich ein zweites Schwesterchen. Man taufte sie Angelika. Ein Name aus dem Lateinischen, der engelhaft bedeuten soll. Ich weiß nicht, was sich Mama und Papa dabei gedacht haben. Nein. Spaß beiseite. Der Vorname passt zu ihr und sie hat sich auf jeden Fall mir gegenüber stets wie ein Engel verhalten.

    Trotz allem wurde ich erneut in der Hierarchie eine Stufe nach unten geschoben. Abermals dauerte es nur zwei Jahre, dann durfte ich mich, so zumindest die Aussage meines Vaters, auf ein Brüderchen als Spielgefährten freuen. Man entschied sich für den Namen Klaus, der eine altgriechische Herkunft hat und auf die Wörter „nike und auf „laos, zurückgeht. Auch hier lagen sie richtig. Niki hieß seine erste Frau und laos reimt sich auf Chaos. Mein Bruder verzeiht mir hoffentlich diesen kleinen Spaß.

    Nun war ich endgültig raus aus den Medaillenrängen. Unbeachtet von den Mitmenschen, den Rest des Lebens ein Schattendasein führend, beschied mir also das Schicksal. Jetzt hatte ich die Nase unwiderruflich voll.

    „Könntet ihr bitte mit der Produktion von Spielkameraden für mich aufhören und stattdessen mir ein junges hübsches Kindermädchen besorgen?", schimpfte ich. Der erste Teil des Wunsches ging in Erfüllung, der zweite hingegen nicht.

    Meine Jugendzeit verlief unspektakulär, bis auf einige wenige Ausnahmen. Mit zwölf Jahren musste ich einen Nachmittag lang auf ein gleichaltriges Mädchen aus der Nachbarschaft aufpassen. Unsere Mütter unternahmen einen Ausflug, bei dem wir Kinder nur hinderlich gewesen wären. Da auch in der damaligen Zeit Jungen und Mädchen unterschiedliche Vorstellungen von Spielsachen und Spielen gehabt haben, fiel es mir schwer, Beate, so hieß das Mädel, für etwas begeistern zu können. Beate besaß langes hellblondes Haar, das bis zu den Schultern reichte. Doch ständig wischte sie sich einzelne, bei jeder Bewegung des Kopfes ins Gesicht fallende Strähnen, unwirsch weg. Auf dem Tisch entdeckte ich eine Schere.

    „Stören dich die Haare?", fragte ich. Sie nickte nur und strich sich erneut eine Haarsträhne weg.

    Also griff ich zur Schere und schnipp schnapp waren die lästigen Haare verschwunden. Ich betrachtete mein Schaffenswerk und war zufrieden. Auch Beate. Jetzt erst recht, konnte ich nicht nachvollziehen, warum die Leute dauernd zum Friseur rannten und einen Haufen Geld fürs Haareschneiden ausgaben, wenn man es auch selber machen konnte. Ich war auf den Geschmack gekommen.

    „Soll ich dir die Haare auch an der Seite etwas kürzer schneiden?", fragte ich und wartete eine Antwort erst gar nicht ab. Fachmännisch betrachtete ich ihr Gesicht sowie die Länge ihrer Haarpracht und entschied mich schließlich, sie so weit zurückzuschneiden, dass die Ohren zu sehen waren.

    „Halt deinen Kopf still, ermahnte ich sie und setzte die Schere an. Es war gar nicht schwer. Innerhalb weniger Sekunden hatte ich sie reihum abgeschnitten. Ich führte Beate zum Spiegel und fragte sie erwartungsvoll: „Na? Was sagst Du?

    Ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Tränen liefen über ihr Gesicht.

    „Warum weinst Du? Ich hab dich doch gar nicht geschnitten."

    Sie deutete auf ihr Spiegelbild. „Das ist ja alles ganz windschief und wellenförmig, meinte sie. Ich musste ihr wohl oder übel recht geben. „Weil Du dich nicht stillgehalten hast, schimpfte ich. „Kein Problem, beruhigte ich sie. „Setz dich nochmals hin, dann schneide ich alles gerade.

    Sie sträubte sich jedoch, so dass ich mich gezwungen sah, sie auch gegen ihren Willen in die Küche zurückzubringen und mit leichtem Druck auf den Stuhl niederzudrücken. „So kannst Du doch nicht nach Hause kommen." Ihr Kopfnicken zeigte mir, dass sie mir recht gab.

    Also nahm ich die Schere erneut zur Hand und fing an, die Wellen herauszuschneiden. Irgendwann keimte in mir dann doch der Verdacht, dass ich mich entgegen der ersten Euphorie doch nicht so richtig als Friseur eignete. Die Haare wurden immer kürzer, doch je mehr ich wegschnitt, desto deutlicher kamen die Wellen zum Vorschein. Die Ohren hatte ich längst von ihrer früheren Haarpracht befreit, aber an einigen Stellen, vor allem am Hinterkopf, lugte bereits die Kopfhaut hervor.

    Es gab nichts mehr zum Abschneiden, musste ich wenig später ernüchtert feststellen. Die Wellen waren aber endlich weg.

    Als abends Beate von ihrer Mama abgeholt wurde, gab es lautes Geschrei. Ich bekam eine Ohrfeige von beiden Mamas, die ich bis heute nicht vergessen konnte. Beate kam nie wieder.

    In meiner Freizeit las ich viel. Hauptsächlich Karl May und andere Abenteuerromane. Mich faszinierten die Helden in den Geschichten, aber auch die Schicksale von Kindern. Schließlich fiel mir das Buch „Oliver Twist" von Charles Dickens in die Hände. Oliver Twist gehörte zu einer Bande von Straßenkindern, die auf Diebestour gehen, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. In diesem jugendlichen Alter, in dem ich mich befand, besitzt man noch Träume und Idole. Ich glaubte an das Gute im Menschen und dass es die Bösen nur in den Romanen und Märchen gab. Kindliche Naivität, die der jugendlichen Unerfahrenheit geschuldet war. Eines meiner Vorbilder wurde eben Oliver Twist. Er ließ mich davon träumen, eine eigene Bande zu gründen, mit mir als Bandenchef.

