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Kerben im Holz: Erinnerungen an meine Kindheit in der Vorkriegs- und Kriegszeit und meine Jugend in der DDR und BRD
Kerben im Holz: Erinnerungen an meine Kindheit in der Vorkriegs- und Kriegszeit und meine Jugend in der DDR und BRD
Kerben im Holz: Erinnerungen an meine Kindheit in der Vorkriegs- und Kriegszeit und meine Jugend in der DDR und BRD
eBook203 Seiten2 Stunden

Kerben im Holz: Erinnerungen an meine Kindheit in der Vorkriegs- und Kriegszeit und meine Jugend in der DDR und BRD

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Über dieses E-Book

… Alles war knapp. Wenn wir ein Brot kauften, machte meine Mutter mit dem Messer Kerben in die Kruste genau für dreißig Schnitten. Da fiel die einzelne Schnitte schon recht dünn aus. An meinem neunten Geburtstag schenkte mir Bäcker Friedrich ein ganzes Brot nur für mich allein ohne Marken!!! Es war himmlisch.
SpracheDeutsch
Erscheinungsdatum7. Sept. 2023
ISBN9783842200333
Kerben im Holz: Erinnerungen an meine Kindheit in der Vorkriegs- und Kriegszeit und meine Jugend in der DDR und BRD

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    Buchvorschau

    Kerben im Holz - Irmintraud Schönfelder

    Teil I

    Frühe Kindheit

    Friedenszeit

    1935–1940

    Start ins Leben

    Früher nannte man nicht den genauen voraussichtlichen Geburtstermin einfach so, sondern fragte höflich: »Wann ist das freudige Ereignis zu erwarten?«

    Mein Start ins Leben war – wie mir erzählt wurde – weniger »freudig«, dafür ziemlich problematisch und auch kostspielig. Ich hatte von Geburt an Magenpförtnerkrampf, dafür, beziehungsweise dagegen, gab es damals kein Medikament. Meine Großmutter nahm das bedauernde Kopfschütteln und Schulterzucken der Ärzte nicht hin. Sie selbst hatte zehn Kinder geboren und beobachtete mich genau. Allen Unkenrufen zum Trotz sagte sie: » … die hat so blanke blaue Augen und bewegt sich so stark, da steckt viel Lebenswille drin!«

    Resolut, wie sie war, wurden von ihr zwei Leute engagiert: unsere Waschfrau und eine junge kräftige Schulabgängerin, Grete. Mit vereinten Kräften, zusammen mit meiner Großmutter (und meiner Mutter?), trugen sie mich Tag und Nacht durch die Wohnung, und zwar »hochkant«, damit das Erbrechen schwieriger wäre, und flößten mir teelöffelchenweise erst Tee und später Muttermilch von einer Amme ein.

    Diese Zitterpartie dauerte etwa zwei Monate, dann beruhigte sich mein Magenpförtner und ich holte alles, was mir an Nahrung entgangen war, nach. Mit einem Jahr war ich dann gesund und altersgemäß proportioniert – meiner Großmutter, die mich nie aufgegeben hatte, sei auf immer Dank!

    Die Waschfrau kam nun wieder nur zu Waschtagen ins Haus, aber Große Grete, die unterdessen fünfzehn Jahre alt war, blieb bei uns. Große Grete war Glück und Anker in allen Lebenslagen für mich. Das ist erstaunlich, wenn man bedenkt, dass sie noch so jung an Jahren war und einem schwierigen Milieu entstammte – aber darüber berichte ich später noch ausführlicher.