    Es bedurfte aber auch einer Zielsetzung, für die man sich einsetzte und engagierte. Zur damaligen Zeit, also Ende der sechziger Jahre, war die Au, besser bekannt als Karl-Theodor-Platz, noch ein großflächiger Spielund Bolzplatz und kein Parkplatz. Etwa dreißig Kinder und Jugendliche wohnten in der näheren Umgebung. Der zentral gelegene Spielplatz mit Sandkasten und Turngeräten wurde zum täglichen Treffpunkt.

    Die Au war ein Paradies für uns. Nirgendwo sonst konnte man so unbeschwert spielen, fand alle Möglichkeiten vor, die ein kindliches Herz begehrte. Doch leider fanden sich mit der Zeit immer mehr Jugendliche aus den benachbarten Stadtvierteln ein, die uns unser Paradies streitig machten. Es handelte sich um Halbstarke, größer und kräftiger als wir. Einige erschienen auch schon mit Bierflaschen und lässig hängender Zigarette im Mundwinkel. Die wollte ich also vertreiben. Hierfür musste ich jedoch die Spielkameraden dazu bringen, in meine Bande einzutreten. Nur gemeinsam konnte es uns gelingen, wieder die Oberhand über unseren Spielplatz zu erlangen. Also sagte ich allen ein, sich um zwei Uhr nachmittags bei den Holzhütten hinter einem der Salinenhäuser einzufinden.

    Fast alle kamen. Ich erklärte ihnen, warum wir eine Bande gründen mussten. Ich bekam einhellige Zustimmung. Als Aufnahmeritual hatte ich mir was ganz Besonderes einfallen lassen. Nein, keine Blutschwüre, keine verbrannten Marienbilder oder bedeutungsschwere Gelöbnisse. Ich konnte lediglich die Mutigsten unter ihnen gebrauchen, keine Weicheier. Also verlangte ich, dass sie auszogen und mit einem Regenwurm zurückkehrten. Den sollten sie in meinem Beisein als Beweis ihrer ewigen Treue schlucken.

    Nicht ein Einziger kam zurück.

    Also musste ich wohl oder übel allein den Kampf mit dem übermächtigen Gegner aufnehmen. Tapfer stellte ich mich ihnen entgegen, forderte sie auf, unverzüglich aus unserem Viertel zu verschwinden und in ihr Glasscherbenviertel zurückzukehren.

    Das Ende meines heroischen Kampfes ist schnell erzählt. Ich landete kopfüber in einer metallenen Abfalltonne, aus der ich mich nicht mehr selber befreien konnte. Kinder, die mir helfen wollten, wurden von den Halbstarken davon abgehalten. Erst als die sich endlich auf den Heimweg machten, wurde ich befreit. Mit hochrotem Kopf und den spöttischen Bemerkungen der Kameraden, endete der kurze Traum von einem mächtigen Bandenhäuptling, einem Robin Hood der Au.

    Als Ältester musste ich immer wieder mal auf eines meiner Geschwister aufpassen. Ich kann mich noch gut daran erinnern – ich hoffe, meine Schwester Andrea dagegen nicht – dass ich an einem sonnigen Junitag nach dem Mittagessen und Hausaufgaben machen, zu einem Fußballspiel wollte. Auf dem Programm stand ein Klassenspiel gegen die Parallelklasse, die uns herausgefordert hatte. Doch leider hatte Mama andere Pläne mit mir.

    „Du kümmerst dich um Andrea", sprach sie und duldete keinen Widerspruch. Ich war am Boden zerstört. Ein Klassenspiel ohne mich, den Spielführer und Organisator? Da erschien am Horizont ein heller Lichtstreifen, der mich hoffen ließ, doch noch die Fußballschuhe schnüren zu können.

    „Bei dem schönen Wetter kannst du mit Andrea spazieren gehen. Mit Gehen meinte sie natürlich mich, denn mein damals erst vierjähriges Schwesterchen konnte mit ihren kurzen Beinchen mit meinem Tempo noch nicht mithalten. Während Mama Andrea ihr luftiges Sommerkleidchen mit den vielen bunten Blümchen anzog, ein rosafarbenes Häubchen als Sonnenschutz aufsetzte, dazu die niedlichen kleinen Sandalen und zum Schluss in den sommerlichen Sportwagen aus hellgrau lackierten Gestell und hellblauem Stoffverdeck packte, warf ich heimlich die Fußballsachen aus dem Fenster im zweiten Stock und eilte ihr dann fröhlich grinsend hinterher. Ich hatte schon den Eindruck, dass Mama über meinen schnellen Sinneswechsel mehr als überrascht war. Denn zwei Minuten vorher waren bei mir noch vor Enttäuschung Rotz und Wasser geflossen. Egal. Sie fragte mich nicht, sondern verabschiedete mich mit dem gut gemeinten Hinweis, dass ich aufpassen solle, dass sich Andreas blasses Gesicht immer schön im Schatten befinde. Gleichzeitig schmierte sie sie von oben bis unten mit einer dichten Schicht Sonnenschutzcreme ein, dass mit Sicherheit kein Sonnenstrahl bis zur Haut vordringen konnte. „Das ist doch selbstverständlich, antwortete ich ihr beleidigt. Das wusste ich sogar als Zehnjähriger schon.

    „Du kannst ja mit ihr zum Spielplatz an der Traun gehen, gab sie mir noch mit auf den Weg. „Du weißt ja, der Buggy ist geländegängig. Ich weiß nicht, wie oft ich dies mittlerweile zu hören bekommen hatte. Offenbar handelte es sich um ein ganz besonderes Gefährt, das wir da besaßen.

    Kaum war Mama wieder im zweiten Stock verschwunden, lief ich in den Garten und sammelte meine Fußballsachen auf. Dann ging es im Laufschritt von der Höllgasse über den Stadtplatz, den Kniebos hinunter zur Kammerer Brücke und dann an der Traun entlang, vorbei an den Schrebergärten, zum Fußballplatz neben der Kläranlage. Andrea schaute mich mit ihren dunklen großen Äuglein an und quietschte bei jeder Richtungsänderung oder Kurve vor Vergnügen. Wenn ich so zurückdenke, dann bin ich mir mittlerweile sicher, dass ich der erste Mensch auf diesem Planeten war, der mit einem Kinderwagen zum Joggen ging.

    Zwanzig Minuten brauchte ich. Die Kameraden erwarteten mich bereits sehnsüchtig, denn ich war als Torwart eingeplant.

    Aber was sollte ich in der Zwischenzeit mit Andrea machen? Hinter das Tor konnte ich den Sportwagen nicht stellen. Dort wäre er durchgehend in der prallen Sonne gestanden. Da entdeckte ich den idealen Standort. Neben dem Fußballplatz verlief parallel die Traun. Die Böschung war bepflanzt mit Bäumen und Sträuchern. Unter diesen fand ich einen geeigneten schattigen Platz. Ich veränderte die Sitzposition so, dass sie sowohl zuschauen, als auch schlafen konnte. Ich vergaß auch nicht, die Bremse zu arretieren, damit sich der Wagen nicht auf einmal selbständig machen und zur Traun hinunterrollen konnte. Stolz wie Oskar fühlte ich mich, weil ich so verantwortungsvoll an alles dachte.

    Endlich wurde das Spiel angepfiffen. Der Platz befand sich in einem erbärmlichen Zustand. Steinhart, uneben und zwischendrin immer mal wieder kleinere und größere Mulden, die man mit grobkörnigem Kies gefüllt hatte. Der Ball aus hellem Kuhleder, der sich bei Nässe vollsog und schwer wie ein Medizinball wurde. Dann konnte man ihn nur noch flach spielen. Selbst die Erwachsenen hatten dann Mühe, den Ball in die Höhe zu bekommen. Manchmal löste sich die Naht zwischen den Lederflicken, so dass die hellrote Schweinsblase zu erkennen war. Aber das störte uns nicht weiter. Hauptsache, der Gegenstand unserer Begeisterung war rund und ließ sich bewegen.

    Hin und her wogte das Match, ohne dass sich eine der beiden Mannschaften einen Vorteil erspielen konnte. Völlig konzentriert stand ich zwischen den Pfosten, um ja keinen Fehler zu begehen. Torlos ging es in die Pause, in der wir uns in den Schatten eines Baumes setzten, Wasser tranken und Kraft für die zweite Halbzeit sammelten. Nicht eine Sekunde dachte ich dabei an meine Schwester.

    Nach einer Stunde verließen wir als triumphale Sieger den Platz. Wir umarmten uns stürmisch, denn gegen diesen Gegner hatten wir bisher noch nie gewonnen.

    Völlig erschöpft von dem heißen Duell zogen wir uns um und einer nach dem anderen machte sich auf den Heimweg. Auch ich. In Gedanken berauschte ich mich noch immer an meinen Paraden, die uns den Sieg ermöglichten. Zumindest in meiner Phantasie.

    Zu Hause angekommen, überlegte ich, wo ich die Sportsachen verstecken konnte, damit Mama nicht Verdacht schöpfte. Im selbigen Augenblick traf es mich wie ein Blitz. Andrea! Wegen ihr musste ich ja dieses Versteckspiel durchführen.

    So flink, wie ich in meinem kurzen Leben noch nie gelaufen war, raste ich zurück zur Kläranlage. Die Lungenflügel schmerzten, weil ich mir keine Pause gönnte. Tränen standen mir in den Augen, vor Sorge um mein geliebtes Schwesterchen. Nach Luft lechzend erreichte ich sie schließlich. Kein Mucks war aus dem Sportwagen zu hören. War sie tot? Verdurstet oder elendiglich den Hitzetod gestorben?

    Mein Gott, war ich erleichtert, nachdem ich das liebliche Gesicht Andreas sah. Ganz still lag sie im Wagerl, nur die großen schwarzen Kulleraugen bewegten sich. Trotzdem erkannte ich auf den ersten Blick, dass sie anders aussah, als zu dem Zeitpunkt, an dem ich sie im Schatten der Bäume abgestellt hatte. Sie hatte unzweifelhaft Sonnenröte angenommen. Aber nur im Gesicht. In diesem Moment ähnelte sie eher einem Indianer als meiner Schwester. Wenigstens die Beinchen waren blass wie eh und je.

    Im Verlauf der Zeit hatte auch die Sonne ihren Weg fortgesetzt. Der Schatten wanderte mit. Der Buggy, den ich zuvor vollständig im Schattenbereich eines Baumes abgestellt hatte, stand daher mittlerweile in der prallen Sonne, das Sonnenschirmchen schützte nur noch die Füßchen. Andreas Gesicht sah nicht nur aus, wie eine glühende Herdplatte, es fühlte sich auch so an. In Panik holte ich sie aus dem Wagerl, lief mit ihr zum Ufer der Traun und spritzte wie ein Irrsinniger ununterbrochen Wasser in ihr Gesichtchen. Erneut traten Tränen in mein Gesicht, als sie mich endlich anlachte, vor Vergnügen quietschte.