    Grete strahlte Lebensfreude aus, sie liebte mich »ohne Wenn und Aber«. Sie war mein Lebensmittelpunkt. Wenn es so etwas gibt wie die Vermittlung von Urvertrauen – und daran glaube ich –, geschah es durch sie. Bei allen für mich schwierigen Ereignissen bestand für mich die Lösung in dem Satz: » … dann gehe ich eben zu meiner Dete.«

    Und Grete hatte es wirklich »psychologisch« drauf. Hier ein Beispiel: Wenn ich mich beim Toben gestoßen hatte, und ich tobte gern und heftig, musste ich bei Grete die Hand ausstrecken und bekam auf den Handrücken ein kleines Stück Schokolade aus ihrem persönlichen Bestand gelegt. Nun galt: » … wenn die Stelle, wo du dich gestoßen hast, nicht mehr wehtut, kannst du die Schokolade essen.« Das führte zu erstaunlich schnellen Wunderheilungen.

    Natürlich wird man fragen, wieso eigentlich Grete – da gab es doch die richtige Mutter … Meine Mutter hatte es nicht gerade einfach im Leben; als junge Frau bekam sie Lungentuberkulose und verbrachte längere Zeit in Sanatorien.

    Die Ehe meiner Eltern blieb zehn Jahre kinderlos; erst mit siebenunddreißig Jahren bekamen sie ihr erstes Kind, meine Schwester Rosemarie, und mit vierzig Jahren mich. Siebenunddreißig Jahre waren damals ein stattliches Alter, um das erste Kind zu bekommen. So war die Freude bei der Geburt meiner Schwester riesengroß.

    Als ich zur Welt kam, hatten alle auf einen Jungen gehofft, der unseren Namen an zukünftige Generationen weitergeben würde. Unser Stammbaum begann nachweislich 1711. Bei meiner Geburt saß die Enttäuschung in meiner Mutter also tief: statt eines Stammhalters, der den Namen vererben würde, ein krankes Mädchen!

    So ging der Stress für sie noch einmal los, bis endlich, eineinhalb Jahre später, mein Bruder Hubert-Volker das Licht der Welt erblickte. Nun war das Glück vollkommen.

    Das Glück dauerte zwei Jahre oder, wenn man genauer hinsieht, eigentlich nur eineinhalb Jahre, dann wurde es brüchig. Meine Schwester war ein typischer Frühentwickler, mit fünf Jahren konnte sie unsere Zeitung, den »Zörbiger Bote«, lesen, kleine Musikstücke spielen, Gedichte aufsagen und hübsche Bildchen malen. Sie tat das mit Leichtigkeit und auch gern vor Publikum. Daher beschloss man, sie schon mit Fünf einzuschulen. Und nun begann das Elend. Da wir abseits vom Ort, sozusagen am Ortsrand ziemlich exponiert wohnten – Schloss Zörbig war unser Zuhause –, hatten wir bis zu der Einschulung meiner Schwester eigentlich nur mit unseren zahlreichen Cousins und Cousinen gespielt und keine Kontakte zu anderen Kindern gehabt. So hatten wir auch die üblichen Kinderkrankheiten nicht bekommen. Das holten wir nun alles nach. Wir bekamen in rascher Folge Keuchhusten, Scharlach, heftige Mandelentzündungen, Windpocken und Masern. Wir: das bedeutete meine Schwester, ich, mein kleiner Bruder und oft auch noch mein Vater.

    Bübchen, mein kleiner Bruder, war erst eineinhalb Jahre alt, als die Krankheitsserie begann. Bei ihm dauerten die Krankheiten immer länger und schließlich starb er an Herzversagen. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern.

    Meine Erinnerung beginnt mit dem Bild, dass meine Mutter ganz in Schwarz an Bübchens Grab sitzt und leise wimmernd weint.

    Wahrscheinlich fand das immer und immer wieder statt, sodass es sich in meiner Erinnerung festgehakt hat. Ich weiß nicht, wie lange sie jeden Tag dort saß, ich war dann ganz mir selbst überlassen. Meine Schwester war in der Schule. Wahrscheinlich hatte meine Mutter ab und zu überhaupt vergessen, dass sie mich mitgenommen hatte.