    Zurück nach Hause ließ ich mir verständlicherweise Zeit. Das Donnerwetter, das über mich hereinbrechen sollte, kam noch früh genug. Mit klopfendem Herzen trug ich Andrea über die Türschwelle und legte sie in ihr Bettchen. Sofort kam Mama herbeigelaufen. „Wo warst du denn so lange? Ich habe mir schon Sorgen gemacht. „Ach, log ich ihr frech ins Gesicht. „Wir waren auf dem Spielplatz an der Traun, so wie du gesagt hast. Dort hat es Andrea so gefallen, dass ich die Zeit übersehen haben muss. Mama strich mir zärtlich über das Haar: „Du bist ein braver Bruder, meinte sie voreilig. „Über zwei Stunden warst du mit ihr spazieren. Länger als ich gedacht habe. Noch dazu weil du wegen ihr nicht zu deinem geliebten Fußballspiel konntest." Dann schaute sie in ihr Gesichtchen. Das, was sich danach abspielte und welche Worte nunmehr fielen, hat sich leider meiner Erinnerung entzogen, so dass ich es nicht wiedergeben kann. Aber ich hab es genauso überlebt, wie Andrea, die Tapfere, den Spaziergang mit mir.

    Mama und Papa hatten in Hufschlag einen Bekanntenkreis mit befreundeten Ehepaaren aufgebaut, die sich regelmäßig zum Feiern trafen. Jeder war mal als Gastgeber dran. Heute würde man sie als Feierbiester bezeichnen.

    Wenn sie auswärts eingeladen waren, gingen sie meistens so gegen halb sieben Uhr abends los. Jedes mal hieß es dann: „Helmut. Spätestens um acht bringst du die Kinder ins Bett. Dass sie sich vorher aber noch die Zähne putzen und aufs Klo gehen. Du darfst bis neun aufbleiben."

    „Natürlich. So wie jedes Mal", antwortete ich ihnen.

    Doch kaum fiel die Haustür ins Schloss, hing ich am Fenster und beobachtete sie, heimlich hinter dem Vorhang stehend, bis sie um die Kurve verschwunden waren. Dann verwandelte sich das Wohnzimmer innerhalb von Sekunden in eine Turnhalle. Stühle, Tisch und andere Gegenstände, die im Weg standen, wurden zur Seite geschoben. Der Teppich aufgerollt und als Bande vor dem Mobiliar platziert. Die zwei Türen fungierten als Tore. Die Geschwister bekamen einen Tischtennisschläger in die Hand gedrückt und dann ging es los. Die beiden Schwestern gegen mich und meinen kleinen Bruder. Ziel des Spiels war es, auf dem Boden sitzend und herumrutschend, den Tischtennisball an die gegnerische Tür zu schießen.

    Anfangs wehrten sich die beiden Grazien noch, wollten viel lieber Fernsehschauen. Aber ich machte ihnen meiner Meinung nach ein faires Angebot. Entweder mitspielen oder ins Bett gehen. Sie entschieden sich für das Mitmachen.

    In der Folgezeit entwickelten sich heiße schweißtreibende Kämpfe. Manchmal flossen aber auch Tränen, wenn mit dem Schläger statt des Balles das Handgelenk oder die Finger des Gegners getroffen wurden oder der Ball im Gesicht des anderen landete. Gleichwohl konnte ich zu meiner Begeisterung erkennen, dass sich von mal zu mal bei jedem Einzelnen der Kampfgeist und Siegeswille steigerten. Dies führte aber auch dazu, dass keiner als Verlierer ins Bett wollte. Also musste ich das Spielgeschehen so beeinflussen, dass sich gegen neun Uhr ein unentschiedenes Ergebnis einstellte. Einvernehmlich entschied man sich deshalb, das Spiel abzubrechen und beim nächsten Mal bei null zu null neu zu beginnen.

    Ich achtete jedoch darauf, dass wir spätestens um neun aufhörten. Ich hatte da so meine Prinzipien, die ich einhielt. Schlaf ist wichtig für Kinder in dem Alter.

    Doch einmal übersah ich die Zeit. Es war schon fast zehn, da hörte ich, wie das Garagentor aufgezogen wurde. Gott sei dank ging dies nicht lautlos vonstatten. Wir wurden somit noch rechtzeitig darauf aufmerksam.

    Die Geschwister liefen auf Zehenspitzen hinauf in ihre Zimmer und ich versteckte die verräterischen Utensilien hinter der Couch. Dann rollte ich blitzschnell den Teppich aus, rückte die Möbel an ihren ursprünglichen Platz. Dann setzte ich mich vor den Fernseher und tat so, als hätte ich die Zeit zum Zubettgehen übersehen.

    Mama und Papa kamen kurz darauf herein, starrten mich an, sogen die Luft durch die Nase ein. „Sag mal, fragte mich Papa. „Hier herinnen riecht es nach Schweiß, als ob sich eine Fußballmannschaft umgezogen hätte.

    Jetzt hieß es vorsichtig sein. Ich durfte keinen Fehler begehen. Da fiel mir auch bereits eine Antwort ein, die sich für mich schlüssig anhörte. „Ach weißt du. Ich habe Bauchweh und mir sind ungewollt ein paar Pupse entwichen. Ich war deswegen auch schon drei Mal auf dem Klo."

    „Was sind denn das für Pupse, die gleich die Fensterscheiben anlaufen lassen", warf Mama ein. Gleichzeitig fuhr sie mit dem Finger über die feuchte Scheibe, so dass eine dunkle Linie zurückblieb. Dann rissen sie die Fenster und Terrassentür zum Lüften auf.

    „Los jetzt. Ab ins Bett mit dir", schimpfte Papa. Mama ging mit hinauf, um nach den Geschwistern zu schauen. Die lagen artig in ihren Betten, wohlweislich mit geschlossenen Augen, die Gesichter der Wand zugewandt und atmeten gleichförmig.

    „Pah", schnaufte ich erleichtert durch. Das war nochmals gut gegangen.

    Doch leider mutierte eine meiner Schwestern zu einem Whistleblower. Ich weiß bis heute noch nicht, welche es war. Aber eine verpfiff mich bei Mama, dass ich sie stets zum Mitspielen erpresst habe, obwohl sie viel lieber ins Bett gegangen wären. Diese Heuchlerin, wer auch immer es gewesen war.