    Kein Wunder, dass Große Grete mein Lebensmittelpunkt wurde. Auf die Frage: »Bist du nicht Amtsrichters Kleine vom Schloss?«, antwortete ich stets: »Ich bin Gretes Kind.«

    Natürlich führte das zu allgemeinem Schmunzeln – Grete war inzwischen fast achtzehn Jahre alt und ein hübsches Mädchen. Irgendwer fühlte sich dann bemüßigt, es meiner Mutter zu erzählen. Die war wenig begeistert und betrachtete mich mit noch mehr Abstand. Ich muss zugeben, ich war tatsächlich ein bisschen aus der Art geschlagen. Ich war nämlich ein »Spätentwickler hoch drei«, hatte zwar ordentliche Körperkräfte, aber sprach wenig – neben dieser Schwester brauchte ich das auch nicht. Auf Fragen war – nach dem Statement meiner Schwester – meine Antwort nur: »Utte auch.«

    Als ich klein war, nannten mich alle Uttchen. Dazu hielt meine Mutter mich für auffallend ungeschickt. Sollte ich ein Glas aus dem Keller holen – ein einfacher Auftrag – und rief jemand: »Lass es aber ja nicht fallen!«, rutschte es mir bestimmt im nächsten Augenblick aus den Händen. So bekam ich sehr oft: » … aber nicht du, es geht sonst schief« zu hören, was mein Selbstvertrauen nicht gerade stärkte.

    Das änderte sich mit dem Erscheinen von Onkel Werner.

    Onkel Werner

    Onkel Werner wurde der Verlobte von meiner Tante Maria, der jüngsten Schwester meiner Mutter, und kam so neu in die Familie. Er erkannte meine Schwierigkeiten und spielte mit mir ein ganz besonderes Spiel. Am Schlossturm gab es eine Außentreppe, die etwa in Geschosshöhe einen Absatz hatte. Wenn ich mich dort an den Rand stellte, war mein Onkel, der am Boden geblieben war, ein deutliches Stück unter mir. Nun rief er: »Trau dich!«, und ich sprang in seine Arme. Er lobte meinen Mut – und wir vergrößerten nach und nach meinen Abstand zur vorderen Kante. So bekam ich Platz für einen Anlauf und mein Sprung verlief in einem immer größeren Bogen. Es war ein herrliches Gefühl! Ich wusste ganz sicher, er fängt mich auf.

    Er meinte: »Du hast so viel Mut – ich nenne dich Traudi, weil du dich so viel traust.«

    Ich war ungeheuer stolz, und als wir den Sprung meiner Schwester zeigten, sagte sie: »Nie springe ich dort runter!« Da war ich mit der Welt zufrieden.

    Mein kompletter, etwas langatmiger Vorname lautet Erika-Irmintraud. Erika nach meiner Patentante und Irmintraud nach einer Vorfahrin. So fanden alle die Benennung aus der letzten Silbe, also Traudi, in Ordnung. Mit der Zeit bürgerte sich nun dieser Name für mich ein. Nur Onkel Werner und ich kannten die wirkliche Bedeutung der Namensgebung. Später arbeiteten wir weiter an dem Sprung, bis ich schließlich mit etwa sieben Jahren direkt mit dem Rücken an der Mauer des Schlossturms stand und so meinen Onkel unten nicht mehr sehen konnte. Er rief: »Jetzt!«, und ich rannte nach vorn und sprang ohne zu zögern im Rennen mit vollem Schwung los – und er hat mich immer sicher aufgefangen.

    Leider ist dieser für mich so bedeutsame Mann, nachdem meine Tante bei einem Bombenabwurf im Krieg verschüttet wurde und ums Leben kam, bei einem Einsatz in der Sahara verschollen.

    Aber nun zurück in die Vorkriegszeit zu meinen Großeltern.