    Von da ab war es vorbei, mit den heißen Wettkämpfen im Wohnzimmer. Mama ließ sich möglicherweise anlügen, beziehungsweise tat zumindest so, als ob sie glauben würde, was man ihr vorschwindelte. Aber Papa? Der roch die Lüge schon, bevor man überhaupt den Mund aufmachte.

    Trotz allem denke ich noch gerne an diese unbeschwerte Zeit zurück, bin den Eltern dankbar, dass sie mich gezeugt und mir drei so wundervolle Geschwister als Spielkameraden sowie ständige Weggefährten meines voller Überraschungen steckenden Lebens geschenkt haben.

    Im Rückblick erscheint mir noch erwähnenswert, wie stressig und schnelllebiger das heutige Dasein gegenüber früher geworden ist. Zeit war damals noch relativ. Da ging es, bis auf wenige Ausnahmen wie in der Schule oder im Arbeitsleben, nicht auf die Minute genau. Wir hielten es eher wie die Bundesbahn heute: Verspätungen und Unpünktlichkeit gehörten zur Tagesordnung. Da hieß es dann nicht, Punkt zwei bin ich da, sondern man sagte, ich komme nachmittags.

    Vom Krieg zerstörte und halbverfallene Häuser gab es im Bereich der Höllgasse, Hofgasse und in der Au auch noch, die sich als Abenteuerspielplätze hervorragend eigneten. Kein Schild verbot das Betreten, niemand hinderte uns daran, dort zu spielen. Wir sammelten Holz, schichteten es in einem der leeren Räume auf, entfachten ein Lagerfeuer und steckten an spitzen Stöcken aufgespießte Kartoffeln in die Flammen.

    Gleichzeitig dienten uns die zahlreichen Lücken und Spalten im Mauerwerk als Aufbewahrungsort für Geheimbotschaften oder Gegenständen, wie Messer oder Zündhölzer, die die Eltern in unseren Hosentaschen nicht entdecken durften.

    Stundenlang spielten wir dort verstecken, Räuber und Gendarm, oft bis zum Einbruch der Dunkelheit. Manchmal erschien auf der Suche nach dem Sohn oder der Tochter ein besorgter Elternteil. In diesem Fall versteckten wir uns, hielten uns still und amüsierten uns an der verzweifelten Suche, die meistens in ein wüstes Schimpfen ausartete. Der oder die Gesuchte machte sich derweilen heimlich auf den Heimweg.

    Man brauchte auch keine Angst zu haben, bestohlen zu werden. Fahrräder musste man nicht absperren, liegen gelassene oder vergessene Gegenstände, wie Fußball oder Spielsachen, fand man am nächsten Tag genau dort, wo man sie zurückgelassen hatte.

    Und heiß war es im Sommer. Wenn ich mir heute ständig anhören muss, dass sich das Klima erwärmt hat und ein Hitzerekord nach dem anderen gebrochen wurde, kann ich nur lachen. Klimaänderungen hat es seit Bestehen der Erde gegeben und Heißzeiten auch früher schon. In den sechziger Jahren wurde es manchmal dermaßen heiß, dass die Stadt Lastautos mit befüllten Wassertanks durch die Straßen schickte, die im Schritttempo fahrend, hinten über Düsen das kühlende Nass verspritzten. Wenn wir dieser ansichtig wurden, versammelten wir uns, liefen hinterher und ließen uns vollspritzen.

    Die Feuerwehr schloss Schläuche an die Hydranten an, goss Pflanzen, Büsche und Wiesen, bespritzte vorbeilaufende Passanten, vor allem Kinder, die gerne stehen blieben, die Arme ausbreiteten und sich in den Wasserregen stellten.

    Das Becken des Traunsteiner Schwimmbads, das damals noch mit dem trüben Moorwasser des Röthelbachweihers befüllt wurde, war von Abkühlung Suchenden überfüllt. An Schwimmen war nicht mehr zu denken, zu dicht standen die Leute. Man konnte lediglich im Becken herumspazieren, sich gegenseitig bespritzen und herumplanschen.

    Klimaanlagen gab es noch nicht. Die Fensterjalousien blieben tagsüber herunten. Die Temperatur für hitzefrei in den Schulen wurde auf über dreißig Grad nach oben geschraubt, da man sonst im Sommer gar nicht mehr zum Unterricht hätte gehen müssen.

    Dafür gab es damals noch richtige Winter mit massenhaft Schnee. Auf den Häusern bildeten sich Schneehauben von bis zu einem Meter. Tagsüber sah man überall Arbeiter, Feuerwehrler und immer öfters auch Soldaten, den Schnee von den Dächern herabschmeißen, damit die Häuser nicht unter der Schneelast einstürzten. Radlader räumten Tag und Nacht die Straßen frei. Der Schnee wurde von den LKW´s auf dem Karl-Theodor-Platz abgeladen, dort befand sich damals noch eine Wiese, so dass sich eine an eine Mondlandschaft erinnernde Schnee- und Eiswüste entwickelte. Auf dem riesigen Areal entstanden in der Folgezeit Schneeburgen und Höhlen, so hoch, dass man darin stehen konnte. Stundenlang wurden Schneeballschlachten abgehalten, die eigenen Höhlen beschützt, damit es dem Gegner nicht gelang, sie zu zerstören. Es war auch nicht außergewöhnlich, wenn noch im Mai mannshohe Schneehaufen auf dem Karl-Theodor-Platz vorzufinden waren. Erst jetzt wurden die Schneeballschlachten interessant. Der sulzige Schnee konnte leicht geformt werden und im Falle eines Treffers wurde das Opfer Pitsche-Patsche nass. Eine willkommene Abkühlung in der beginnenden Sommerhitze.

    Zum Skifahren ging es an den Haslacher Hang. Zu Fuß, die Ski geschultert, liefen wir mit Skischuhen an den Füßen dort hin. Niemand wurde, anders wie heute, mit dem Auto hingebracht. Einen Skilift gab es auch noch nicht, so dass wir nach jeder Abfahrt wieder mit Muskelkraft nach oben treten mussten.