    Meine Großeltern

    Meine Großeltern waren unterschiedlich – unterschiedlicher kann man gar nicht sein! Da fange ich natürlich mit den Großeltern Kaltwasser an, da sie mir die liebsten waren. Der Vater meiner Mutter, mein Rudirallala-Opa, war früher, als er noch im Berufsleben stand, Lokomotivbauer. Er war mittelgroß und sportlich durchtrainiert bis ins hohe Alter. Seine Haare waren dunkelblond, leicht gelockt. Er trug einen Schnurrbart, den er beim Sprechen oft nachdenklich zwirbelte, besonders wenn er Erlebnisse vom Ersten Weltkrieg erzählte. Er war Zeit seines Lebens ein überzeugter Anhänger der Turnvater-Jahn-Bewegung: »frisch, fromm, fröhlich, frei.« Er entsprach diesem Spruch vollkommen, er war wirklich frisch, sehr fromm, fröhlich und frei!

    An seinem achtzigsten Geburtstag machte er an der Teppichstange, die so hoch hing, dass man hinaufspringen musste, einen Felg-Aufschwung erster Klasse. Er war sehr, sehr katholisch, ging jeden Tag in der Frühe in die Kirche zur Morgenmesse, selbst wenn er krank war. Er grämte sich sehr, dass wir, meine Schwester und ich, evangelisch getauft waren und dass meine Mutter, wie es damals von der katholischen Kirche praktiziert wurde, dementsprechend exkommuniziert wurde. Immer wenn wir nach einem Besuch wieder abreisten, legte er die Hand auf unseren Kopf und sagte: »Leni, denk doch an die armen Heidenkinder.«

    Ich hatte kein Problem, an die armen Heidenkinder zu denken, weil es in der Kirche – und wir gingen oft zusammen mit dem Opa in die Kirche – eine Figur von einem schwarzen Jungen gab, an der stand: »Für die Heidenkinder.« Immer wenn man einen Groschen – ein Groschen war damals noch eine Menge Geld für uns Kinder – in einen Schlitz am Bauch der Figur steckte, wackelte der kleine Junge mit dem Kopf. Natürlich fütterten wir die Figur begeistert mit Groschen. Es hat viele Jahre gedauert, bis ich verstand, dass mein Opa uns, meine Schwester und mich, mit den armen Heidenkindern meinte.

    Dieser Opa hatte viele Fähigkeiten, die mich begeisterten. Er schlug die Beine übereinander und ich durfte auf dem oberen freien Bein stehen. Er wippte mit dem Bein auf und ab und sang dabei »Rudirudirallala« aus Leibeskräften. Er sang mit uns auf dem Weg, wenn wir zu seinem Schrebergarten gingen, aus Vorfreude. Übrigens sang er auch noch mit einundneunzig Jahren lauthals: »Morgenrot, Morgenrot leuchtest mir zum frühen Tod, dann wird die Trompete blasen, dann muss ich mein Leben lassen als ein tapferer Soldat …« Er war klug, und er hat bis zu diesem Alter sicherlich seinen Spaß an dem Text gehabt.

    Zum Schrebergarten war es ein ordentliches Stück Weg, aber wir konnten es kaum erwarten hinzukommen. Eigentlich gab es immer irgendetwas zum Naschen, besonders natürlich in der Erdbeerzeit. Opas Gartennachbar war der »Opa Sorgenfrei«. Er hieß wirklich so. Die beiden älteren Männer hatten meist viel zu besprechen, sie verglichen zum Beispiel die Erbsen- und Bohnenernte mit der des Vorjahres; jedes geerntete Spankörbchen voll wurde an der Gartenlaube mit Kreide notiert. Sie machten auch immer einen gemeinsamen Rundgang durch die Schrebergartenanlage. Das war dann unser Startsignal. Den Draht zum Garten von Opa Sorgenfrei konnte man an einer Stelle bequem hochbiegen.

    So konnten wir auch auf dem Nachbargrundstück reichlich Erdbeeren stiebitzen. Wenn die beiden zurückkamen, unterhielten sie sich meist lautstark, sodass genug Zeit blieb, um unter dem Zaun zurückzukriechen und den Draht wieder zurechtzubiegen. Erst Jahre später beim Tod Opa Sorgenfreis, als ich zum ersten Mal offiziell

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