    Die Seen und Weiher waren durchgehend zugefroren. Überall konnte man Schlittschuhlaufen, Eisstockschießen sowie Eishockey spielen. Das Eis wurde so dick, dass man keine Angst haben musste, einzubrechen. Mitarbeiter der Traunsteiner Bierbrauereien schnitten mit riesigen Handsägen fünfzig Zentimeter quadratische Eisblöcke heraus, die sie mit Pferdefuhrschlitten in die Kühlanlagen der Brauereien brachten. Dort wurden sie für den Sommer eingelagert, um damit die Bierfässer in der heißen Sommerzeit zu kühlen.

    In der warmen Jahreszeit trugen wir Jungen fast ausschließlich Lederhosen oder kurze hautenge Stoffhosen, die nicht viel mehr Stoff benötigten als heutige Unterhosen. Die Mädchen sah man nur mit Kleidern, Hosen gab es für sie noch nicht. Jedes Kleidungsstück wurde so lange getragen, bis es zerrissen oder schleißig war. Erst dann wurde was Neues gekauft oder die Mutter nähte es selber.

    Wuchs man aus den Schuhen oder der Kleidung heraus, gab man sie an Bekannte oder Verwandte für deren Kinder weiter.

    Damals steckte das Fernsehen noch in den Kinderschuhen. Nur die wenigsten konnten sich einen leisten. Computer, Tennis- oder Freizeitanlagen gab es noch nicht. Unsere Fortbewegungsmittel waren Fahrräder mit lediglich drei Gängen oder Tretroller. Mit diesen fuhren wir in die Wälder, zur Traun oder zu benachbarten Spiel- und Bolzplätzen. Überall konnte man gleichaltrige Kinder finden, die für jeden dankbar waren, der zum Mitspielen kam. „Ochs vorm Berg, „Kaiser, wie viel Schritte darf ich gehen, „verstecken, „Indianer und Cowboy oder Fußball, das waren die Spiele, mit denen wir uns die Zeit vertrieben.

    Höhepunkte des Jahres waren das Frühlings- und Herbstfest sowie die Zirkusse, die auf der Veranstaltungswiese der Au, heute Karl-Theodor-Parkplatz, stattfanden. Wir wohnten in der Höllgasse, oberhalb der Au. Vom Wohnzimmerfenster aus hatte man einen grandiosen Überblick über das Gelände.

    Sobald die ersten Wägen der Fahrgeschäfte eintrafen, zog es mich hinab. Ich wollte beim Aufbauen direkt dabei sein, hoffte inständig, dass man mir auch eine Aufgabe zuteilte. Ich war schon überglücklich, wenn man mich aufforderte ein Werkzeug zu bringen. Ich lief von einem Aufbauort zum anderen, konnte mich nie entschließen, bei einem länger zu bleiben. Das änderte sich, als ich Iwan kennenlernte. Ein Russe, der mit dem Kinderkarussell reiste.

    „Willst du mir helfen?", fragte er mich eines Tages. Ich nickte, ich war selig. Ich gehörte ab sofort zu ihnen. Ich durfte einzelne Teile halten, bis sie befestigt waren, Kleinteile aus dem Wagen holen und noch vieles mehr, was man einem zehnjährigen Kind anschaffen konnte. Als Belohnung gab es vom Inhaber zehn Freikarten für das Kinderkarussell.

    Nach getaner Arbeit saßen wir auf der Treppe und unterhielten uns. Ich musste ihm von mir erzählen. Er hörte interessiert zu, während er sich eine Zigarette nach der anderen drehte. Schließlich deutete ich zu dem Haus, in dem ich wohnte.

    „Da bist du also zuhause?, fragte er mich. „Willst du mein zu Hause kennenlernen?

    Er stand auf, deutete auf den Wagen, aus dem wir zuvor die einzelnen Elemente des Karussells geholt und zusammengesetzt hatten und sagte: „Das ist mein Haus. Dann öffnete er die hintere seitliche Türe und forderte mich auf, hineinzuschauen. „Das ist mein Schlafzimmer. Ich sah nur einen etwa ein Meter breiten Verschlag, kaum mannshoch, in dem auf dem Boden eine Matratze lag, an der Wand hingen ein paar abgetragene Kleidungsstücke. „Und das ..., dabei drehte er sich um, zeigte mit ausgebreiteten Armen über das Festgelände, „... ist mein Wohnzimmer.

    Von einer Sekunde auf die andere war ich ernüchtert. Bis dahin träumte ich von einem Leben auf dem Rummelplatz. Dieser Traum platzte jäh.

    Iwan kramte in seiner Hosentasche und holte sein gesamtes Vermögen heraus. In der offenen Hand zählte er das Kleingeld. „Ist das alles, was du besitzt?, fragte ich ihn. „Ja. Ich verdiene nicht viel. Es reicht nur für ein paar Zigaretten und hin und wieder für neue Schuhe. Dafür darf ich umsonst hier wohnen, bekomme was zu essen und zu trinken.

    Das wusste ich nicht. Ich bekam Mitleid mit Iwan. Der lachte aber nur und versicherte mir, dass er glücklich sei. Er habe ein festes Dach über dem Kopf, einen trockenen Schlafplatz, komme in der Welt herum, treffe immer nur auf strahlende Kinderaugen, höre den ganzen Tag Musik. Mehr brauche er nicht, um zufrieden zu sein. Dann erzählte er mir, dass er als Kriegsgefangener nach Deutschland gekommen sei. Eine Familie habe er nicht mehr. Eltern und Geschwister sind alle während des Krieges gestorben. Ihm gefalle es in Deutschland, das seine zweite Heimat geworden sei.

    Noch immer starrte er auf das Kleingeld in der Hand. „Hast du zwanzig Pfennige für mich, dass ich mir Tabak kaufen kann?" Ich hatte aber kein Geld dabei. Ich lief so schnell ich konnte nach Hause, fragte Mama, ob ich zwanzig Pfennige bekommen kann, und kehrte mit dem Geld zurück.

    Dankbar nahm er es an, trotte vor zum Heinemann und kaufte sich den Tabak. „Hast du jetzt gar kein Geld mehr?, fragte ich ihn. „Nein. Aber morgen zahlt mich der Chef für die nächste Woche aus. Es ist schon in Ordnung. Wenn ich mehr Geld verdienen würde, würde ich es eh nur für Tabak und Schnaps ausgeben.

    In den folgenden drei Jahren stand ich immer am Fenster und wartete ungeduldig, dass das Kinderkarussell kam. Dann lief ich hinab, suchte Iwan, der mich stets mit einem freundlichen Lächeln empfing und mir sagte, dass er sich freue, mich wiederzusehen. Ich habe stets fünf Mark aus meiner Spardose herausgenommen und Iwan geschenkt.

    Dann kam das Kinderkarussell ohne Iwan. Ich suchte ihn, fand jedoch eine völlig fremde Person vor. Der Betreiber kannte mich inzwischen und ahnte, wonach ich Ausschau hielt. „Iwan ist im Winter gestorben, klärte er mich auf. Er war schwer krank, was keiner wusste. Nur er, aber er hat nie jemandem darüber erzählt.

    Ich erkundigte mich, wo er begraben sei. Er sagte es mir. Ich weiß nur noch, dass es im Schwäbischen lag, habe mir vorgenommen, irgendwann mal sein Grab zu besuchen. Doch ich wusste nicht mal den Familiennamen.

    Das andere Großereignis war der Zirkus. Stundenlang stand ich am Fenster und schaute beim Ausladen und Aufbau zu. Abends lag ich im Bett, baute in Gedanken das Zirkuszelt allein auf. Zwischen Schreien und Hämmern vernahm man die furchterregenden Laute von verschiedenen wilden Tieren. Direkt unterhalb von uns wurden Kamele, Pferde und andere Paarhufer an langen Stricken an die Bäume gebunden. Heu wurde ausgestreut, Wannen mit Wasser aufgestellt. Dort konnten sie im Schatten warten, bis ihr Zelt aufgeschlagen war. Mama hatte es mir strikt verboten, hinunterzulaufen und mich während der Aufbauarbeiten dort herumzudrücken. Zu gefährlich, meinte sie. Doch es gelang mir von mal zu mal, auszubüxen und mich mit weiteren Kindern in unmittelbarer Nähe des Zirkusses aufzuhalten. Man beachtete uns gar nicht, solange wir ihnen nicht zu nahe kamen. Trotzdem rief man hin und wieder den einen oder anderen von uns heran, um rasch etwas zu holen oder zu halten. Wir stritten uns dann, wer gemeint gewesen sei. Nur den Schnellsten unter uns gelang es schließlich, die Aufgabe auszuführen.

    Ein Wagen nach dem anderen erreichte das Gelände. Die einen mit wilden Tieren darin, andere dienten als Unterkunft für das Zirkuspersonal. Alle hatten eins gemeinsam. In Großbuchstaben stand der Namenszug des Zirkus darauf und jeder Wagen besaß eine andere Nummer.

    In Reih und Glied stellte man sie nach einem unsichtbaren Plan auf. Wir konnten nur anhand des Gebrülls erahnen, welche Bestien sich hinter den noch geschlossenen Wagenklappen befanden. Der typische Geruch, der von allen diesen Tieren ausging, prägte sich mir unauslöschlich ein.

    Ganz zum Schluss wurden die Elefanten vom Bahnhof abgeholt. Die transportierte man mit der Eisenbahn von einem Veranstaltungsort zum anderen. Wir Kinder liefen auf dem Weg durch die Stadt hinab zur Au nebenher und versuchten immer wieder die Dickhäuter zu berühren. Doch kaum fingen sie mit dem Rüssel oder Schwanz zu schlagen an, stoben wir kreischend auseinander. Lustig geschminkte Clowns verteilten Programmhefte, trieben ihren Schabernack mit uns.

    Durch unseren Garten gelangte ich direkt auf das umzäunte Zirkusgelände, ohne Eintritt bezahlen zu müssen. Während die Nachmittagsvorstellungen liefen, saß ich in der Cafeteria im Eingangsbereich des Zeltes. Von dort aus konnte ich die Vorbereitungen der Artisten und Dompteure hautnah beobachten, hörte den Applaus der Zirkusbesucher, das Gelächter, wenn die Clowns ihren Auftritt hatten. Zwischendurch lief ich zu den Tieren, streifte durch die Zelte, sah zu, wie die Pferde geschmückt wurden, begleitete die Elefanten bis zum Zelt. Besonders interessant wurde es, wenn man die Löwen und Tiger mit Hilfe von langen Stöcken aus ihren Käfigen in die Gittergänge jagte. Lautes wütendes Gebrüll kündigte den Zuschauern ihr Erscheinen an.

    Niemand sprach mich an oder verjagte mich. Ich hatte das Gefühl, ich sei Teil der riesigen Zirkusfamilie. Während der Abendvorstellungen saß ich auf dem Fensterbrett und bewunderte die bunte Lichterkette über und um das das Zirkuszelt, hörte die Musik, den Applaus und die einzelnen Ansagen des Zirkusbesitzers. Ich träumte von einem Leben mit dem Zirkus. Dompteur wollte ich werden. Auf jeden Fall irgendetwas mit Tieren.

    Am aufregendsten wurde es für mich, wenn noch während der letzten Vorstellung bereits mit dem Abbau begonnen wurde und die ersten Wägen sich auf die Reise zum nächsten Veranstaltungsort machten. Wenn ich dann frühmorgens aufwachte, führte mich mein erster Weg ans Fenster. Aber alles war wie von Zauberhand verschwunden. Arbeiter der Stadt sammelten den Müll ein und vorbei war der Zauber.

    Doch auch die schönste und unbeschwerteste Zeit ist einmal zu Ende. So auch bei mir. Es begann der Ernst des Lebens, wie Papa die Schulzeit bezeichnete.

    Schulzeit

    1962 wurde ich also eingeschult. Während die Welt bangte, dass es zwischen den USA und Russland wegen der Kubakrise zu einem Atomkrieg kommen werde und Marilyn Monroe starb, betrat ich, ausgerüstet mit einer üppig gefüllten Schultüte voller Süßigkeiten - die, wie man auf alten Bildern sehen kann, fast so groß war wie ich - die Franz von Kohlbrenner Hauptschule in der Haslacher Straße. Ich kann mich noch bestens daran erinnern, dass ich die ersten beiden Schuljahre zusammen mit siebenunddreißig Leidensgenossen in einem viel zu kleinem Klassenzimmer eingepfercht wurde. Wir saßen so eng auf- und nebeneinander, dass man über die Tische klettern oder unten durchrobben musste, wenn man nach vorne oder hinten wollte.

    Eine durchgehende Fensterfront gestattete uns zwar einen freien Blick in den Pausenhof, aber mangels Vorhänge oder Jalousien heizte die Sonne den Klassenraum unerbittlich auf. Im Sommer schwitzten wir uns zu Tode, dafür froren wir uns im Winter einen ab. Es gab in allen Klassenzimmern lediglich einen blechernen Ölofen, der direkt neben der Tür stand, vom Hausmeister jeden Morgen befüllt und dann eingeschaltet wurde. Doch leider erst unmittelbar vor Unterrichtsbeginn. Es dauerte oft an die zwei Stunden, bis sich die Luft erkennbar aufwärmte. Bis dahin stank es nur penetrant nach Heizöl. Manchem wurde von dem bestialischen Gestank so übel, dass er kurzzeitig den Raum verlassen musste. Einige kehrten gar nicht mehr zurück, sondern gingen nach Hause. In den Genuss von wenigstens etwas Wärme kamen lediglich der Lehrer und die in der ersten Reihe sitzenden Schüler. An besonders kalten Tagen saßen viele von uns in einen Anorak gehüllt, manche sogar mit Handschuhen und Mütze, auf ihren Stühlen und bibberten dem Schulschluss entgegen.

    In Erinnerung blieben mir ein paar von den Lehrern. Einer von ihnen, der Hartl-maier, ein Choleriker, wie ich in meinem ganzen Leben keinen zweiten erleben musste, war in der dritten und vierten Klasse mein Klassenleiter. Inzwischen zählten wir weniger Schüler, wurden dafür in einem größeres Klassenzimmer untergebracht. Die Bänke stellten wir in einer U-Form auf, in der Mitte zusätzlich sechs Tische. Der Hartlmaier hatte die unangenehme Angewohnheit, dass er hinter uns vorbeigehend, diejenigen, die nicht kerzengerade auf dem Stuhl saßen, an den seitlichen Koteletten oder den Ohren packte und dann ruckartig nach oben zog. Je lauter man seinen Schmerz hinausschrie, desto länger hielt er fest.

    Während des Unterrichts suchte er sich den einen oder anderen aus, den er nicht mochte – und davon gab es viele – stellte eine schwierige Frage und wenn die nicht richtig beantwortet wurde, durfte das arme Schwein, der seine Ungnade erweckt hatte, mit der Nase an die Wand gedrückt, im Eck stehen. Oft über eine Stunde. Dabei ließ er den Unglücklichen nicht aus den Augen. Rührte sich dieser, so dass die Nase für einen kurzen Moment den Kontakt zur Wand verlor, stieß er ihn mit einem daumendicken Haselnussstock mit voller Kraft in den Rücken oder drückte den Hinterkopf des Delinquenten erneut an die Wand.

    Mich erwischte es besonders oft. Ich entwickelte eine solche Angst vor ihm, dass ich mitunter kurz davor stand, in die Hose zu machen, wenn mich seine schwarzen Augen unter den zusammengekniffenen buschigen Augenbrauen fixierten und ich damit rechnen musste, derjenige zu sein, der seinen Frust als Nächstes abbekommen sollte. Manchmal hätte ich die Antwort sogar gewusst, bekam aber vor Angst keinen Ton heraus oder fing zu stottern an.

    Besonders fies behandelte er die weniger guten Schüler. So oft sich die Gelegenheit ergab, führte er diese vor. Wenn er die korrigierten Proben herausgab, fing er mit den Einsern und Zweiern an. Er rief die Namen auf, strich mit einem freundlichen Lächeln anerkennend über das Haupt und lobte überschwänglich den Fleiß. Den Dreier- und Viererschülern legte er die Aufgaben wortlos auf den Tisch. Dann begab er sich nach vorne und rief die Fünfer- und Sechserkandidaten namentlich auf, ließ sie vorkommen und vor der Tafel Aufstellung nehmen. Das Schmerzlichste folgte aber noch. Er zitierte in seiner einzigartigen, und nicht zu übertreffenden Boshaftigkeit, von jedem Einzelnen der Unglücklichen eine peinlich falsche Antwort oder wies darauf hin, dass selbst die einfachsten Fragen noch zu schwer gewesen seien. Zusammen mit einem höhnischen Kommentar sorgte er dafür, dass der Rest der Klasse sich vor lachen auf die Schenkel klopfte. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie erniedrigend und demütigend es für jeden Einzelnen war, in die lachenden Gesichter der Kameraden blicken zu müssen und dabei gute Miene zum bösen Spiel zu machen, obwohl man am liebsten losgeheult hätte. Ich weiß wie man sich in solch einer Situation fühlt. Ich stand selber auch dort vorne.

    Für die Zeugnisverteilung ließ sich der Hartlmaier was Besonderes einfallen. Der Schüler mit dem besten Notendurchschnitt wurde

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